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2007-10-07

Amorbach

Oder: Der Stress wär' nicht nötig

Das Feriendomizil der Familie Wiesengrund Adorno
Amorbach

Wer keinen Ort hat, mit dem er das Eindrückliche der Kindheit verbindet, dem wird es nicht nur an Heimat fehlen, sondern auch zeitlebens an Ausdruck mangeln. Dies jedenfalls scheint der Geist des Odenwaldstädtchens Amorbach weiszusagen, dem ich gestern den lang gehegten Besuch machte. Für bestimmte Dinge muss Zeit sein. Zeit, die man oft schon erübrigt haben würde, sich aber nicht nimmt, weil sie noch nicht so reif scheint wie man selbst zu sein sich einredet. Man schiebt nicht auf, man hebt auf, kaum wohl der Würde wegen, die solch ein erster Augenblick haben sollte, sondern ob seiner Einmaligkeit.

Adornos Grab auf dem Frankfurter Hauptfriedhof besuchte ich zum ersten und bisher einzigen Mal am 14.1.2006, einem klirrendkalten sonnigen Wintertag. Frankfurt liegt geradezu um die Ecke. Daher fahre ich immer wieder einmal dorthin, etwa zum Einkaufen oder zum Besuch von kulturellen Events oder städtischen Festen. Den Besuch des Grabs aber hatte ich lange aufgeschoben, um ihn schließlich just an jenem prächtigen Tag zu vollenden und damit in sich und in mir aufzuheben mit all seiner Sonne und Kälte, samt der Person, die mich begleitete.

So auch Amorbach, jenes Städtchen, in dem der junge Adorno seine Kindheitseindrücke erlebte und dessen genius loci, wiewohl nicht ganz ungebrochen, ihn sein Leben lang begleitet hat. Jenes Städtchen, das man heutiger urbaner Sichtgewohnheit entsprechend wohl eher Dorf oder geringschätzig Kuhdorf nennen würde, was hat es noch mit jenem mittelalterlich anmutenden Idyll gemein, dem plötzlich das Licht der Moderne aufging?

    Jene Amorbacher Dämmerung jedoch, da ich als kleines Kind von einer Bank auf der halben Höhe des Wolkmann zu sehen glaubte, wie gleichzeitig in allen Häusern das soeben eingeführte elektrische Licht aufblitzte, nahm jeden Schock vorweg, der nachmals dem Vertriebenen in Amerika widerfuhr. So gut hatte mein Städtchen mich behütet, daß es mich noch auf das ihm gänzlich Entgegengesetzte vorbereitete.[1]

Das Behütete, das sich in der behutsamen Vorbereitung auf den Schock ausdrückt, der vom kindlichen Gemüt wie das Entzünden des Weihnachtsbaums oder einer Wunderkerze von einer sicheren Stellung heraus wahrgenommen und antizipiert werden kann als etwas Plötzliches, dem zugleich Erstaunen und Erschrecken, aber nichts wahrhaft Bedrohliches eingeschrieben steht, weil ja alles geborgen ist; der mitgeführte Gedanke, es machten solche Ereignisse, die sich in die Seele einprägen, das Ich stark genug für die Herausforderungen des Lebens in der Emigration im fremden oder im eigenen Land, er hat etwas sehr Warmes und Wahres, aber nicht minder Trauriges, ist er doch zugleich Vorspiel jener Sehnsucht nach der verlorenen Zeit, die sich in der Kritik an den Zuständen verströmt und im Widerstand gegen die eigene im Grunde zutiefst geliebte Welt vollenden muss.

Die fatalistisch-fatalen Nibelungen haben sich im Gemüte des jungen Theodor mit dem treuen Amorbach verschworen: Siegfried, der Sage nach unweit im Walde von Hagen erschlagen, der Main, der ihm zur Donau wird, in den derselbe Hagen den Kassandrakaplan schleudert, der als einziger überlebt. Und das Hämmern des Schmieds, der ihn an Mime erinnert haben mag, der ihm, den jungen musischen Helden, im Geiste das Schwerter- und Worteschmieden lehrt:

    Jeden Morgen ganz früh weckten mich die dröhnenden Schläge. Nie habe ich ihnen deshalb gezürnt. Sie brachten mir das Echo des längst Vergangenen. Mindestens bis in die zwanziger Jahre hinein, als es schon Gasolinstationen gab, hat die Schmiede existiert. In Amorbach ragt die Vorwelt Siegfrieds, der nach einer Version an der Zittenfelder Quelle tief im waldigen Tal soll erschlagen worden sein, in die Bilderwelt der Kindheit. [2]

Die Bilderwelt der Kindheit, sie muss auch eine Welt der Geräusche gewesen sein und eine der Gerüche, von welchen in Adornos Amorbachzeilen allerdings nicht die Rede ist. Solche Bilder haben eine eigentümliche Kraft, sind imagines dessen, was festgehalten ist, ohne je realiter dagewesen zu sein. Im Geräusch oder am Geruch aber, zumal unverhofft sich einstellend, ist ein so viel unmittelbarer Zauber, durch den die Vergangenheit mitsamt des in ihr gespeicherten Bilds in einer ungeahnten Lebendigkeit geradezu aus den Tiefen des Herzens hervorbricht wie feurige Lava aus einem Vulkan. Die Magie eines solchen Er-Innerns ist dabei gerade diese Eruption, die nichts mehr gemein hat mit der sorgfältig verwalteten Erinnerung unserer seelischen oder psychedelischen emporrationalisierten Photoalben:

    Trieb ich halbwüchsig allein durch das Städtchen im tiefen Abend, so hörte ich auf dem Kopfsteinpflaster die eigenen Schritte nachhallen. Das Geräusch erkannte ich erst wieder, als ich, 1949 aus der amerikanischen Emigration zurückgekehrt, um zwei Uhr durchs nächtliche Paris vom Quai Voltaire in mein Hotel ging. Der Unterschied zwischen Amorbach und Paris ist geringer als der zwischen Paris und New York.[3]

Etwas schon einmal Gehörtes, Empfundenes, das schlagartig klar macht, wo die eigene Mitte ist, womit man sich abfinden kann und womit nicht. Hier steht Entseeltes und Entwurzeltes gegen die Einheit von Geist und Körper in einer Kultur, deren äußerste Gegensätze noch mehr vereinigende Kraft haben als das gigantisch Wuselnde einer ins Nichts gepflanzten Metropole, die zwar Kulturprodukte hervorspült, aber keine unwillkürliche Er-Innerung des Mutterbodens gestattet, auf dem sie gedeiht. Weil sie keinen hat.

New York ist für Adorno wohl nicht viel mehr als ein geplanter Moloch, in der sich alles Bodenständige und Authentische auf Gedeih und Verderb der Lüge preisgibt, die sie ist, wenn sie selbst das Ungeplante zu planen, also zu verwalten trachtet:

    Bei aller Plausibilität aber ist das Gefühl eines Unwahren nicht ganz zu beschwichtigen: daß das Ungeplante zum Kostümstück seiner selbst, Freiheit fiktiv werde. Man braucht nur das synthetische Künstlerviertel von New York, Greenwich Village, mit der Pariser rive gauche aus vor-Hitlerischen Zeiten zu vergleichen. Dadurch, daß in jenem New Yorker Quartier Ungebundenheit als offiziell tolerierte Institution fortgedeiht, wird sie, was man auf amerikanisch phoney nennt [...][4]

Scharlatankultur könnte man auch sagen, eine, welche die Menschen, die sich in ihr als Kulturschaffende empfinden, darüber hinwegzutäuschen sucht, dass sie gerade dies nur von höheren Gnaden sind: indem man sie planhaft gewähren lässt, droht man ihnen zugleich mit dem Ende aller künstlerischen und kulturellen Geste, Schauspielerei und Zurschaustellung, das unweigerlich kommt, sobald sie kein Kalkül des Plans mehr ist, wenn sie zur Durchsetzung der Planinteressen keine Schuldigkeit mehr hinzutut.

New York als Inbegriff alles notwendigen Scheiterns von Angebern und Abenteurern, die in die Welt ziehen, um das Fürchten zu lernen: "Ein anderer ist als junger Geselle in die Welt gezogen, um sein Glück zu machen, ist auch mit vielen Riesen fertig geworden, hat aber doch in New York sterben müssen".[5]

Das alles nivellierende Amerika lehrt nicht nur das Fürchten, sondern es verschlingt auch gierig allen hohen Mut, den der einzelne Mensch gegen den demonstrativen Hochmut der Wolkenkratzer und Straßenschiffe aufzubringen vermag und dem er letzten Endes öffentlich erliegt oder an dem er subkutan zerbricht, damit er als Untoter rational weiterexistieren kann.

Die Gleichmacherei, der sich niemand entzieht, und sei er Emigrant bloß passager, sie impft den Menschen mit dem Virus der zwanghaften Begutachtung seiner eigenen kleinmenschlichen Umwelt und vernichtet in der Erinnerung selbst, was von dieser in naiver Bereitschaft noch als schön oder gut empfunden wird, zwingt zum Vergleich mit etwas zutiefst Eigenem, das sich dem kategorisch entziehen müsste, aber nach erfolgreicher Inkubation keine Kraft mehr dazu hat.

    Kommt man nach Amerika, so sehen alle Orte gleich aus. Die Standardisierung, Produkt von Technik und Monopol, beängstigt. Man meint, die qualitativen Differenzen wären derart real aus dem Leben verschwunden, wie sie fortschreitende Rationalität in der Methode ausmerzt. Ist man dann wieder in Europa, so ähneln plötzlich auch hier die Ortschaften einander, deren jede in der Kindheit unvergleichlich schien;[6]

Fragt sich, ob der moderne Mensch solche Kritik um seines Seelenfriedens willen ernst nehmen darf, fragt sich auch, ob er die Erfahrung des ortsgebundenen Glücks überhaupt noch in einer Weise macht wie Adorno weiland in Amorbach?

Wir haben in Europa noch so unendlich viel Sinnliches in Landschaft und Städten, das sich nicht nur sinnlich im Sinne des Tourens erfahren ließe, sondern das auch den Heranwachsenden sinnlich an seine Heimat binden könnte. Und sicher ist dies besonders in ländlich geprägten Gegenden auch noch der Fall, wenngleich nicht der normale. Andernorts wird darüber hinweggelebt, die Schönheit der eigenen Welt steht nicht mehr auf dem Plan des Kindes, das nicht spielend sich die Umwelt erschließt, sondern seine Entdeckerseele verplant sieht durch Kinderkrippe, Kindergarten, Schule usw. Und das ist, wenn es schon nicht gut ist, so doch außerordentlich nützlich.

Denn welchen Sinn hätten wohl junge Erwachsene, die inmitten einer zur Flexibilität erstarrten Gesellschaft noch an ihrem Stück fleischgewordener Erinnerung festhielten, die nicht willig aus der Heimat sich explantieren ließen, um heimatlos im standardisierten Leben luftwurzelnd ihren Platz zu behaupten, den sie niemals einnehmen dürfen?

Das Wolkenkuckucksheim ganz anderer Art als Bedingung der Möglichkeit erschwinglichen Lebens inmitten falschen Selbstbewusstseins, als negative Realutopie, die ängstlich darüber wacht, durch Bild, Ton, Geruch oder Geschmack nicht ins Bewusstsein gespien zu werden, darf den jungen Wildferkeln nicht ausgeredet oder gar mit romantisch verklärtem Rückblick madig gemacht werden. Denn sie wollen und sollen ja noch veritable Wildsauen und -eber werden.

Vergessen wir daher Adorno, wenn er sagt: "Dennoch läßt einzig an einem bestimmten Ort die Erfahrung des Glücks sich machen, die des Unaustauschbaren, selbst wenn nachträglich sich erweist, daß es nicht einzig war".[7]

Wenn wir Amorbach heute begehen, was ist da noch übrig? Die Frage allein schon verrät den am Virus Erkrankten!? Oder ist es gestattet, Wasser in den Wein des Idylls zu gießen, dem schon Adorno in eigner Rückschau nicht vollends mehr traute? Wie dem auch sei: das Kuhdorf ist ein Museum, das Hotel Post, in dem die Wiesengrund-Adornos logierten, geschlossen.

Als ich am Eingang des Dorfs nach ihm fragte, schickten mich ein Radfahrer, der mich ob des sprachlichen Register, das er zog, wohl für einen Ausländer gehalten haben muss und ein mühsamer Fußgänger, den man in meiner Jugend wohl einen Dorfdeppen gescholten hätte, in die komplett falsche Richtung.

Erst eine Frau meines Alters gab einigermaßen verwundert darüber Auskunft, dass es nicht mehr betrieben würde, so als wollte sie zweierlei sagen: Sie wollen doch nicht im Ernst hier absteigen, aber wenn Sie das tatsächlich im Schilde führen, dann würde ich Sie zu dieser Entscheidung aufs Höchste beglückwünschen, wenn ich Ihnen denn wahrheitsgemäß sagen könnte, dass es das Hotel Post noch gäbe.

Solch ein Hotel darf es auch nicht mehr geben. Das wäre einfach zu charmant für unsere Zeit und damit fauler Zauber. Solch eine Patina erträgt man nicht mehr in Deutschland.

Eine Seniorengruppe schwadroniert darüber, dass hier ja wohl tote Hose sei und trifft damit genau ins Schwarze. Es sitzen zwar Leute in ein paar Cafés und Restaurants, aber allgemein macht das Städtchen nicht den Eindruck einer Lebendigkeit aus sich heraus. Es lebt vom Touristen und Wandervögeln, wie wohl auch damals schon.

    Auf der Rossmannschen Terrasse vernahm ich eines Nachmittags, vom Platz vor der Schloßmühle her, wüst grölenden Gesang. Ich erblickte drei, vier ganz junge Burschen, unziemlich verkleidet, es sollte malerisch sein. Mir wurde erklärt, das seien Wandervögel, ohne daß ich mir darunter etwas Rechtes hätte vorstellen können. Mehr noch als die greulichen, obendrein falsch auf Klampfen begleiteten Volkslieder erschreckte mich der Anblick. Keineswegs entging mir, daß das nicht Arme waren wie die, welche in Frankfurt auf den Bänken der Mainanlagen zu nächtigen pflegten, sondern, nach kindlichem Sprachgebrauch, bessere Leute. Keine Not, vielmehr eine mir unverständliche Absicht veranlaßte ihren Aufzug.[8]

Und gestern waren es die Pfadfinder, die ein ähnliches Bild abgaben. Sonst nur ein paar Niederländer, wohl auf der Durchreise und einige wenige deutsche Touristen aus dem Umland. Da steigt wohl hier und da noch jemand ab, aber der beschaulichen Langzeitlogis ist man überdrüssig geworden. Dazu hat ja auch niemand mehr Zeit, nicht mal mehr die neuerdings immer aggressiver werdenden Wildschweine, die zu füttern man sich wohl nur im Traume noch einfallen ließe:

    Ich meinte, noch vor wenigen Jahren, die Wildschweine, viele Hunderte, würden um ihrer selbst willen gefüttert. So hatte ich in der Kindheit unter den Anständen, die man mir in den Amorbacher Wäldern zeigte, eine Einrichtung mir vorgestellt, die dem Wild zugute kommen sollte, das da, wenn es gar zu heftig gejagt wurde oder fror, über die Leitern hinaufklettere, Schutz und Zuflucht finde. [...] Wie ich lernen mußte, daß jene luftigen Baumhütten Jägern dienen, die auf dem Anstand lauern, um das Wild zu schießen, erklärte mir ein Kundiger, die Fütterung [...] fände nicht den friedlichen Sauen zuliebe statt,[...] sondern [...] um den Jägern ihre Beute am Leben zu erhalten, bis sie ihnen vor die Büchse liefe.[9]
    Inschrift am Gehege: "Wir bitten um Sauberkeit und Ordnung." Wer wen?[10]

Zitatnachweis

1Kulturkritik und Gesellschaft I/II: Amorbach. GS 10.1, S. 304
2Kulturkritik und Gesellschaft I/II: Amorbach. GS 10.1, S. 302-303
3Kulturkritik und Gesellschaft I/II: Amorbach. GS 10.1, S. 304
4Soziologische Schriften I: Kultur und Verwaltung. GS 8, S. 142
5Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Woher der Storch die Kinder bringt. GS 4, S. 98
6Kulturkritik und Gesellschaft I/II: Amorbach. GS 10.1, S. 304
7Kulturkritik und Gesellschaft I/II: Amorbach. GS 10.1, S. 304-305
8Kulturkritik und Gesellschaft I/II: Amorbach. GS 10.1, S. 307
9Kulturkritik und Gesellschaft I/II: Amorbach. GS 10.1, S. 308-309
10Kulturkritik und Gesellschaft I/II: Amorbach. GS 10.1, S. 309

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