2014-02-26
Was hat uns in Villach so verletzt, dass wir Mitmenschen immer noch namenlos begraben?
Dies ist weder ein sentimentaler oder gar ein romantisierender Nachruf auf einen Außenseiter der menschlichen Gemeinschaft. Auch kein Urteil oder eine Rechtfertigung für sein Leben. Dies ist eine Auseinandersetzung mit uns selbst und darüber, wie wir miteinander umgehen. Und damit ist diese Betrachtung letztlich ein Blick darauf, wer wir sind.
Reinhold Schneider (1966 – 2014) war das 14. Kind einer kinderreichen Familie aus Villach-Seebach. Sein Geburtsort bestimmte seine Biographie wesentlich. Aus Seebach kommen wenige Ärzte oder Rechtsanwälte. Die meisten Seebacher Kinder der 60er Jahre wurden Baraber, also Arbeiter in den in Seebach ansässigen Industriebetrieben, wie etwa die Seebacher Werke oder das Emailwerk, die „Geschirrbude“, wie es im Volksmund genannt wurde. Für den Reinhold war Arbeit keine Option. Zumindest in den letzten 20 Jahre seines Lebens. Ob man ihn nicht lies oder ob er nicht wollte spielt für diese Betrachtung keine Rolle mehr. Sein gesundheitlicher Zustand, er kämpfte über ein Jahrzehnt nicht nur gegen die Unwirtlichkeit der Strasse, sondern auch gegen den Krebs, macht diese Frage ohnehin obsolet, ja geradezu absurd. Aber weil er keine Arbeit hatte oder wollte, war er für die meisten seiner Mitmenschen ein Dorn in ihrem Fleisch. Egal ob durch seine bloße Existenz oder durch sein „asoziales“ Handeln. Ein bürgerlicher Lebensentwurf war für ihn nicht denkbar. Und ich habe sogar mit zwei seiner ehemaligen Mitmenschen gesprochen, denen sein Tod sogar recht kam.
Ich persönlich habe ihn zum Schluss seines Lebens bei Tabea („sozialer Verein Tabea Lebenshilfe/Westbahnhoffnung Villach“) wieder getroffen und wenige Tage vor seinem Tod haben sich unsere Seelen noch einmal berührt. Ich schreibe diese Zeilen also nicht aus Mitleid mit einem Sandler, sondern in dem Bewusstsein, dass Matulas´ Tod selbst sein Vermächtnis an uns war.
Was hat der Tod eines „nutzlosen“ Menschen mit uns zu tun, sollten wir uns zu Recht fragen? Oder besser, was soll der Tod dieses Menschen für eine Hinterlassenschaft an uns gewesen sein? Ich will versuchen meine Gedanken zu erklären.
Dem Tod eines „wertlosen“ Menschen folgt (nicht nur hier in Villach) eine der Öffentlichkeit vielleicht bekannte, aber zumindest sorgfältig verdrängte Prozedur:
„Das Armenbegräbnis“
Wem dieses letzte Verfahren (sic!) mit einem mittellosen Bruder oder einer Schwester nicht bekannt ist, dem sei es hier in jener Kürze geschildert, in der es auch in der Realität stattfindet. Der Leichnam wird, weil kostengünstig, eingeäschert und die Urne in einer einfachen Gruft zur ewigen Ruhe gebetet oder präziser: entsorgt. Wobei hier Gruft definitiv zu hoch gegriffene Assoziationen hervorruft, denn es handelt sich hierbei (siehe Foto) um einen in groben Beton ausgeführten Schacht, der mittels eines schmucklosen Bleches abgedeckt wird. Weder ein Hinweis auf ein Massengrab, noch ein Namensschild erinnert an die vielen hundert Menschen, die zwar in unserer Mitte gelebt haben, die wir aber durch die Auslöschung ihres Namens unserem Gedenken entziehen, und damit jede Erinnerung an sie verunmöglichen. Ohne Trauerfeier verbringen wir die zu Lebzeiten schon in einem menschenunwürdigen Dasein Vergessenen in die dafür vorgesehene Deponie, so als müsste ihre im Leben erzwungene Würdelosigkeit selbst noch im Tode weiterbestehen.
Aber Marjan Kac wusste das, weil er diese Prozedur schon einmal erfahren hat. Und Tabea wollte das für Reinhold Schneider so nicht. Also wurde die günstigste der verfügbaren Begräbnisvarianten gebucht. Diese Variante kostet 200.- Euro und beinhaltet neben dem Aufstellen der Urne des Verstorbenen im Gang des Nebengebäudes auch das Tragen der Urne von einem „Pompfuneberer“ zum oben beschriebenen Schacht. Im Gang hielten wir dann auch die Trauerfeier für den Matula ab. Die Szene hätte gut und gerne aus einem Film von Wim Wenders stammen können. Mit unseren Gebeten und letzten Blumengrüßen wurde dann die Urne wie oben beschrieben „eingesegnet“. Zum Leichenschmaus gingen wir in die Westbahnhoffnung, womit der würdige Abschluss für eine würdige Beisetzung gegeben war.
Das erstaunliche an diesem Begräbnis war, dass es das Erste von allen Begräbnissen war, an denen ich teilgenommen habe, bei dem über den Verstorbenen nicht gelogen wurde. Alles Gesagte und alles Gesungene war authentisch. Es musste kein halbwegs geglücktes Leben zusammengelogen werden, weil wir dem Matula schon vorher als das begegnet sind, was wir alle sind und auch er immer war: als Menschen. Sein Leben war authentisch und das Abschied nehmen von ihm war es auch.
Und was ist jetzt das Vermächtnis des Matula?
Diese Zeilen sind das Vermächtnis. Reinhold Schneiders Tod offenbart uns durch diesen Bericht das Bewusstsein, wie wir in Villach miteinander umgehen und wie wir zueinander stehen. Wer wir durch unser Handeln sind.
Es liegt an uns darüber nachzudenken, ob für uns, so wie es ist, alles seine Ordnung hat, oder ob dieses Auslöschen der Erinnerung durch die Auslöschung des Namens unserer Mitmenschen nicht geändert werden sollte. Ein Auslöschen einer Erinnerung, das uns selbst, nicht dem Verstorbenen, so schweren Schaden zufügt.
Zeugnis dafür legt in Villach ein Denkmal vor dem Museum in der Widmanngasse ab. Ein Denkmal auf dem die Namen all derer aufgelistet sind, denen vor nur ein paar Jahrzehnten, durch die damals völlig legitime Herrschaft, nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr Name genommen wurde. Erst in den späten 90er Jahren wurde ihnen durch das Denkmal der Namen ein Stück ihrer Würde zurückgegeben. Sehr viele der Namen auf dieser Gedenkstätte stammen aus Seebach.
Aus Seebach kommen wenige Ärzte oder Rechtsanwälte.