Und ewig spielt die Musi...
Stellen wir uns vor, die Menschheit wäre auf einem Luxusliner unterwegs, der sie nach Utopia bringen soll. Weil das Schiff
doch nicht groß genug ist und die Vorräte nicht für alle reichen, weil die in der ersten und zweiten Klasse nicht teilen
wollen, setzen sie einen Teil der dritten Klasse in Rettungsboten aus, die sie aus Gründen der Menschlichkeit mit Hartzwieback
und Trinkwasser ausrüsten und an das Mutterschiff angebunden auf Distanz halten, damit die besseren Passagiere bestimmen
können, was noch zu erübrigen ist. Schließlich ist das Ziel ja unbekannt, man ist sich bloß sicher, dass es weit weg liegt und nur unter
enormen Strapazen zu erreichen sein wird.
Einigen geht das gegen das Gewissen: sie zimmern sich aus den verwaisten Holzbänken
der Dritten Klasse ein eigenes Boot, auf das sie Nutzpflanzen und ein paar Tiere mitnehmen. Andere versuchen vehement, jene
umzustimmen, die das Sagen haben, damit sie allen eine Fastenzeit verordnen, um mit den verfügbaren Mitteln haushalten und
die expedierten Menschen dritter Klasse wieder an Bord holen zu können. Wieder andere arbeiten an der Vorratsplanung, prangern
die Verschwendung an und mahnen zum Maßhalten. Aber jene, die das Sagen haben, lassen sich nicht umstimmen. Denn die Sterne
bedeuten ihnen, es sei nicht so weit bis zur rettenden Insel, als dass man sich wirklich einschränken müsste.
Dass sie aber von der Sternenperspektive aus in einer riesigen Badewanne schwimmen, in der keine Insel ist, will keiner von ihnen wahrhaben.
Zu sehr sind sie in das Spiel ihres Lebens vertieft. Zu sehr sind sie von ihren mit der Klasse verwobenen Werten überzeugt und
den an sie geschmiedeten Ideen, die sie alle aus der Deutung der Sterne ableiten. Was sie aber für den Horizont zu halten
gewohnt sind, ist bloß der unendlich hohe Rand der Wanne, in der sich moderne Leuchtdioden als Sterne vorspiegeln.
Daher denken sie verschieden, obwohl sie doch "mehr oder minder" in einem gemeinsamen Boot sitzen. Und jeder handelt, wie er es für
richtig hält. Sie reden viel. Das halten sie für fruchtbar, obwohl zwar einige sich durch den anderen überreden, aber nur sehr
wenige sich überzeugen lassen. Wovon auch? Denn ihr Reden ist genauso nutzlos wie ihr Handeln und Denken, da sie alle von denselben
falschen Voraussetzungen ausgehen.
Da sie sich aber selbst immer wieder von der Richtigkeit ihrer falschen Ideen überzeugen
müssen, bauen sie Denkzäune auf, jeder einen anderen. Und es spielt keine allzu große Rolle, dass diese recht durchlässig
sind, weil ja die Gedanken allesamt falsch sind. Aber der Denkzaun bietet Schutz vor der schrecklichen Ahnung, die einen
beschleichen mag, wenn man - aus ihm heraustretend - an Deck steht und zum Horizont und zu den Sternen blickt.
Und die gern
herausgestrichenen Unterschiede zwischen den hartleibigen Befehlshabern, den sanftlebenden Passagieren erster und zweiter
Klasse, den übrig gebliebenen Drittklassigen, der vierten deklassierten Klasse im Boot und den Alternativen auf der Arche, die
sich in Abneigung einer Klasse gegen alle anderen zeigt, sie sind das probate - wenngleich unbewusst selbstverordnete - Mittel,
sich weiter über Wasser zu halten und den Mut, den man zur Erkenntnis erst einmal verlieren müsste, tagtäglich - allen
objektiven Widrigkeiten zum Trotz - neu aufzubringen.
Ein Mut der Verzweifelten, der sich mit Pauken und Trompeten auf Trab
hält...