2004-11-17
Geruchsabdrücke
Eine Aromatherapie
Bildermaschine
Die wichtigsten Ereignisse meiner Kindheit habe ich in Form von Gerüchen, scheinbar unauslöschlich, in mir gespeichert. Und wenn die Erinnerung an gewisse Situationen oder Begebenheiten schon längst verblasst ist, so werden durch einen vertrauten, was aber nicht unbedingt heißt, einen wohlriechenden Geruch, blitzartig Bilder abgerufen, so klar, als würden sie eine Geschichte erzählen, die erst vor Kurzem geschehen ist.
Ende August 04 fahre ich mit meiner Familie auf einen Tagesausflug nach Bibione. Ich betrete ein sechsstöckiges weises Haus direkt am Meer, an der Piazalle di Zenith gelegen. Das Ippocampo, ein Appartmenthaus. Ich sauge die Luft des Hauses tief in mich ein.
Mit einem mal, tausend Bilder.
Unteres Drautal, später August 1974. Wir, meine Cousins und ich, stehen gemeinsam mit dem Großvater in der „Leitn“ und machen Heu. Das heißt er arbeitet monoton wie eine Maschine mit der Sense, und wir Buben fangen mit unseren Rechen das gemähte Gras zusammen. Die Landschaft ist vollgesogen mit Sommer, und man spürt in der schon etwas überstandenen Hitze den herannahenden Herbst. Es riecht wie es nur genau zu dieser Jahreszeit, Ende August riechen kann. Der Sommer wird reif.
Wann immer wir Durst haben, trinken wir vom nahegelegenen Bach aus dem verschwitzten Hut des Großvaters frisches Wasser. Erst heute grause ich mich bei dem Gedanken, an den Geruch des verschwitzten Innenhutbandes. Damals war er mir sehr vertraut.
Wir arbeiteten so hart, weil wir uns für unseren, in den nächsten 14 Tagen stattfindenden Bibioneurlaub, ein kleines Taschengeld verdienten. Und Bibione, das hieß für uns die große Freiheit. Das hieß, Strand und Spielsalon. Das hieß Frauen durch Gucklöcher in den Umkleidekabinen, beim Textilwechsel zu beobachten und Go Kart fahren im Lunapark. Das hieß tagsüber im Meer baden und abends so lange aufbleiben, wie man wollte. Das hieß Rieseneisbecher und fettige Pommes Frites. Das hieß Disney´s lustige Taschenbücher, die man sich zu Hause nur zu besonderen Anlässen kaufen durfte, und Turniere am Tischfußballautomaten. Das hieß Boccia spielen und Flippern. Das hieß riesige Spielzeuggeschäfte und eben Ippocampo, unser Appartmenthaus.
Und all diese Dinge hatten einen speziellen Geruch. Der Strand, hatte diesen Meeresbrisenduft, allerdings nicht so penetrant, wie er heute von einer Toilettensteine herstellenden Firma für unsere WCs vorgesehen ist. Der Spielsalon roch nach einer Mischung von Fensterputzmittel und kaltem Rauch. Die Umkleidekabine nach Urin. Der Lunapark nach den Abwässerkanälen, die direkt neben dem Gelände vorbeiführten. Das Meer roch wie eine gesalzene Sonnenölmischung und die Nacht nach schweißigen, sonnenverbrannten Leibern. Eis war Vanille und Pistazien, das Pommesfett köstlich, weil damals gesundheitsmäßig noch unschuldig. Der Zeitungsladen duftete nach Papier und frischer Druckerschwärze, wie ich es niemals bei uns in einer Trafik gerochen habe. Und das Ippocampo riecht bis heute, nach all den Dingen, die scheinbar eine glückliche Kindheit ausmachen. Ich habe mich heuer im Sommer wieder davon überzeugt.
Und so empfinde ich heute mein ganzes Kind-sein, als einen einzigen Sommer, einen von Zufriedenheit und Sattheit durchtränkten August, voller Gerüche und Geschmäcker und voll purer Lust und der reinen Freude am Leben. Ein herrliches Bild.
Und vor allem hilft es ein wenig gegen die Novemberdepression.