2004-10-17
Vom Stress und der Freiheit
Eine Baustelle und Tagträume im Oktober
Pizza Express 2: Genesis
Manchmal, wenn an Tagen wie heute alles zusammenkommt und alles auf einen niederprasselt, und wenn jeder etwas von dir wissen will, oder zumindest mit dir reden muss, und wenn keine Zeit mehr übrig ist für deine Frau und deine Kinder, und wenn nur mehr zwei, drei Stunden Schlaf bleiben, und wenn die Zweifel kommen, ob es den das alles wert ist, und wenn man sich fragt, ob man tatsächlich nochmals alles riskieren soll, und der Installateur gerade das Eckventil anspricht, überlege ich, wie es denn wäre, wie ein normaler österreichischer Durchschnittsbürger zu leben.
Ich würde einen VW Golf fahren, wahrscheinlich das neueste Modell, für das ich die letzten 8 Jahre gespart hätte, und würde von einem Mercedes träumen. Ich würde am Sonntag zum Autowaschplatz fahren und den Golf pflegen, mehr als ich meine Kinder je gepflegt hätte. Ich würde am 10. Oktober, zwar nicht gerade mit dem Kärtneranzug, aber immerhin, auf eine Gedenkfeier gehen, und ich würde stolz auf meine Heimat und vor allem auf den Abwehrkampf und die, ach so geliebte, Karawankengrenze sein. Ich würde von 8 bis 5 ins Büro gehen, und meinen Vorgesetzten bis zum Dünndarm kriechen. Ich würde nicht fragen und mich wundern, sondern einfach meine Pflicht erfüllen. Ich würde Bausparer sein. Und das Material würde ich schonen. (Natürlich auch meine Ledergarnitur vom Kika.) Ich würde Geschwindigkeitsbegrenzungen einhalten und niemals bei Rot über die Kreuzung fahren oder auf der Autobahn rechts überholen. Ich würde einmal im Jahr auf Urlaub fliegen. Wahrscheinlich in die Türkei oder nach Ägypten, wegen der tollen all-inclusive Angebote in den Ferienclubs und weil die Leute so nett sind dort. Ich würde vernünftig sein.
Ich würde mich am Abend im Gasthaus bei ein paar Bierchen entspannen und könnte meinem Frust über die Ausländer, die uns die Arbeitsplätze wegnehmen und gegen die ich prinzipiell ja nichts habe, freien Lauf lassen. Ich würde Wöofgang Schüssel wählen. Ich würde mir aber die Freiheit erlauben, wenn es denn die Altparteien zu bunt treiben, aus Protest FPÖ wählen. Ich würde meinen Rasen jede Woche mähen. Ich würde schauen, dass meine Kinder still sitzen und das sie artig sind. Ich würde hoffen, dass sie es einmal besser haben werden als ich. Ich würde anderen Frauen heimlich unter den Rock schauen oder sie in Umkleidekabinen beobachten und dabei wichsen. Ins Puff gehen würde ich aber nie. Ich würde bei mehreren Vereinen eingetragenes Mitglied sein und wäre gesellig. Samstags würde ich mit Genuss den Musikantenstadel anschauen, weil der ORF sonst eh nichts Gescheites mehr im Programm hat. Ich würde mich beim Abspielen der österreichischen Bundeshymne von meinem Platz erheben. Ich würde Kunst mögen, wenn sie vom Können kommt. Aber wenn es denn sein müsste würde ich schon ordentlich auf den Tisch hauen. Ich würde hoffen, dass alles so bleibt wie es ist. Und das wichtigste wäre ja ohnehin die Gesundheit. Ich würde Leberkäsesemmeln, natürlich mit Kren und nicht mit Senf, zum Gabelfrühstück essen, und es als revolutionären Akt betrachten, weil ich wider die Empfehlungen meines Arztes handeln würde und wider die Vernunft. Ich würde mich auf meine Pension freuen, weil ich dann endlich das tun könnte, wozu ich Lust hätte, und wozu ich aber nie gekommen bin, weil ich es mir immer für die Pension aufgespart habe. Mir wäre es egal, ob der VSV oder der KAC Eishockeymeister werden würde, Hauptsache ein Kärntner Verein muss es sein. Ich würde am Stammtisch meinen Chancen nachtrauern, die ich vertan habe, und über die Ungerechtigkeit der Welt und die Unwissenheit der Anderen und vor allem deren Glück und deren Protektion zetern. Ich wäre nicht neidig, aber ich würde schon auch auf meinen eigenen Sack schauen und an mich nicht zu letzt denken. Schließlich wäre mir ja das Hemd näher wie der Rock. Ich würde meine heile Welt beschützen und ich würde in Ruhe altern. Ich würde versuchen nichts zu verändern und beten, dass sich nichts ändert.
Und in diesen Moment, gerade wo mir gerade der Installateur erklärt, dass das Eckventil eines Wasseranschlusses des Altbaues nicht mehr gehalten hat, und der Fliesenleger nach der Bautrennfuge zwischen Alt und Neubau fragt, und wo der Zimmermann Angst hat, dass die Hinterlüftung des Zubaues nicht ausreichen wird, und der Elektriker am Telefon nachfragt, ob das Erdungskabel schon zum KELAG Kasten hin eingegraben wurde, in diesem Moment wird mir blitzartig klar, dass es wehtun kann oder wahrscheinlich sogar muss, wenn man frei sein will. Das Freiheit Veränderung und Unsicherheit und Loslassen und den Willen etwas Neues zu beginnen heißt.
Ich stürze mich in meine Arbeit.