2004-09-19
Wenn der Krampf zum Kampf wird (Teil 1)
Meine Glosse heißt zwar "Links Außen", doch im Moment stehe ich weder links noch rechts, sondern einfach daneben. Versprechen kann ich: ab Oktober ist der wirkliche "Links Außen" wieder da.
Seine Finger rasten über die Tastatur. Die Anschläge waren heftig und jeder Buchstabe schrie förmlich seinen Schmerz hinaus. Der Rauch im Zimmer und die Nebel in seinem Hirn wurden immer dichter. Nach einem heftigen Hustenanfall stand er auf, ging in die Küche und schenkte sich den wahrscheinlich zwanzigsten Kaffee ein, schwarz und kräftig, was das Zittern seiner Hände jedoch nur unmerklich verstärkte. Gedankenlos, unfähig sich zu konzentrieren, blickte er aus dem Fenster.
Plötzlich musste er lächeln. Er dachte an gestern Vormittag und seinen Sarkasmus, der natürlich die Situation nicht besserte, aber auch nicht merklich verschärfte. Sie war am Magistrat, um das Schulstartgeld auf die Power-Card aufladen zu lassen. Als sie nach Hause kam, fragte sie, ob es neben der Power-Card noch eine Familien-Plus-Card gebe. Seines Wissens nicht, gab er zur Antwort und konnte es sich nicht verkneifen gleich wieder einen Hieb auszuteilen: "Das mit Familie trifft ja ohnehin nicht mehr zu." Sie blickte zwar kurz auf, gab jedoch keine Antwort.
Tags darauf.
Sein Handy meldete sich. Sie ruft an, war sein erster Gedanke. Sein Puls beschleunigte sich. Er begann Sätze zu formulieren, wie zum Beispiel: "Bussi, komm bald, ich muss Dir was erzählen." Es war nicht sie. Ohne sich zu melden, legte er das Telefon auf den Tisch zurück.
Seine Gedanken begannen zu springen. Ihm fiel ein SMS ein, das er zufällig auf ihrem Handy gelesen hatte. Der Text war nichts Aufregendes, eine Mitteilung von G. an einem Sonntag, dass er auf irgendeinem so und so viel Meter hohem Gipfel sei. Allein das Ende dieser Mitteilung verstand er nicht: "vy 88" stand da. Damit konnte er beim besten Willen nichts anfangen. Zuerst wollte er sie fragen, was das zu bedeuten hat, doch dann war er zu feige, grübelte jedoch den Rest des Tages darüber. Jedes Mal in der folgenden Nacht, wenn er wie immer regelmäßig aufwachte, war es wieder da, dieses "vy 88".
Mit "vy 88" wurde er morgens wach. Sie war schon weg zu ihrer Arbeit und tat ihm leid. Jeden Tag um halb sechs aufstehen, dass würde er nur kurze Zeit schaffen, dachte er sich. "vy 88" verdrängte das Mitleid.
Nachdem er mehrere Zigaretten geraucht, wenige Schlucke schwarzen, heißen Kaffees getrunken und die Zeitung gedankenleer durchgeblättert hatte, ging er zum Computer um nachzusehen, ob Emails gekommen waren. Während er wartete und gedankenverloren aus dem Fenster in den dunkelgrau, regenverhangenen Septembermorgen starrte, blitzte es. Nicht draußen am Himmel, nein, das Gewitter in seinem Gehirn entzündete einen Gedankenblitz.
Er formulierte es laut und wiederholte es, geradeso als wollte er sicher gehen, es ja nicht zu vergessen. Nach der Wiederholung war er sich sicher. G. ist Funker. Und Funker haben Abkürzungen. Hastig öffnete er die Internet-Suchmaschine und tippte: "Amateurfunkabkürzungen". Das erste Ergebnis war enttäuschend und nicht zielführend. Zurück zur Suchmaschine. "Ruhig bleiben", dachte er sich, "dir rennt nichts davon". Er begann die Kurztexte der Suchergebnisse zu lesen. Beim neunten Treffer wurde er fündig. http://www.amateur-funk.de/Dateien/abk.htm, das wars.
Während die Seite geladen wurde zündete er sich eine Zigarette an und merkte, dass eine andere noch im Aschenbecher glühte. Auch er glühte.
abt: ungefähr
fb : ausgezeichnet
weiter, weiter. Endlich:
vy: very – sehr, bzw, viel oder viele.
Okay, hastig scrollte er weiter zu den Zahlen.
55: viel Erfolg
73: viele Grüße
Und dann:
88: Liebe und Kuesse (das ist jetzt Original).
Ihm wurde kalt, er wusste, dass er verloren hatte.
Fortsetzung folgt.