2006-11-09
Das erkenntnisleitende Interesse
Eine Offenlegung des Standpunktes, von dem aus die Argumentation entfaltet wird
Nach dem „ersten Blick" auf die Welt ein paar Anmerkungen zu meiner Position:
Wer heute die Zeitungen liest, der wird vor allem bei den etwas „seriöseren" Blättern wie z.B. der Kleinen Zeitung eine Grundtendenz merken:
Den Appell an die Vernunft. Etwa in bezug auf die Budgetkonsolidierungsmaßnahmen der letzten Jahre wurde jede Streichung im Sozialnetz damit begründet, dass es nicht anders ginge. Getan müsse werden, was getan wird, damit man den Sozialstaat erhalte.
Vielleicht hat es was mit der persönliche Biographie zu tun – ich bin ein Kind des Wirtschaftsbooms (Geburtsjahr 1958) – dass ich die geänderten Verhältnisse so stark merke. Nichts ist mehr da vom ökonomischen Optimismus der Jahrzehnte, die meine Jugend prägten. In den 70er Jahren, als 14-Jähriger, war der Schock für mich die Umweltzerstörung. Da war der Eindruck, den ich hatte: Wir haben ZUVIEL Wohlstand. Und obwohl heute das Ökosystem wesentlich stärker bedroht ist, ist vorwiegend die Rede davon, dass wir uns nichts mehr leisten können. Zunächst einmal müsse die Wirtschaft wachsen, vorher muss überall eingespart werden: Bei den Pensionen (hackeln womöglich demnächst bis 67!!!), bei der Gesundheitsversorgung, bei den Öffentlichen Verkehrsmitteln ... Und jede/r muss lebenslänglich lernen, wenn es geht schon ab dem 4. Lebensjahr, rund um die Uhr, damit man einen Job habe – irgendwann einmal ... ach ja, und für den muss man zunächst einmal als Voluntäääär kostenlos hackeln, ...
Dazu passend der Kommentar von Hubert Patterer, der im folgenden Zitat Hegels Spruch von der „Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit" verwendet:
„In einer rauen Wettbewerbswelt hört man Klassen-Vokabular wie „gerechtere Verteilung des Wohlstands" gern. Als Kanzler wird Gusenbauer sagen müssen, wie das geht. Er wird die Einsicht in das Notwendige lehren müssen, auch nach innen."
|
Eine Grafik, die richtig ist - und die, indem sie die herrschenden Kategorien („Finanzierbar" ...) verwendet, so gesehen auch wieder falsch ist (aber dazu mehr zu einem späteren Zeitpunkt der Lehrveranstaltung)
|
Die Grafik zeigt bei den roten Balken ein einfaches Phänomen: Wenn nicht ein großer Krieg oder andere Katastrophen kommen kann man selbst bei konservativer Schätzung davon ausgehen, dass die Produktivität pro Jahr um 2% wächst – und zwar quer durch alle Wirtschaftssektoren: Vom Friseur über die Finanzbeamte, von der Lehrerin bis zum Industriearbeiter. Das bedeutet, dass wir 50 Jahre später um 1,7 mal mehr pro Stunde prduzieren als heute. So gesehen bedeutet dies, dass wir uns ein viel besseres Leben leisten könnten als heute: Entweder mehr haben oder - was angesichts des ersten Blicks auf den Planeten nahe liegender wäre, weniger arbeiten könnten. Oder andersrum: Eine Verschiebung in der Alterspyramide könnte locker vom Potenzial für ein gutes Leben her ausgeglichen werden, sämtliche Pensionsreformen wäre eine Bösartigkeit.
Wenn nun in einer solchen Situation von der Notwendigkeit zu Einschränkungen die Rede ist, dann bedeutet das, dass da was nicht stimmt! Es gibt keinen SACHzwang zum Sparen (außer den aus ökologischen Gründen, aber davon ist ja nicht die Rede, wenn die Notwendigkeit der Einschränkung gepredigt wird.
Wenn es nicht an den materiellen Voraussetzungen für ein gutes Leben mangelt, dann sind es gesellschaftliche Strukturen, die verhindern, dass das gute Leben vom Potenzial zur Realität wird. Und damit ergibt sich „... der kategorische Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung).
Damit haben wir zwei Analyse- und Handlungslogiken / Sichtweisen vor uns:
Eine Logik, die von der Notwendigkeit des Bestehenden ausgeht, die Kategorien, auf denen es aufbaut, nicht hinterfragt. Man müsste ergänzen: Nicht einmal hinterfragen kann. Es ist die Logik der Aufklärung, die immer vom Einzelnen, vom Individuum ausgeht. Die Gesellschaft kommt höchstens als Summe der Individuen, nicht aber als eigene Qualität vor. (So, als ob man ein Auto aus seinen einzelnen Schrauben, Trägern etc. erklären könnte und nicht aus deren Zusammenwirken, die damit eine eigene Qualität etwickeln). Dass etwa „Arbeit", Staat, Entwicklung ... gesellschaftliche Kategorien sein könnten, die aus der (kapitalistischen) Form des Zusammenwirkens der Menschen entstehen, kommt gar nicht ins Blickfeld. Was bleibt ist die Anpassung, das vernünftige Sich-einfügen in die Verhältnisse. Das ist die Freiheit des Hegel, das ist die Aufklärung. Sie überwindet zwar die alten Götter, aber nur, um an ihre Stelle notwendigerweise neue Fetische zu setzen. Und wenn die Fetische diktieren, dass man leiden muss, auch wenn noch so viel Potenzial für Wohlstand vorhanden ist, dann gilt es eben zu leiden. Dann muss man sich z.B. zu Tode konkurrenzieren, dann muss man arbeiten ... mehr.
Wenn am Ende des "1. Blicks auf die Welt" gefragt wird, ob die Ökonom/innen „spinnen", so findet sich hier die Antwort: Sie spinnen nicht, wenn man die inneren Notwendigkeiten der Kapitalverwertung heranzieht. Sie „ticken aber nicht richtig", wenn man eine andere Logik als Kriterium hat:
Diese andere Logik, geboren aus dem Bestreben, uns selbst aus unserem Dasein als erniedrigte, geknechtete Wesen zu erlösen (etwas, das wir nur selbst tun können und für uns kein Kaiser, kein Tribun, wie es in einer alten Volksweise heißt) muss aber fragen, woher es kommt, dass es uns nicht so gut geht wie es könnte. Diese andere Logik kann gar nicht anders als versuchen, die Fetische zu überwinden. Die herrschende Logik und die sie konstituierenden Kriterien sind zu hinterfragen. Alle Begriffe, die unser Leben ausmachen, sind zu delegitimieren und auf ihre Genese hin abzuklopfen. Warum müssen wir Arbeit haben statt dass wir die Bedürfnisse mit möglichst wenig „Arbeit" befriedigt haben wollen? Was hat das nun wiederum für die „Bedürfnisse" zur Folge, wenn wir in einem solchen „Arbeitssystem" sind? Was bedeutet dies für unseren Blick auf die Anderen, die diese Arbeit noch nicht so verinnerlicht haben? usw.usf.
.
.
.