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2007-11-22

090 - 789

Eine Betrachtung von Jutta und Robert Kravanja

Es ist wohl eine Frage des Menschenbildes. Eine Frage, wie sehe ich den Menschen in der Gesellschaft und wie sehe ich die Gesellschaft als solches. Es ist die Frage, ob das Spiel „Liebe deinen Nächsten“ heißt, oder „Jeder gegen Jeden“. Wobei mit Spiel hier ironisch, nein eigentlich zynisch, gemeint ist, was den täglichen Kampf um das nackte Überleben bezeichnet. Zwischen diesen zwei Spielarten gibt es nichts. Und vor allem: Es gibt nichts Richtiges im Falschen (Adorno). Da stehen sich also zwei Gegenpole gegenüber, die man am ehesten mit Feuer und Wasser vergleichen kann. Nächstenliebe versus Kapitalismus. Unser Bundeskanzler hat beim Antritt seines Amtes von einer Hochleistungsgesellschaft gesprochen, die er in Österreich fördern und pflegen will. Und er als Sozialdemokrat (!) gibt mit seiner Parole eindeutig den Kurs vor. Das von ihm verlangte Spiel heißt Entsolidarisierung und sollte einer „zivilisierten“ Gesellschaft, die eigentlich Verhältnisse wie im Paradies vorfindet, nicht würdig sein.

Unser Sohn Manuel ist Autist. Das sagt sich so leicht. Wahrscheinlich können sich die meisten von Ihnen gar nicht vorstellen, wie das ist mit einem autistischen Kind zu leben. Wahrscheinlich fällt Ihnen als erstes Dustin Hofmann und Tom Cruise ein, wenn das Wort Autismus fällt. Und sofort wird in Ihnen das Programm des nur etwas schrulligen, aber eigentlich genial veranlagten Menschen hochgefahren, der alle möglichen Superbegabungen hat, die man eigentlich nur noch kommerziell nutzen muss, um mit Ihnen ein Vermögen zu verdienen. In diesem Sinne hat der Film „Rain Man“ den autistischen Menschen keinen guten Dienst erwiesen. Autistische Menschen sind in aller Regel keine Genies. Unser Manuel auf alle Fälle nicht. Und das ist auch gut so.

Er ist jetzt 18 Jahre alt und hat eine Lebenszeit hinter sich, in der es das Hauptziel von meiner Frau und mir war, mit ihm in Kontakt zu treten. Ihn soweit in unsere Welt zu holen, dass ein Zusammenleben nicht ausschließlich mühsam ist, sondern wenigstens über gewisse Strecken als menschenwürdig empfunden werden kann. Auch das sagt sich so leicht, setzt aber voraus, dass ich weiß, dass mein Kind autistisch ist. Im Kärnten der späten 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts war das allerdings keine Selbstverständlichkeit, dass ein Kind als autistisch abgeklärt wurde. Da gab es in erster Linie gut gemeinte Ratschläge der Verwandten wie, „Das waxt sich schon aus“, oder „Er is halt ein bissl später dran“ und praktisch nicht vorhandene medizinische Betreuung. Von psychologischem Begleiten der Eltern ganz zu schweigen. Unsere Tage waren die Hölle.

Überhaupt als der Bursche das Laufen anfing. Bis in eine Höhe von 1,20 Meter war es nicht möglich in der Wohnung irgendetwas aufzubewahren, ohne das es Minuten später zerstört war. Es wurde alles bespuckt oder mit Kot beschmiert. Dinge wurden ausschließlich als Wurfgegenstände benutzt, oder im besten Fall für irgendwelche stereotypen Handlungen verwendet. Lange Zeit, wenn ich mich zurückerinnere scheinen es mir Jahre, war „Auto“ das einzige Wort, das wir von unseren Sohn hörten. Und das im Stakkato furioso.

Wir hatten also ein Problem. Bis zu dem Zeitpunkt, als uns ein befreundeter Kinderarzt einen Studienkollegen empfahl, der seine Praxis zwar am Bodensee unterhält, der aber bei einem Besuch seines Freundes unseren Sohn in Augenschein nahm. Nun ist dieser Dieter Schulz kein Arzt, sondern Heilpädagoge, klärte uns aber bereits bei unserem ersten Besuch in Wahlwies über die „Behinderung“ oder „Krankheit“ unseres Manuels auf. Ich setze die zwei Worte absichtlich in Anführungsstriche, weil Autismus aus unserer Sicht weder das eine noch das andere ist. Es handelt sich bei Autismus ausschließlich um eine andere Wahrnehmung als der Durchschnittsmensch sie hat. Wir vermeiden hier auch ganz bewusst das Wort „Wahrnehmungsstörung“. Autistische Menschen nehmen die Welt einfach anders wahr. Punkt.

Das zu akzeptieren wäre aus unserer Sicht das Wichtigste, um Autisten ein Leben zu ermöglichen, das ihnen gerecht werden würde. Und hier kommen wir leider mit der Schulmedizin und mit der Wissenschaft in einen nicht zu lösenden Konflikt. Der Schulmediziner, der natürlich helfen will, beginnt in der Regel beim Ruhigstellen des „Patienten“. Natürlich ist das für die Eltern und/oder für die Betreuer einfacher, den autistischen Menschen zu handhaben. Diese Kritik dürfen wir uns erlauben, weil wir einen autistischen Buben großgezogen haben. Alle Nichtbetroffenen müssen damit aber vorsichtig sein. Weil das Nichtruhigstellen musst du zu erst einmal aushalten. Aber die Drogen die Autisten verabreicht werden, stellen natürlich einen massiven Eingriff in seine Welt dar, ohne aber eine „Verbesserung“ seiner Wahrnehmung damit zu erreichen.

Der Wissenschaftler wiederum forscht an Autisten, weil er begründen will, warum Menschen autistisch sind und weil er als Konsequenz aus seiner sterilen Forschungsarbeit „heilen“ will. Doch blöderweise gibt es beim Autismus nichts zu heilen. Der Autismus bleibt das was er ist, eine Herausforderung an die Gesellschaft, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Dabei sind wir sicher, dass es nur ein erprobtes Mittel gibt. Ich kann ihm nur mit Liebe begegnen. Und mit der Toleranz, dass alle Menschen die Welt wahrnehmen können wie sie wollen. Insofern sind autistische Menschen ein Geschenk Gottes, weil sie uns in jeder Situation unser sinnloses Streben nach Macht, Ruhm und Reichtum vor Augen führen. In einer Welt, wo es eigentlich nur der Liebe bedürfte. Noch dazu in einem Land, wo alles im Überfluss vorhanden ist, wenn wir es dem Anderen nur gönnen würden.

Das aber sieht eine Hochleistungsgesellschaft nicht vor. In einer solchen musst du dir dein tägliches Brot schon mit der Faust erkämpfen und dich gegen die anderen Hungrigen am vollen Trog durchsetzen. Dass es da manchmal zu Kolateralschäden kommt, nimmt der Satte scheinbar gerne und ungerührt in Kauf. Egal, ob es die vielen Spielsüchtigen, die Alkoholiker oder eben Menschen sind, die aus irgendeinem Grund nicht der Norm entsprechen. Die Schrauben werden angezogen, die Gürtel enger geschnallt und Häuser werden versteigert, damit sich ausgehen soll, was sich nicht ausgehen kann. Und uns als Eltern eines autistischen Sohnes kommt es manchmal vor, dass uns sogar die Luft zum Atmen genommen wird. In einem Land, in dem genug Luft für alle da wäre, die aber immer noch nach verbrannten Menschen stinkt.

Reaktionen Auf den Beitrag reagieren

Walther, 2007-11-22, Nr. 4015

Herzlichen Dank an euch für diesen Beitrag

walther

Maria, 2007-11-22, Nr. 4016

Lieber Robert,

ich möchte dir auf diesen Beitrag im etwas privaterem Rahmen, der "email" antworten.
Gib mir noch ein wenig Zeit...

Was ich aber all jenen empfehlen kann, die sich dieses Thema ein bisschen näher zur Brust nehmen wollen, ist ein Buch von Anna Mitgutsch und heißt "Ausgrenzung".

Es gibt immerhin einen kleinen, sehr kleinen Einblick - ins Leben einer Mutter...


mit aller-liebsten Grüßen nach Villach,

Maria

Herwig H. Peuker, 2007-11-22, Nr. 4017

Lieber Robert V.

Da kennt man sich seit Jahren, und weiss 'praktisch nix' voneinander.
Danke für Deinen Beitrag, und die Offenlegung. Nicht nur Nachdenken ist jetzt angesagt.

Herwig

erika, 2007-11-22, Nr. 4018

"liebe deinen nächsten, wie dich selbst"

liebe jutta,
lieber robert,
lieber manuel,
liebe maria!

meinen respekt und meine anerkennung eurer geleisteten hingabe für diese lebensaufgabe habt ihr schon mehrmals erhalten.

mich interessiert noch, was konkret erwartet ihr von uns,der gesllschaft, von mir, um eure situation zu verbessern?

mich interessiert noch, was oder wie ist es für manuel möglich, sich zu seiner, eurer jetzigen lebenssituation zu äußern?

dass er es auf seine weise macht, kann man aus euren ausführungen verstehen.

maria, seine schwester, was sagt sie ?

und gab es rund um euch keinerlei stützende oder helfende hände in all den vielen jahren?

und diese liebe, die euch trägt, wieviel verträgt sie?


jutta, ich wünsch dir ein laster: "stolz"
denn das ist aus meiner sicht, in diesem fall, mehr als angebracht.
(und ein bischen ein laster muss doch auch erlaubt sein! oder?)


liebe grüße

eine lästernde
erika

Prinzip Menschlichkeit, 2007-11-22, Nr. 4019

Die Hauptantriebskraft der Menschen ist, Zuwendung, Wertschätzung und Liebe zu finden und zu geben. Dementsprechend steuern wir unser Verhalten. Gelungene soziale Kontakte werden belohnt, misslungenen folgt Aggression. Die Postulierung der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher, dass es so etwas wie Gesellschaft nicht gäbe, ist damit widerlegt.

läuft gerade auf Ö1

Ein weiterer Buchtipp: Prinzip Menschlichkeit
Warum wir von Natur aus kooperieren!

Mimenda, 2007-11-24, Nr. 4022

innehalten - manuel, der mensch, und manuel als hilfloser gegenentwurf zur wahrnehmung der "normalos". wahr oder unwahr? wahr oder falsch, falschnehmung statt wahrnehmung. sich wahr nehmen kann nur, wer sich selbst liebt. liebe deinen nächsten wie dich selbst. fehlt die "auto"-liebe, fehlt auch jene zum nächsten. liebe deinen fernsten - dein eigen fleisch und blut - wie du dich liebst, wenn du dir nah bist. wie das bloß geht? ich hätte angst, ich hatte angst davor, "behinderte" kinder zu zeugen. das verschiebt so vollends den blickwinkel auf sich selbst und die welt wie es scheint. und es wird dadurch geschenk, zu etwas, das sonst nie eingetreten wäre!?!?

ich bewundere eure haltung, denn ich glaube von mir zu wissen, dass ich das nicht ausgehalten hätte...

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