2004-09-26
Schule
Als der Ernst des Lebens begann
Gottfied Timmerer Schule, Haupteingang mit Pausenhof
Gottfried Timmerer Schule, später die VS 9 und VS 10, heute die VS 6 in den Auen. September 1972. Mein erster Schultag. 54 kleine Menschen, bezeichnenderweise alles Buben, weil gemischte Klassen waren zu dieser Zeit verpönt, warten zusammen mit ein paar Erwachsenen, in einer viel zu kleinen, und dadurch natürlich auch viel zu heißen Klasse, erwartungsvoll auf ihre Lehrerin. Das heißt, erwartungsvoll warteten eigentlich maximal 10 Schüler. Der Rest war aus den umliegenden Baracken und der Muldensiedlung widerwillig zum ersten Schultag gepilgert und dieser Rest machte bereits in den ersten Minuten keinen Hehl daraus, was er von der Institution Schule hielt; nämlich nichts. Für 6 – 7 jährige eine beachtliche intellektuelle Leistung. Man gab der Klasse die Bezeichnung 1a, im nachhinein betrachtet war dies durchaus nicht ohne Witz. Franz Jonas lächelte milde auf uns herab.
Ich, der ich begierig war, mich endlich der Kunst des Lesens und des Schreibens zu bemächtigen, war einer der Erwartungsvollen. Mit meinem völlig deplazierten, von der Villacher Oma selbstgestrickten, allen Geschmacksrichtungen wiederstrebenden und niemals in Mode gewesenen Pullunder, saß ich in der ersten Bankreihe und erträumte mir meine Lehrerin. Sie würde gewiss eine nicht allzu alte, also sprich maximal 25 jährige, sich um mich liebevoll kümmernde, mit allen weiblichen Attributen ausgestattete super-hyper-oben-über-drüber Frau sein, die mich nicht als Kind, sondern endlich als erster Mensch, wie einen Erwachsenen behandeln würde und somit als ebenbürtigen Diskussionspartner, als der ich mich jetzt als Schulkind, natürlich fühlte.
Die Tür ging auf, Elonore Pilgram erschien. Sicher 55 Jahre alt, super altmodische Frisur, maximal 1,58 groß, mit der Fasson eines Fasses. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, locker 90 kg Lebendgewicht. Auf den ersten Blick war sie aufgrund ihres Oberlippenbartes gar nicht von einem Mann zu unterscheiden. Jedoch ragten ihre Waden, die, ohne dass ich hier zu dick auftragen will, gut und gerne 50% ihres Körpergewichts ausmachten, unter einem Rock hervor. Dies war 1972 ein untrügliches Zeichen dafür, dass es sich hiebei um eine Frau handeln musste. Meine Enttäuschung ging in dem allgemeinen Gejohle meiner zukünftigen Klassenkameraden völlig unter. Und als einzigen Diskussionsbeitrag durfte ich mir am ersten Tag die Nennung meines Namens gutschreiben lassen.
Als ich nach Hause kam, warteten schon meine Großeltern, die extra aus dem Drautal angereist waren, auf mich. Der Opa im Sonntagsanzug, natürlich mit dem für ihn eleganten, allerdings damals schon altmodischen Sonntagshut, und die Oma im Dirndl. Ich glaube das war das erste Mal, dass ich sie ohne ihre Küchenschürze gesehen habe. Alleine daran können sie ermessen, wie unglaublich feierlich dieser Tag für mich gewesen ist. Denn ohne Schürze habe ich sie danach nur mehr bei den jährlichen Ausflügen über die Nockalmstraße, oder zum Almkirchtag, wenn der Opa seine Bienenköniginnen kaufen ging und es beim Rangeln hoch her ging, und während der samstägigen Heinz Conrads-Sendungen gesehen. Auch sie schienen sehr aufgeregt und freuten sich ungemein. Ja klar, sie waren ja auch nicht in der Schule gewesen.
In den folgenden Tagen begriff ich die Bedeutung des Wortes Feldwebel. Die gute Pilgram schlug einen Ton an, wie ich ihn mir beim Barras, wie mein Großvater die Wehrmacht nannte, in der er die zweifelhafte Ehre hatte zu dienen, vorstellte. Ich fühlte mich plötzlich wie im Krieg. Und zwar zwischen den Fronten. Auf der einen Seite die Pilgram, auf der anderen Seite die Klassenkameraden. Dazwischen ich. Der Begriff Autorität nahm in meinem kleinen Gehirn von nun an einen festen Platz ein. Und zwar ganz oben auf der Out-Liste. Ich liebte das Lernen und hasste von nun an die Menschen, die mich lehrten. Okay, man muss der Pilgram zu Gute halten, dass sie es hier mit einer Klasse frühpubertierender Verbrecher zu tun hatte, die von wenigen Ausnahmen abgesehen, ihre Knastlaufbahn unmittelbar nach ihrer Schulpflicht starteten. Und bereits in den ersten Tagen meiner schulischen Laufbahn bestätigte sich für mich, auf bittere Art und Weise, eine Wahrheit, die ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kannte.
Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.