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Der Hacker

Nach dem Serverausfall und den damit verbundenen ...

Liebe Leser(I)nnen,

unabhängig vom Absturz des Kärnöl-Servers, der übrigens jetzt eine neue IP-Adresse hat (Lesezeichen löschen!) möchte ich allen "Frohe Weihnachten" wünschen und den Mystikern unter uns etwas auf den Gabentisch legen.

Mit Numerologie lässt sich jeder Unsinn beweisen, und trotzdem ist sie nicht sinnlos. Zahlenmystik war die Wegbereiterin der rationalen Wissenschaft.

Das letzte Abendmahl

Das Dutzend ist überall anzutreffen: die Stämme Israels, die Jünger Jesu, die Tierkreiszeichen. Für viele Zeitgenossen lässt sich daraus erkennen, dass die Zwölf und alles, was mit ihr zusammenhängt, gut sein muss. Addiert man eine Eins, erhält man die Dreizehn, und die muss, weil sie das runde Dutzend so stört, eine Unglückszahl sein. Die Sieben findet sich in den Farben des Regenbogens wieder, den Tagen der Woche, der Anzahl der Kontinente, den Tönen der Oktave. Sie drückt somit Gesamtheit und Perfektion aus. Folgerichtig muss Sechs Unvollständigkeit bedeuten, und die dreimalige Wiederholung dieser Zahl in der Inkarnation 666 ist - als Gipfel des Schlechten! - die Zahl des Teufels.

Auf solche Weise werden Numerologen nicht müde, Zahlen zu interpretieren und Begebenheiten oder Eigenschaften, die auf irgendeine, oft abenteuerliche Weise mit ihnen in Zusammenhang gebracht werden können, zu beschreiben oder - noch besser - vorherzusagen. Das Beruhigende an der Numerologie ist, dass bei unguten Prognosen meist auch das genaue Gegenteil bewiesen werden kann, indem man die unheilbringende Zahl flugs multipliziert, dividiert oder anders interpretiert.

Der Mathematiker rümpft die Nase über solchen Humbug. Die Zwölf ist zwar eine wichtige Zahl, aber nicht wegen ihrer mystischen Eigenschaften, sondern weil sie - ausser durch 1 und sich selbst - auch noch durch 2, 3, 4 und 6 geteilt werden kann, ohne einen Rest zu lassen. Somit hat sie doppelt so viele echte Teiler wie die Zehn, die sich bekanntlich - ausser durch 1 und sich selbst - bloss noch durch 2 und 5 teilen lässt. Unter anderem deshalb diente die Zwölf als Basis des im angelsächsischen Kulturraum verwendeten Duodezimalsystems. Die von den Römern bevorzugte Zehn hat den Vorteil, dass man sie an zwei Händen abzählen kann, eine nicht zu unterschätzende Annehmlichkeit für Schulkinder und rechenschwache Geschäftsleute.

Das erkannten auch Charles de Borda, Joseph-Louis Lagrange und Antoine-Laurent Lavoisier Ende des 18. Jh. Sie schlugen sich auf die Seite der Fingerzähler und empfahlen dem französischen Nationalkonvent, das Dezimalsystem für Masse und Gewichte einzuführen. (Bordas Vorschlag, den Tag in 10 Stunden à 100 Minuten à 100 Sekunden zu unterteilen, fand keinen Gefallen.) Die Sechs galt schon im Altertum als perfekte Zahl, weil sie die Summe ihrer Teiler ist (1 + 2 + 3 = 6). Und Sieben und Dreizehn? Für Mathematiker sind sie nicht besser und nicht schlechter als die Sechs oder die Zwölf, aber vielleicht interessanter. Sie lassen sich ja - ausser durch 1 und sich selber - durch gar nichts teilen. Sie gehören zu den Primzahlen, den Atomen, aus denen alle anderen Zahlen zusammengesetzt sind.

Numerologen und andere Mystiker, die an magische Eigenschaften der Zahlen und Ziffern glauben, berufen sich meist auf Pythagoras als ihr Vorbild. Aber Pythagoras' Ansatz war keine naive Numerologie, sondern ein genialer Versuch, den Kosmos mit Hilfe der ganzen Zahlen und geometrischer Figuren zu verstehen. Dass viele der vermeintlichen Entdeckungen für unser Empfinden reichlich naiv wirken, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Erkenntnis, «alles ist Zahl», bahnbrechend war. Allerdings hatte sein pythagoreisches Weltbild enge Grenzen. Es beschränkte sich auf ganze Zahlen und auf Brüche. Als seine Schüler begriffen, dass sich die Diagonale eines Quadrats nicht als rationale Zahl, das heisst als Quotient (Ratio) zweier ganzer Zahlen, darstellen lässt, führte das zu einer Krise des Weltbilds. Platon und nach ihm die Neoplatonisten setzten die Versuche fort, die Natur und das Universum anhand von Zahlen zu erklären. Im 3. Jh. n. Chr. entwickelte Iamblichos den Neoplatonismus in eine mystischere Religionsphilosophie weiter, die in seiner «Theologie der Arithmetik» ihren Ausdruck fand. In diesem Werk wechselten pythagoreische Betrachtungen mit freien Assoziationen ab. Die Zahlen nahmen magische Eigenschaften an: die Numerologie war geboren.

Etwa zur gleichen Zeit gewann die jüdische Mystik an Einfluss, die Kabbala. «Das Buch der Welterschaffung» entstand zwischen dem 3. und dem 6. Jh. In ihm wird die Erschaffung und die Ordnung des Universums mit Hilfe der Ziffern 1 bis 10 und der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets gedeutet. 1 ist Gott, 2 die göttliche Weisheit, 3 die irdische Intelligenz. Es folgen Liebe, Macht, Schönheit und so weiter. Das zweite Werk der Kabbala ist das im 13. Jh. geschriebene «Buch des Glanzes», das die jüdische Mystik maßgeblich beeinflusste. Eine wichtige, aber von vielen Rabbinern nicht ernst genommene Technik der Kabbala ist die Gematrie. Indem Buchstaben numerische Werte zugeordnet werden, können Texte laut den Kabbalisten gedeutet werden. Da die Zusammensetzung von Zahlen auf vielfache Weise geschehen kann, lässt die Gematrie unzählige Deutungen und Interpretationen zu.

Es erstaunt, dass Naturphilosophen wie auch Theologen intuitiv meinten, dass es Zahlen sein müssten, die die Welt beschreiben. «Das Wissen vom Göttlichen ist für einen mathematisch ganz Ungebildeten unerreichbar», erklärte Kardinal Nikolaus von Kues im 15. Jh. Heute wissen wir, dass Mathematik die Grundlage zum Verständnis der Natur ist. Mancher moderne Wissenschafter brütet gleich den Numerologen über Beobachtungsdaten, um herauszufinden, wie verschiedene Datenreihen zueinander in Beziehung stehen. Dass Mathematik das tägliche Brot der Naturforscher geblieben ist, erstaunt Wissenschafter immer wieder.

Eugene Wigner, Nobelpreisträger der Physik, sprach in einem oft zitierten Essay von der «unvernünftigen Nützlichkeit der Mathematik», und Albert Einstein fragte, das pythagoreische Weltbild endgültig über Bord werfend: «Wie kann es sein, dass die Mathematik, die doch ein Produkt des freien menschlichen Denkens ist und unabhängig von der Wirklichkeit, den Dingen der Wirklichkeit so wunderbar angepasst ist?» Das wahre Mysterium des Universums war für ihn, dass es überhaupt für den Verstand zugänglich war. Zahlenmystiker hatten es relativ einfach. Alles, was plausibel schien - und gläubigen und abergläubischen Menschen scheint so manches plausibel -, war legitim. Was Zahlenmystikern fehlte, war die wissenschaftliche Methode, die Notwendigkeit der experimentellen Bestätigung der Theorien sowie deren Widerlegbarkeit.

Galileo Galilei (1564-1642) war einer der ersten Naturphilosophen, die Erklärungen für Naturerscheinungen nicht kraft der Argumente früherer Autoritäten oder theologischer Offenbarungen gelten ließen, sondern nur aufgrund von Experimenten und Beobachtungen. Er prägte das Diktum, dass das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben sei. Galileos nüchterner Ansatz blieb aber während langer Zeit eine Ausnahme. Einer, der die Notwendigkeit von Beobachtungen und die Vorherrschaft der Mathematik zwar akzeptierte, aber trotzdem in der Mystik und der Astrologie verfangen blieb, war Johannes Kepler in Prag.

Seine Karriere als Astronom begann der 23-jährige Kepler, nachdem er Theologie studiert hatte, 1594 mit dem Studium der Bewegungen der damals bekannten Planeten Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter und Saturn. Keplers Ziel war es, die Planetenbahnen in eine numerische Ordnung zu bringen. Für den jungen Mann war dies umso wichtiger, als er an die magische Kraft der Sterne glaubte und zeit seines Lebens ein überzeugter Anhänger der Astrologie war. Wie ein Schüler beim IQ-Test suchte Kepler Regelmäßigkeiten in den Daten. Er addierte, subtrahierte, multiplizierte und dividierte Zahlen mit-, von- und durcheinander, zog Faktoren zu Hilfe und postulierte unsichtbare Planeten. Nichts half, seine Mühen blieben erfolglos. «Ich habe viel Zeit mit diesen Zahlenspielereien verloren», schrieb er später. Die Erleuchtung kam dem mittlerweile zum Lehrer avancierten jungen Mann mitten in einer Unterrichtsstunde: die Umlaufbahnen der Planeten verlaufen auf Kugeln, die um ineinander verschachtelte platonische Körper angeordnet sind. Beim Nachrechnen fand Kepler seine Intuition bestätigt. Die Fehlermarge betrug weniger als zehn Prozent, was der damaligen Beobachtungsgenauigkeit entsprach. 1596 veröffentlichte er seine Erkenntnis in dem Werk «Das Weltgeheimnis», das von der Fachwelt mit Begeisterung empfangen wurde. Für die Thesen des alten Pythagoras war die von Kepler entdeckte Harmonie der Himmelskörper eine großartige Bestätigung. Es blieb nur ein kleines Problem: die Erkenntnis war falsch.

Dass seine Entdeckung irrig war, musste Kepler einige Jahre später selber zugeben, als er sich nach dem Tod seines Widersachers, des Hofastronomen Tycho Brahe, dessen exaktere Messdaten aneignete. Beim Sinnieren über den Daten erkannte er, dass die Bahnen der Planeten ellipsenförmig sein müssen und somit nicht auf Kugeln verlaufen können. Es zeugt von Keplers geistiger Größe, dass er bereit war, den Irrtum zu erkennen. Von der pythagoreischen Methode rückte er allerdings nicht ab, denn etwas anderes gab es zu seiner Zeit ja nicht. 1609 und 1619 veröffentlichte er «Neue Astronomie» und «Weltharmonik», in denen er drei - diesmal richtige - Thesen vorbrachte, die für immer seinen Namen tragen würden: die Keplerschen Gesetze.

Im dritten Gesetz brachte er die Umlaufzeiten der sechs Planeten mit den Achsen ihrer Ellipsen in Zusammenhang. Er hatte die Vision, dass Entfernungen von der Sonne und Geschwindigkeiten in einem mathematischen Gesetz zusammenhängen müssen. Aber wie? Wieder war es ein IQ-Test, der zu lösen war: Was ist die Beziehung zwischen der Zahlenreihe 58, 108, 150, 228, 778, 1430 (Halbachsen der Ellipsen in Millionen von Kilometern) und der Zahlenreihe 88, 225, 365, 687, 4392, 10753 (Umlaufzeiten in Tagen)? Kepler löste das Problem souverän. Er erkannte, dass das Quadrat der Umlaufzeit dividiert durch die dritte Potenz der Halbachse für alle Planeten fast genau 0,04 ergibt. Seine Eingebung führte - ohne die Spur einer Begründung - zu einem der grundlegendsten Gesetze der Natur.

Sowohl die falschen als auch die richtigen Erkenntnisse waren in Keplers Geist aufgrund seiner tiefen Überzeugung entstanden, dass Gott die Welt mit einer numerischen Gesetzmäßigkeit versehen hatte. Für Naturphilosophen der Aufklärung war die Hypothese der Ineinanderschachtelung von Sphären und platonischen Körpern ebenso plausibel wie die, dass das Quadrat einer Variablen proportional zur dritten Potenz einer anderen Variablen sein soll. Die eine Hypothese stellte sich als Hirngespinst heraus, die andere als bahnbrechende Entdeckung.

Keplers drei Gesetze blieben bis 1687 nicht mehr als ein zahlenmäßiges Kuriosum, dessen Ursache in Gottes Weisheit liegen musste. Erst in Isaac Newtons Monumentalwerk «Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie» wurden die Gesetze auf eine theoretische Grundlage gestellt. Der Engländer bewies mathematisch, dass Planetenbewegungen nicht allein dem Willen des Allmächtigen gehorchten, sondern dass Ellipsen eine zwingende Notwendigkeit waren.

Newtons Gravitationsgesetz wurde von Zeitgenossen nur widerwillig goutiert. Dass sich eine Karre bewegt, wenn an der Deichsel gezogen wird, verstand jeder. Aber dass eine Karre aus der Ferne ohne Deichsel gezogen werden kann, dafür brauchte es eine gehörige Portion Vorstellungsvermögen. Allerdings benötigte Newtons Modell noch einen Schöpfer als göttlichen Regulator, der Stabilitätsprobleme ausräumte und verlorene Energie wiedergutmachte. Erst sein französischer Nachfolger, Pierre-Simon de Laplace, der Wegbereiter der theoretischen Mechanik, war nicht mehr auf die Hypothese eines ordnenden Gottes angewiesen.

Trotz seiner strengen Rationalität beschäftigte sich aber auch der tief religiöse Newton mit esoterischen Wissenschaften, okkulter Literatur und Zahlenmystik. Hatte Kepler eine Schwäche für Astrologie, so war es für Newton die Alchemie, die ihn bis an sein Lebensende faszinierte. Seine allnächtliche Suche nach dem Stein der Weisen blieb zwar erfolglos - und trug ihm möglicherweise sogar eine Quecksilbervergiftung ein -, aber die Goldmacherei gehörte damals unter Naturwissenschaftern sozusagen zum guten Ton. Newton setzte sich auch eingehend mit der Heiligen Schrift auseinander und lernte sogar Hebräisch, um die fünf Bücher Mose im Originaltext zu studieren. Abstruse numerologische Berechnungen füllten Tausende von Blättern. Sie führten ihn zur Überzeugung, dass der Weltuntergang im Jahr 2060 stattfinden werde.

Newtons intellektueller Widersacher in Hannover, Gottfried Wilhelm von Leibniz, blieb seinem englischen Kollegen auch auf dem Gebiet der Mystik nichts schuldig. Seiner Zeit um viele Generationen voraus, entwickelte er das Konzept einer Rechenmaschine, das auf dem aus den Ziffern 0 und 1 bestehenden binären Zahlensystem beruhte.

Aus den heutigen Computern sind binäre Zahlen tatsächlich nicht wegzudenken, aber Leibniz dienten sie nicht nur zur schnöden Rechentätigkeit. Sie waren ihm ein Einstieg in die Schöpfungsgeschichte: Die 1 steht für Gott und das Sein, die 0 stellt das Nichts dar. Die Ziffer 7 steht für den heiligen Sabbat. In binärer Schreibweise wird sie als 111 geschrieben und ist somit ein Hinweis auf die Dreifaltigkeit. «Cum Deus calculat, fit mundus» - indem Gott rechnet, entsteht die Welt -, schrieb Leibniz; er war überzeugt davon, dass er das binäre System nicht erfunden, sondern bloß entdeckt hatte. So beeindruckt war er von seiner Entdeckung, dass er meinte, die Chinesen, denen die binären Symbole Yin und Yang schon bekannt waren, könnten durch das binäre System zum Christentum bekehrt werden.

Einen großen Erfolg erfuhr das pythagoreische Weltbild, als Dmitri Iwanowitsch Mendeljew 1869 seinen Vorschlag für ein Periodensystem der chemischen Elemente präsentierte. Auf seiner Tafel ließ er einige Stellen frei, obwohl keineswegs klar war, dass Elemente fehlten. Aber Mendeleev war tief überzeugt, dass die Platzhalter eines Tages gefüllt würden; denn zwischen den von alters her bekannten Elementen Zink mit dem Atomgewicht 30 und Arsen mit dem Atomgewicht 33 mussten doch auch noch Elemente mit Atomgewichten 31 und 32 liegen. 1875 wurde dann tatsächlich Gallium und 1886 Germanium mit den vorhergesagten Eigenschaften entdeckt.

Und der von der Kabbalistik faszinierte Basler Lehrer Johann-Jakob Balmer fand 1885 rein aufgrund numerologischer Betrachtungen eine empirische Formel für die Wellenlängen der Wasserstoff-Spektrallinien. Dass quantenmechanische Gründe für das Phänomen verantwortlich waren, konnte erst dreißig Jahre später von Niels Bohr gezeigt werden.

Carl Friedrich Gauss, der führende Mathematiker des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jh., beschäftigte sich schon in seiner Kindheit intensiv mit Zahlen. Bekannt sind die Anekdoten über den dreijährigen Knirps, der die Abrechnungen seines Vaters korrigierte, und den Primarschüler, der die Lehrer mit seinen erstaunlichen Fähigkeiten verblüffte. Das Studium der höheren Arithmetik, wie das Gebiet der Zahlentheorie damals genannt wurde, trieb er mit dem Meisterwerk «Untersuchungen über höhere Arithmetik» auf neue Höhen. Sein berühmtes, lange Zeit unbewiesenes Primzahltheorem beschreibt, wie die Primzahlen unter den ganzen Zahlen verteilt sind. Gauss war ein gläubiger Christ, aber sein Studium der Zahlen hatte nichts mit Mystik zu tun. Für ihn waren sowohl Gott als auch die Zahlentheorie perfekt. In der Formel «Gott arithmetisiert» brachte er alles unter einen Hut. Gegen Ende des 19. Jh. postulierte Georg Cantor in seiner revolutionären Mengenlehre, dass es verschiedene Grade der Unendlichkeit gebe. Jesuiten leiteten daraus einen Gottesbeweis ab, von dem sich Cantor allerdings distanzierte. Andererseits verfing er sich beim Sinnieren über die Menge aller Mengen - einem Begriff, bei dem die Logik versagt - selber in gewagten theologischen Spekulationen. Es verwundert nicht, dass sein Werk nicht überall Gefallen fand und dass Widersacher versuchten, die Mengenlehre ins Lächerliche zu ziehen. Leopold Kronecker in Berlin fasste seine Ansicht in den Worten zusammen: «Gott schuf die natürlichen Zahlen, alles andere ist Menschenwerk», und ein amerikanischer Mathematiker meinte, dass die Mengenlehre eine Theorie für Gott sei, die am besten Gott überlassen bleiben solle. Am anderen Ende des Meinungsspektrums befand sich der Göttinger Mathematiker David Hilbert, der sagte, «aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen hat, soll uns niemand vertreiben können».

Die jahrelange Beschäftigung mit mathematischen Objekten, die niemand vor ihm erspäht hatte, und die Anfeindungen, die er deshalb erleiden musste, trugen dazu bei, dass der labile Cantor 1918 in einer Irrenanstalt sein Ende fand. Die Kontroverse um die Mengenlehre ist auch heute nicht abgeschlossen. Zahlenmystik war unter Naturwissenschaftern auch in jüngerer Zeit nicht nur verpönt. Keplers Nachfahre Sir Arthur Eddington, einer der berühmtesten Astronomen des 20. Jh., war überzeugt, dass die zahlenmäßigen Werte für Radius, Masse und Alter des Weltalls sowie Gravitationskraft und Lichtgeschwindigkeit in einem schönen Zusammenhang stehen müssten, obwohl diese Annahme durch nichts gerechtfertigt war. Seine Spekulationen wurden von den meisten Kollegen als Zahlenspielereien eines alternden Wissenschafters belächelt.

Eine Ausnahme war sein Landsmann, der englische Physik-Nobelpreisträger Paul Dirac, der schlichtweg verliebt war in die Schönheit der Mathematik. Den pythagoreischen Ansatz rechtfertigte er damit, dass eine Theorie von mathematischer Schönheit bessere Aussichten habe, richtig zu sein, als eine hässliche - auch wenn letztere besser zu den experimentellen Daten passe. Damit warf er die wissenschaftliche Methode zwar über den Haufen, aber der Ansatz sollte sich als dienlich erweisen. Auf der Suche nach ästhetisch ansprechender Mathematik stieß er auf eine Gleichung, die die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik hübsch verband. Leider hatte die Gleichung zwei Lösungen, von denen die eine auf den ersten Blick sinnlos erschien. Aber die Gleichung war zu schön, als dass sich Dirac hätte einschüchtern lassen, und so fand er den ersten Hinweis auf Antimaterie. In der Zeitschrift «Scientific American» meinte er einst ehrfürchtig: «Gott ist ein Mathematiker sehr hoher Ordnung, und für die Schaffung des Universums benützte Er sehr hoch entwickelte Mathematik.» Indessen erkannte Einstein im Werk des Allmächtigen auch menschliche Züge, was ihn zu dem Ausspruch veranlasste: «Raffiniert ist der Herrgott, aber boshaft ist er nicht.» Die Ästhetik der Mathematik war auch für den Philosophen und Literatur-Nobelpreisträger Bertrand Russell eine wichtige Forderung.

Mathematik besitze nicht nur Wahrheit, schrieb er, sondern überwältigende Schönheit, eine kalte und herbe Schönheit, wie jene einer Skulptur. Ins selbe Horn stiess der Cambridge-Mathematiker G. H. Hardy mit seinem Diktum: «Das entscheidende Kriterium ist Schönheit; für hässliche Mathematik gibt es auf dieser Welt keinen beständigen Platz.» Tatsächlich geraten Mathematiker ob der Betrachtung der vom Basler Leonhard Euler 1748 bewiesenen Gleichung - der angeblich schönsten der Welt - e(Pi)+ 1 = 0 in helle Entzückung. Diese Aneinanderreihung von Symbolen vereint mittels Addition, Multiplikation und Potenzierung die Basis des natürlichen Logarithmus e (2,71 . . .), die Kreiszahl Pi (3,13 . . .), die imaginäre Einheit i (Quadratwurzel von -1) sowie die 1 und die 0.

Zahlenmystiker wollen die Welt verstehen und die Zukunft vorhersagen. Darin unterscheiden sie sich gar nicht so sehr von ihren Vettern, den theoretischen Naturwissenschaftern. Und pythagoreische Intuition statt rationale Analyse gab - auch wenn die Vettern das nicht immer gern zugeben - für manche Entdeckung den Ausschlag. Heute besitzen Forscher technische Hilfsmittel der Statistik, wie zum Beispiel die Regressionsanalyse, um etwaige Zusammenhänge objektiv zu erforschen. Aber auch diese Werkzeuge können missbraucht werden. Sogenannte Datenschürfer, moderne Nachfahren der Zahlenmystiker, korrelieren in computergestützten Verfahren alles mit allem, um Zusammenhänge zu finden, die im Nachhinein irgendwie plausibel erscheinen. Die geeignete Theorie wird dann zur Rechtfertigung nachgeliefert.

Unterdessen hat das pythagoreische Weltbild eine neue Stufe erreicht. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts läuteten Alan Turing und John von Neumann das Computerzeitalter ein. Vor zwei Jahren legte Stephen Wolfram ein Buch vor, in dem behauptet wird, das Universum sei ein riesiger Computer, der durch die wiederholte Anwendung simpler Regeln alle Komplexität des Universums erzeuge. Und so wären wir von Pythagoras' «Alles ist Zahl» zu «Alles ist Berechnung» gekommen.

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