2004-11-11
Soll an Europas Wesen die Welt genesen?
Gedanken zu sicherheitspolitischen Vorstellungen in der linkeren Hälfte unserer Gesellschaft
Gemeinsam mit ATTAC-Kärnten und dem Bündnis für eine Welt/ÖIE hat kärnöl seit Dezember 2003 einige kritische Veranstaltungen und Beiträge zur EU-Verfassung veranstaltet bzw. publiziert, Näheres findet sich unter:
kärnöl-Akademie: ESF Paris mit Bernhard Obermayr
Der Gott der EU-Verfassung von Ulrich Duchrow
Ernährungssouveränität ins Herz der Europäischen Verfassung von Heike Schiebeck
Staatsfeiertag im Land der Hämmer von Walther Schütz
Friedensmacht EU.ropa mit Boris Lechthaler
'EU-Verfassung' alles paletti? von Walther Schütz
Fakt: Die Militarisierung der EU ist im laufen
Ein Kernelement des neuen EU.ropas, das sich da herausbildet, ist seine militärische Achse. Dies wurde lange bestritten, aber allmählich ist die Katze aus dem Sack. So bei der letzten Kärnöl-Veranstaltung vom 27. Oktober „Friedensmacht EU-ropa“ mit Boris Lechthaler und NR Walter Posch (SPÖ). Die Militarisierung der EU abzustreiten gelingt nicht mehr angesichts der gesetzten Fakten (konkrete Aufrüstungsschritte) und der eindeutigen Vorschriften in der drohenden EU-Verfassung. Hier ein paar Zitate:
„Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.“ (Art. I-41, 3) „Die Mitgliedstaaten stellen der Union für die Umsetzung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zivile und militärische Fähigkeiten als Beitrag zur Verwirklichung der vom Ministerrat festgelegten Ziel zur Verfügung.“ (Art. I-41, 3); „Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ... sichert der Union eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Fähigkeit zu Operationen“ für „Missionen außerhalb der Union“ (Art. I-41, 1); „Der Rat kann zur Wahrung der Werte der Union und im Dienste ihrer Interessen eine Gruppe von Mitgliedstaaten mit der Durchführung einer Mission (Militärmission, Anm. d. Red.) im Rahmen der Union beauftragen.“ (Art. I-41, 5); Keine Bindung an ein Mandat des UNO-Sicherheitsrates (Art. I-41, 1); „Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung“ - „Bekämpfung des Terrorismus ... unter anderem auch durch Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet.“ (Art. III-309, 1)
Und auch bei den Grünen, denen man ein besonderes Naheverhältnis zum Pazifismus nachsagt, ist nichts mehr, wie es manche grüne BasisaktivistInnen sehen wollten: Der Bundesvorstand tritt mittelfristig für die Abschaffung der österreichischen Neutralität und eine gemeinsame EU-Sicherheitspolitik ein.
Die Ideologie vom besseren EU.ropa
Das Erstaunliche ist, dass diese Herausbildung einer Supermacht EU bei vielen aufgeklärten und durchaus kritischen, z.T. sogar friedenspolitisch engagierten Menschen nicht auf Widerstand stößt. An diese Teile der „Zivilgesellschaft“ möchte ich hiermit einige kritische Fragen zu „Sagern“, „Grundannahmen“ etc. zu dem sich bereits seit einigen Jahren abzeichnenden sicherheitspolitischen Konstrukt stellen:
1) Warum ist bei euch die Handlungsfähigkeit der EU in außen- und militärpolitischen Dingen so hoch im Kurs, was ist so vorteilhaft an der Überwindung des Einstimmigkeitsprinzips? Handlungsfähigkeit ist ja überhaupt kein positives Kriterium. Die Frage ist, worin das Handeln besteht. Außerdem: Wenn die EU angegriffen werden würde (!), könnte man die Einstimmigkeit rasch herstellen. Dramatisch wird es nur bei Interventionen etc., Beteiligung an Kriegen etwa im Nahen Osten ...., da würde sicher nicht so leicht Einstimmigkeit und damit Handlungsfähigkeit hergestellt, aber das wäre gut so.
2) Warum kritisiert ihr an der EU-Verfassung nicht vor allem einmal, dass keine Bindung an ein UN-Mandat vorgesehen ist? „... gemäß den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen ...“ heißt eben nicht im Rahmen der Satzung der Vereinten Nationen. Eine solche Bindung würde die Verteidigung natürlich ermöglichen, würde aber - siehe oben - Interventionen verbieten!!!!
3) Warum eine Militärmacht EU neben der USA? Natürlich leiden wir alle an der Arroganz des einen großen Players, aber was wäre besser an einer zweiten Militärmacht? Sind wir EuropäerInnen etwa die besseren Menschen, hat der US-Kapitalismus andere Interessen als der EU-Kapitalismus? Beide müssen - solange das System geschluckt wird - dessen Gesetzmäßigkeiten (Wachstum, Profitrate, Absatzmärkte, Rohstoffe, Investitionsmöglichkeiten ...) befolgen. Da einen Unterschied zu den USA herauszufiltern heißt auf die nationalistische Falle hereinzufallen (an Europas Wesen soll die Welt genesen): das ist Arroganz, das ist keine Kritik an der US-Politik, sondern Antiamerikanismus. Das sympathischere Erscheinungsbild der europäischen Staaten ist nicht der Tatsache geschuldet, dass sie besser wären, sondern dass sie (eben bis zum Entstehen einer neuen Supermacht EU) kleiner sind!!!!!! Und selbst diese kleinen Mächte tun das Schlechtestmögliche (Interventionen Frankreichs in Afrika ....), von den Verbrechen der Vergangenheit ganz zu schweigen!
4) Aber die USA haben so ein fundamentalistisches Sendungsbewusstsein? Haha, gerade das Gerede ist der Beweis dafür, dass eben dies AUCH das Problem der sich neu herausbildenden Nation EU ist. So ist der sozialere Charakter das Ergebnis einer historischen Entwicklung, vielfach blutig erkämpft von der ArbeiterInnenbewegung, gegen die Eliten Europas errungen. Und gerade die Politik, die von der EU betrieben wird und worauf die ganze Binnenmarktlogik hinausläuft (nochmals sanktioniert durch eine allfällige "Verfassung") zeigt, dass alles auf einen Abbau aller sozialer Errungenschaften hinausläuft. Und etwa innerhalb der WTO sind es geraden die beiden - USA und EU - die die Hauptakteure einer Brutalopolitik sind und in fast allen Punkten übereinstimmen.
5) Den militärisch-industriellen Komplex der EU wollt ihr demokratisch kontrollieren? Mag schon sein, dass sich in der EU nach etlichen weiteren Schritten halbwegs bürgerlich-demokratische Verhältnisse einstellen, Verhältnisse, die an das US-amerikanische Verfassungssystem heranreichen. Derweil haben wir maximal einen kleinen Schritt in diese Richtung. Ungeachtet der Frage, wie wahrscheinlich weitere demokratische Reformen in absehbarer Zeit sind (Voggenhuber tut ja so, als ob eine Verfassungsverbesserung alle paar Jahre stattfinden würde - absurd, eine Verfassung ist eine FESTSCHREIBUNG!!!!!), zeigt es aber gerade das Beispiel der USA: Eine demokratische Kontrolle ist überhaupt keine Garantie für ein friedliches Verhalten. Und auch da kommt wieder der Antiamerikanismus der Gutmenschen*) zu tragen: Leute, die im halbautoritären Gebilde EU leben, unterstellen mit dem Demokratieargument, dass die USA keine bürgerliche Demokratie wären!!!
Nebenbemerkung: Bereits jetzt sind die diversen nationalen militärisch-industriellen Komplexe von deren nationalen Parlamenten in Frankreich, Großbritannien ... kontrolliert. Fehlentwicklungen könnte – wenn das Argument von der demokratischen Kontrolle schlüssig wäre – ja bereits auf dieser nationalstaatlichen Ebene ein Riegel vorgeschoben werden. Wenn aber auf dieser Ebene der militärisch-industrielle Komplex kaum in den Griff zu bekommen ist, um wie viel weniger Kontrolle wird es auf einer EU-Ebene geben, auf der ja auch hinkünftig die formellen demokratischen Regeln unterentwickelt bleiben werden?
Resümee und Ausblick:
Ich bin der Meinung, dass sich Fraktionen der Grünen, der Sozialdemokratie, Teile der NGO-Szene, der Zivilgesellschaft mit ihren Visionen auf einem extrem gefährlichen Eis bewegen. Vielleicht ein Reflex mancher Linker bzw. „Alternativer“ auf das Bild ihrer Gegner von den Chaoten, die immer ge-gen jedes Projekt seien? Das Ganze erinnert sehr an die zunehmende Akzeptanz des preußischen Militarismus durch die lange als "vaterlandslose Gesellen" verteufelte Sozialdemokratie vor dem 1. Weltkrieg, die ja vielfach mit fliegenden Fahnen in das Lager der Kriegstreiber überwechselte.
Der Verdacht liegt nahe, dass es sich bei dem "Sicherheitsprozess", wie wir ihn etwa bei Teilen der Grünen beobachten können, um eine Außenprojektion handelt: Die Widersprüche des Kapitalismus kann (oder will?) man nicht bändigen. Der in Verfassungsrang (EU-Verfassungsentwurf) oder in quasi-Verfassungsrang (WTO-Regime, NIZZA ...) festgeschriebene Neoliberalismus macht auch juristisch kaum mehr was möglich. Statt nun in einer solchen Situation Widerstand zu leisten, wird auf das Leiden und die Widersprüche des Kapitalismus mit Projektionen reagiert - und da geht es vor allem um das Herausstilisieren einer bösen, materialistischen (Öl!!!) USA und eines guten, sozialen, kulturell höher stehenden, demokratischeren Europa. Da wird fast schon biologisiert, auf jeden Fall aber ethnisiert. Das sind auf einer strukturellen Ebene ähnliche Prozesse wie im Antisemitismus. Der Kapitalismus kann nicht mehr verstanden werden (weil als unveränderbar erlebt), was bleibt ist der WAHN.
*) Gutmenschen: Leute, die NUR von der moralischen Seite her denken und gesellschaftliche Zwänge, Funktionsweisen und die Notwendigkeit zu ihrer Überwindung ... zu wenig mit einbeziehen.
P.S. An dieser Stelle erfolgt meist die Frage nach Alternativansätzen. Hier ein paar Stichworte: Natürlich ginge es um positive Visionen (verbindliche Bindung an UN-Mandat, Neutralität ...), gälte es anzusetzen an strukturellen Ungerechtigkeiten, ... Aber wenn es schon - wie Grüne und Sozialdemokraten immer behaupten - nur mehr darum geht, Realpolitik zu betreiben und einfach Schlimmeres zu verhindern und wenn wir schon so schwach sind und den militärisch-industriellen Komplex nicht verhindern / niederkämpfen können, dann sollten die Ziele zumindest sein:
1) Keine Handlungsfähigkeit für die "Macher", möglichste Zersplitterung der militärischen Kräfte, ... und vor allem: Keine demokratische Legitimation für den Militarismus!
2) Da, wo Positives bereits besteht – etwa die österreichische Neutralität – ist dies zu verteidigen!