2006-03-01
Ethno-Konflikte
Theoretische Ansätze in der Entwicklungspolitik
Im Folgenden einige insbesondere für die entwicklungspolitische Szene grundsätzliche Anmerkungen von Robert Kurz als theoretischer Background zum Beitrag "Implosion des Nationalismus"
Postmoderner Diskurs und neue Rechte
von Robert Kurz
Tragischerweise ist die antikoloniale und emanzipatorisch gemeinte entwicklungspolitische Debatte ebenso wie der
philosophiekritische postmoderne Diskurs durchaus mitbeteiligt an der Legitimation des Ethnizismus. Die Paradoxie liegt darin,
dass sowohl in der Kritik wie in der Befürwortung des "Eurozentrismus" und der westlichen Rationalität die indirekte
Rechtfertigung der ethnizistischen Barbarei gefunden werden kann. Die Krise der bisherigen (selber noch theoretischen, in
Warenkategorien denkenden) Kapitalismuskritik wurde noch nicht produktiv, sondern regressiv verarbeitet.
Betonung der Differenz
So trat an die Stelle der Sozialkritik die Betonung der soziokulturellen "Differenz", des Rechts auf Eigenständigkeit in
geschlechtlicher, ethnischer, religiöser usw. Hinsicht. Jeder sollte irgendwelchen "Roots" nachspüren, angeblich authentische
Kulturen und Traditionen sollten ohne eurozentristische Verfälschung und Diffamierung belebt werden und nebeneinander
koexistieren ("Political Correctnes", "multikulturelle Gesellschaft"). Genau in dieselbe Kerbe schlug eine Abstraktionsebene höher
der "dekonstruktivistische" Diskurs postmoderner Philosophen, in dem der abstrakt-universalistische westliche Rationalitätsbegriff
zugunsten des Einzelnen und Besonderen, des Regionalen und einer "situativen Ethik" kritisiert wurde. Alle diese Ansätze sind
dankbar von den neuen Rechtsradikalen aufgegriffen und im Kontext der Krise politisch bzw. postpolitisch besetzt worden.
"Differenz" und "Besonderheit", nunmehr auch reklamiert für die vermeintlich "eigene" europäische, weiße, deutsche, fränkische,
schottische usw. "Identität", mobilisierten auf verschiedenen Ebenen statt kultureller Koexistenz konkurrenten Ausgrenzungshass,
rassistische und ethnizistische Aggression. In der Peripherie des Weltmarkts wurden dieselben Ideen bereits zum Ferment des
ethnoreligiösen Bürgerkriegs, teilweise geschürt von ehemaligen Linksintellektuellen, die sich zu ihrer ethnonationalistischen
"Identität" bekehrten.
Die Realisten
Demgegenüber hat sich (nicht erst seit dem 1. Golfkrieg) eine intellektuelle Fronde militanter Westler und offener
Eurozentristen gebildet, von denen abendländische Universalvernunft und Marktwirtschaftsdemokratie zum Höhepunkt der
Menschheitsgeschichte stilisiert und jeder Sozial- und Kapitalismuskritik entkleidet werden. Der ehemalige Linkstheoretiker Andre´
Glucksman feiert die globale kapitalistische Rationalität, ehemalige entwicklungstheoretische Weltmarktkritiker wie Dieter
Senghaas und Ulrich Menzel fordern die Krisenökonomien des Südens zu einem völlig illusionären "Lernen von Europa" auf und
propagieren sogar eine Art westlicher Treuhandverwaltung in den globalen Krisengebieten. Selbst ein Teil der Intellektuellen in der
ehemaligen Dritten Welt verbeugt sich vor dem Götzen des Marktprinzips und erstirbt in Selbstkritik, um die Sozial- und
Ökokatastrophen nur noch auf eigene innere Fehler und Versäumnisse statt auf die Zwänge des Weltmarkts zurückzuführen (so
jüngst Axelle Kabou). Hinter dieser Abwehr des ethnoreligiösen Fundamentalismus im Namen der Marktvernunft steht eine
ungeheure Ignoranz gegenüber der Krisenlogik des globalisierten Kapitals, die den vordergründig bekämpften Erscheinungen der
Barbarei selber Nahrung liefert, weil sie eine weiterführende Kapitalismuskritik verweigert. Überall auf der Welt spalten sich so die
Gesellschaft wie ihre intellektuelle Sphäre in Fundamentalisten und platte "Realisten".