2005-05-10
Die EU-Verfassung schreibt den Kapitalismus fest
Volksabstimmung: bei uns kein Thema?
Für jede(n), Interessierte(n)
Das darf ich Euch nicht vorenthalten und muss am Ende sogar meinen eigenen Senf dazugeben, nach dem Motto: weil grad Zeit ist.
Zeit zum Nachdenken hatten wir allemal. Wie intensiv das Nachdenken war, das kann jetzt jeder selbst überprüfen.
Antoine Crestani ist Generalsekretär der Republiksvereinigung für Kriegsveteranen (ARAC) Frankreichs
Ich bitte um Wortmeldungen!
I (Interviewer): Sie haben auf der Festveranstaltung zum 8. Mai am Sonnabend in der Berliner Humboldt-Universität davon gesprochen, daß sich in Frankreich gegen die EU-Verfassung vor dem Referendum am 29. Mai eine der »größten Massenbewegungen der Geschichte« gebildet habe. Welche Aktivitäten entwickelt ARAC dabei?
AC: Der ARAC-Nationalrat hat per Beschluß dazu aufgerufen, am 29. Mai mit Nein zu stimmen. Es geht um zwei Dinge: Die Angriffe auf das Ministerium für Veteranen und Kriegsopfer häufen sich, man will es verschwinden lassen. Es gibt – mit Ausnahme von Polen – innerhalb der EU nur in Frankreich ein solches Ministerium. Mit seiner Auflösung würden auch alle sozialen Rechte der ehemaligen Soldaten hinfällig.
Das zweite ist die Mitwirkung Frankreichs in der NATO. General de Gaulle hatte Frankreich aus der NATO zurückgezogen. Jetzt schickt die französische Regierung Berufssoldaten in NATO-Manöver, d. h. offiziell erklärt man, in der Militärstruktur der NATO nicht integriert zu sein, inoffiziell nimmt man teil – und zwar im Rahmen der EU. Damit können wir nicht einverstanden sein.
I: Was kritisieren Sie speziell an dem EU-Verfassungsvertrag?
AC: Wir kämpfen um die Zukunft unserer Kinder. Im Text des Verfassungsvertrages verbirgt sich die Bolkestein-Richtlinie. Es gibt bereits Beispiele dafür, daß französische Firmen auf der Grundlage dieses Gesetzes Arbeitskräfte entlassen, einzig und allein, um Maximalprofit für die Besitzer zu erlangen. Nur ein Beispiel: Ein großes französisches Transportunternehmen beschäftigt polnische Arbeiter. Sie bringen Waren aus Polen nach Frankreich und nehmen von dort Waren mit. Und das alles für 110 Euro im Monat. Französische Fahrer, die nach Polen und zurück fahren, erhalten über 1 000 Euro. Das gleiche gilt für Arbeiter aus Rumänien.
I: Was sagen Sie den Befürwortern der EU-Verfassung, die einen Zusammenhang zwischen dem Verfassungsvertrag und diesen Zuständen bestreiten?
AC: Es geht um die Gesetze des Kapitalismus. Wer die Verfassung akzeptiert, akzeptiert all das. Ich will das noch einmal illustrieren: Die Bergwerksbetriebe in meiner Heimat haben ihren Beschäftigten früher Häuser zu niedrigen Preisen angeboten. Dann wurden die Bergwerke stillgelegt, die Schächte brechen ein und diese Häuser werden beschädigt. Anders gesagt: Man hat die Leute dreißig oder vierzig Jahre ausgebeutet und ihnen obendrein Häuser und Grundstücke verkauft, die nichts wert sind. Hier geht es darum, daß das Geld immer die letzte Entscheidung trifft. Das wird in der Verfassung festgeschrieben.
I: Welche Rolle spielt ARAC konkret in der Massenbewegung, von der Sie gesprochen haben?
AC: In Frankreich gibt es einen landesweiten Diskussionsprozeß. An dem nehmen wir aktiv teil, klären über die Verfassung auf, so gut wir können. Die Zeitung L’Humanité hat wesentliche Teile des Verfassungstextes veröffentlicht und letztlich die Regierung gezwungen, 36 Millionen Exemplare des Verfassungsvertrages drucken zu lassen und an alle Haushalte zu verteilen. Sie haben den Text mit Kommentaren, mit ihrer Interpretation versehen und ihn so unter die Leute gebracht. Das zeigt, daß die Regierung große Furcht vor einem Nein hat. Bedauerlich, weil es die Arbeiterbewegung spaltet, ist, daß die Sozialistische Partei Frankreichs sich für die Verfassung entschieden hat. Aber 60 Prozent ihrer Wähler wollen mit Nein stimmen. Sie haben in Meinungsumfragen erklärt, daß sie für Europa sind, aber nicht für dieses.
I: Wie lautet Ihre persönliche Prognose für den Ausgang des Referendums?
AC: Ganz ernsthaft, ich glaube, daß es ein Nein geben wird. Es ist den Leuten so bewußt geworden, welche Gefahr in diesem Verfassungsentwurf steckt, daß die Mehrheit ihn nicht passieren lassen wird. Es geht um die Kultur, um das Gesundheitswesen, um den Arbeitsmarkt. Was sich dort abspielt, ist skandalös und eine Schande.