2009-01-05
Verdrängung - Widerstand - Übertragung
Eine Krise für alle und keinen
Verdrängung - Widerstand - Übertragung
Angesichts der sogenannten Krise drängt sich mir vor allem der Gedanke auf: warum deren Analytiker in ihrer übergroßen Mehrheit an der Oberfläche bleiben und an den Symptomen herumdoktern, ohne die Krankheit zu diagnostizieren. Zunächst dachte ich, sie wollten nicht zugeben, dass es eine ist. Mittlerweile bin ich überzeugt, dass sie es nicht zugeben können.
Sogenannte Krise zum einen deshalb, weil ich das Finanzielle nicht als wesentlichen Ausdruck des Menschen begreife. Sicher sind Massenentlassungen die Folge. Insofern bezieht sie sich auf das soziale Gefüge, das sich in der Wahrnehmung des Einzelnen ja zunehmend über und durch Arbeit definiert.
Aber Krise ist mehr als das. Von ihrer Wortbedeutung her gesehen ist sie "Entscheidung" oder "entscheidende Wendung". Von Entscheidungen wird man sprechen dürfen, egal, ob sie zu etwas führen. Aber von entscheidenden Wendungen wird man schweigen müssen. Warum?
Weil wir - als Individuum und als Kollektiv - das verdrängen, was uns beschwert!? Ich kann es an mir selbst feststellen, wenn ich allein meine Arbeit betrachte, die ich so zu verrichten suche, als sei sie langfristig angelegt und als hätten meine Ansprüche an Qualität einen vom Arbeitgeber mitgetragenen Stellenwert, obwohl ich genau weiß oder es mir doch wenigstens bewusst machen kann, dass ich mir im Grunde etwas vormache.
Natürlich gibt es Menschen in meinem Arbeitsumfeld, Mitarbeiter wie Chefs, die mit ähnlichen oder gleichen Vorstellungen tätig sind. Aber alle unterliegen wir - als Menschen, die wir in unserer Arbeit nicht zuletzt etwas von unserem unverwechselbaren Wesen abbilden wollen - dem selbstauferlegten Diktat der immerwährenden (Neu-)Erschaffung unseres Arbeitsethos', das durch die Entscheidungen der Arbeitgeber, die keine entscheidende Wendung bewirken (etwa zur Verwirklichung dieses Ethos durch bessere Arbeitsbedingungen), in Frage oder mindestens auf die Probe gestellt ist.
Wir verdrängen insofern ebenso wie jene, die dazu gedrängt sind, Entscheidungen zu treffen, weil es die sogenannte Krise - und irgendeine ist immer zu Hand - so will. Mit dem Unterschied freilich, dass wir keine Entscheidungen zu fällen haben (oder ihnen privat oder beruflich aus dem Weg gehen). Das tun dann die "Entscheider" für uns. Da mögen die Quartalszahlen ermutigen und genügend liquide Mittel vorhanden sein, aber entlassen wird man müssen. Es ist ja schließlich Krise.
Dass diese Argumentation emotional unschlüssig ist, darf nicht ins Bewusstsein gelangen. Zahlen, Daten, Fakten, (ZDF): sie allein gelten; sie sind das Losungswort, das die Seele von der "Last der Verdrängung" befreit und zur "rationalen" Entscheidung erst befähigt. Denn aus diesen, seien sie nun Ist-Zahlen, prognostizierte oder bloß gefühlte, ergeben sich die unternehmerischen Entscheidungen wie von selbst. Moderne Zahlenmystik, die vom Märchen nichts wissen will, weil sie per definitionem aufgeklärt ist.
Das "System" treibt uns vor sich her, und wir rationalisieren Entscheidungen oder bloße innere oder äußere Haltung zur Freiheit empor, obwohl wir in Wahrheit entweder un- oder vorbewusst fremdbestimmt handeln oder sogar willentlich als Instrument fremden Willens dienen. Unser eigener Wille mag da an sich ein freier sein, aber stark ist er nicht.
Wird uns das vorgehalten, wollen wir davon nichts wissen oder reagieren sogar abweisend, wenn uns ein Kritiker zu hart ankommt. Dieser fordert zwar keine Wendung, sondern mahnt zuallererst zur Einsicht. Aber selbst das stimmt uns schon missmutig oder bewirkt sogar Aggression, sobald er den Finger in der Wunde dreht.
Wir leisten Widerstand wider besseres Wissen, gegen uns selbst. Denn ebenso wie es mir nicht gelingt, die vollkommene Einsicht in nur zu offenbare Zusammenhänge so zuzulassen, dass sie mein unmittelbares Denken und Handeln entscheidend wendet, ist auch sonst niemand in der Lage, sich am eigenen Zopf aus jenem Sumpf zu ziehen, in dem wir uns wohl oder übel über Wasser halten.
Und weil wir keine Münchhausens sind und uns Utopie mehr als Unwort denn als reale Hoffnung gilt, schließt sich der Kreis, und wir übertragen die verbleibende virtuelle Hoffnung aus dem Kampf gegen das Absinken auf den Sumpf, der uns ja trotz allem irgendwie trägt. Als Zirkelschluss wäre das logisch leicht durchschaubar, aber als Teufelskreis ist er es nicht, weil der Sumpf so libidinös aufgeladen ist, dass dichter Nebel über ihm liegt.
Die zirkuläre Übertragung auf den Sumpf - sie wäre wohl psychologisch eine positive zu nennen - ergänzt die negative auf die Politiker und Manager, die uns "die (Nebel-)Suppe eingebrockt haben", welche wir solange zutraulich löffeln, wie uns nichts Übles schwant.
Natürlich ist das vereinfacht, und vor allem tilgt es ja die Schuld der "Verantwortlichen". Aber ich halte nichts von Schuldzuweisungen. Nicht weil der manifeste Balken im Auge des anderen immer gut als Ausrede passt, um die vielen reizenden Splitter im eigenen nicht wahrnehmen zu müssen, sondern weil wir uns alle gemeinsam der Verantwortung stellen müss(t)en, die wir gegenüber uns, unseren Kindern und Kindeskindern haben.
Zurückschauen hilft da nur, wenn dies mit einer hartnäckigen und bedingungslosen Selbstreflexion und -analyse aller einhergeht, die - wenn sie nicht vergeblich bleiben will - zu qualitativ anderem Handeln führen muss.
Die Hoffnung auf die Fortsetzung eines für uns erträglichen Leben im eigentlich unerträglichen ist indes Selbstbetrug, bei dem wir scheinbar umso begeisterter bei der Sache sind, je stärker der diffuse Druck unseres Gewissens (und nicht etwa des Über-ICHs) auf unser ICH wird.
Dieser kaum mit vollem Bewusstsein wahrnehmbare Riss geht nicht nur durch jeden Einzelnen hindurch, der die Gesellschaft bildet, sondern zugleich auch durch diese selbst, insofern sie ihr kollektives Gewissen durch nämlichen Selbstbetrug ruhig stellt. Es wäre demnach höchste Zeit, dass wir alle innehielten, um zunächst einmal bloß unser Sein zu reflektieren.
Aber das ist schon eine Utopie, zu deren Anbruch es wohl weit mehr benötigte als eine sogenannte Krise im Glaspalast der sogenannten Finanzwelt, in dem ein paar Schausteller - sozusagen zur allgemeinen Unterhaltung und zur Erheiterung vieler - mit Kieselsteinen jonglierten, wobei ein paar Scheiben im Parterre zu Bruch gingen.
Sie - und wir mit ihnen - nehmen diese Krise nicht ernst genug, wenn wir bloß nach dem Glaser rufen. Und wir nehmen sie zu ernst, wenn wir glauben, der Glaspalast sei die ganze Welt.
Wenn allerdings eines Tages mal so richtig Krise ist, wird es sich keiner mehr leisten können, nicht hinzusehen, zu hören oder zu gehen. Dann ist einmal Schluss mit lustig und mit den Entscheidungen. Dann gibt es eine Wendung. Die erlaubt uns auf kurze Zeit freien Blick. Aber auch diese wird nichts entscheiden, weil wir nicht fähig sind, sie freien Willens hervorzubringen.
Und daher trübt sich der Blick wieder und langsam aber sicher zieht Nebel auf über dem Sumpf und unserem schwachen Willen, der extern um die Freiheit bettelt, die er sich intern nicht zu nehmen weiß.