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Clemens Scharf

Mimenda

Die Handlungen sind die Frucht der Gedanken. Waren diese weise, so sind jene erfolgreich.

[Baltasar Gracián, 1601 - 1658]

Zuletzt erschienen:

2013-05-02: Der Veg ist das Ziel
2010-07-10: Höhlengleichnis nass reloaded
2009-05-22: Also starb Zoroaster
2009-03-17: Berliner Impression
2009-02-05: traum der vernunft

Sämtliche Beiträge

2010-07-10

Höhlengleichnis nass reloaded

Und ewig spielt die Musi...

Stellen wir uns vor, die Menschheit wäre auf einem Luxusliner unterwegs, der sie nach Utopia bringen soll. Weil das Schiff doch nicht groß genug ist und die Vorräte nicht für alle reichen, weil die in der ersten und zweiten Klasse nicht teilen wollen, setzen sie einen Teil der dritten Klasse in Rettungsboten aus, die sie aus Gründen der Menschlichkeit mit Hartzwieback und Trinkwasser ausrüsten und an das Mutterschiff angebunden auf Distanz halten, damit die besseren Passagiere bestimmen können, was noch zu erübrigen ist. Schließlich ist das Ziel ja unbekannt, man ist sich bloß sicher, dass es weit weg liegt und nur unter enormen Strapazen zu erreichen sein wird.

Einigen geht das gegen das Gewissen: sie zimmern sich aus den verwaisten Holzbänken der Dritten Klasse ein eigenes Boot, auf das sie Nutzpflanzen und ein paar Tiere mitnehmen. Andere versuchen vehement, jene umzustimmen, die das Sagen haben, damit sie allen eine Fastenzeit verordnen, um mit den verfügbaren Mitteln haushalten und die expedierten Menschen dritter Klasse wieder an Bord holen zu können. Wieder andere arbeiten an der Vorratsplanung, prangern die Verschwendung an und mahnen zum Maßhalten. Aber jene, die das Sagen haben, lassen sich nicht umstimmen. Denn die Sterne bedeuten ihnen, es sei nicht so weit bis zur rettenden Insel, als dass man sich wirklich einschränken müsste.

Dass sie aber von der Sternenperspektive aus in einer riesigen Badewanne schwimmen, in der keine Insel ist, will keiner von ihnen wahrhaben. Zu sehr sind sie in das Spiel ihres Lebens vertieft. Zu sehr sind sie von ihren mit der Klasse verwobenen Werten überzeugt und den an sie geschmiedeten Ideen, die sie alle aus der Deutung der Sterne ableiten. Was sie aber für den Horizont zu halten gewohnt sind, ist bloß der unendlich hohe Rand der Wanne, in der sich moderne Leuchtdioden als Sterne vorspiegeln.

Daher denken sie verschieden, obwohl sie doch "mehr oder minder" in einem gemeinsamen Boot sitzen. Und jeder handelt, wie er es für richtig hält. Sie reden viel. Das halten sie für fruchtbar, obwohl zwar einige sich durch den anderen überreden, aber nur sehr wenige sich überzeugen lassen. Wovon auch? Denn ihr Reden ist genauso nutzlos wie ihr Handeln und Denken, da sie alle von denselben falschen Voraussetzungen ausgehen.

Da sie sich aber selbst immer wieder von der Richtigkeit ihrer falschen Ideen überzeugen müssen, bauen sie Denkzäune auf, jeder einen anderen. Und es spielt keine allzu große Rolle, dass diese recht durchlässig sind, weil ja die Gedanken allesamt falsch sind. Aber der Denkzaun bietet Schutz vor der schrecklichen Ahnung, die einen beschleichen mag, wenn man - aus ihm heraustretend - an Deck steht und zum Horizont und zu den Sternen blickt.

Und die gern herausgestrichenen Unterschiede zwischen den hartleibigen Befehlshabern, den sanftlebenden Passagieren erster und zweiter Klasse, den übrig gebliebenen Drittklassigen, der vierten deklassierten Klasse im Boot und den Alternativen auf der Arche, die sich in Abneigung einer Klasse gegen alle anderen zeigt, sie sind das probate - wenngleich unbewusst selbstverordnete - Mittel, sich weiter über Wasser zu halten und den Mut, den man zur Erkenntnis erst einmal verlieren müsste, tagtäglich - allen objektiven Widrigkeiten zum Trotz - neu aufzubringen.

Ein Mut der Verzweifelten, der sich mit Pauken und Trompeten auf Trab hält...

Reaktionen Auf den Beitrag reagieren

Hans Peter Pirker, 2010-07-12, Nr. 4865

Na klar! Die Angeketteten sind immer die Geankerten.

Walther Schütz, 2010-07-14, Nr. 4867

Genialer Beitrag über unsere gesellschaftliche Lage. Danke, Clemens!

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Sämtliche Beiträge:

2013-05-02: Der Veg ist das Ziel
2010-07-10: Höhlengleichnis nass reloaded
2009-05-22: Also starb Zoroaster
2009-03-17: Berliner Impression
2009-02-05: traum der vernunft
2009-01-05: Verdrängung - Widerstand - Übertragung
2008-12-08: An den Freund aus der Jugend
2008-02-03: (M)eine Beiz in Wien
2008-01-25: Amphorismen IV
2007-12-02: Amphorismen III
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2007-09-30: Wertes bewahren, Unwertes entäußern
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2007-09-12: Bells, I can hear bells!
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2007-09-06: Ein Schelm, wer Übles dabei denkt
2007-09-05: Aktionismus - Nachschlag
2007-09-04: Aktionismus
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2007-06-20: Die Liebe in den Zeiten von Coca Cola
2007-05-08: RINGEL-REIHEN
2007-03-24: Dead Poet Society
2007-02-06: "Ethik der sexuellen Differenz" von Luce Irigaray
2007-01-09: kinderseelenallein
2007-01-05: Migration in Gegenrichtung
2006-09-16: Der Papst vor Wien

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Kleine Geschichte der Hausbesetzungen in Kärnten/Koroška Veranstaltet von: Squats statt Kärnten
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