2008-02-03
(M)eine Beiz in Wien
Alles hat seine Zeit
(M)eine Beiz in Wien
Die allermeisten Restaurationsbetriebe vergisst man schnell wieder. Viele, weil sie nur kosten und nichts bieten, außer einer missverständlichen Speisekarte, manche, weil sie mit Lokalkolorit locken, aber nur die Grimmasse tünchen, die darunter hervorgrinst, und unzählige weitere, weil sie mit eigenem oder vermitteltem Fremden aufwarten, das sie zwecks Reibach oder vermittels eigener Ferne zur postulierten Tradition an den Geschmack des durchschnittlich-bornierten Mitteleuropäers anpassen.
Die Esskultur scheint mir jene, die am stärksten dem gesellschaftlichen Zwang ausgesetzt ist, verkommen zu müssen und sich an das anzuschmiegen, was der Zeitgeist als schicke Convenience feiert. Die Burger- und die "Kaffeehaus"ketten sind da nur die Spitze des Eisbergs.
Wie schön, dass es da noch Refugien gibt, in welchen man nicht auf sein Essen zu warten braucht, weil der Ort selbst zur Einkehr und Andacht verhält und die dargereichten Speisen und die ausgesuchten einfachen, aber schmackhaften Weine, gleichsam den liturgischen Wert des Weihrauchs einnehmen, der sie zu Ungehetzten segnet und dadurch heiligt. Solch eine Oase ist das Weinhaus Sittl in Wien.
Die Zeit, die der Speisenzubereitung zugedacht ist, spiegelt sich in allem, innen und außen. Das Innere hat den unverbrüchlichen Charme der 50er, und außen im Weingarten scheint die Uhr auf die Zeit zurückgestellt, als Beethoven hätte um die Ecke zu einem Schoppen Wein einbiegen können. Nie habe ich mich in einer Beiz so wohl gefühlt wie dort.
Nicht zuletzt wegen des Wirts, der einem deutschen Ausländer, ohne überheblich zu sein, zu vermitteln versteht, dass es hier etwas zu lernen und zu entdecken gibt. Und das geht über die üblichen Anfangsschwierigkeiten hinaus: "Mögen's Gebäck zur Suppe?". "Plätzchen zur Suppe? Nun, lieber ein Brötchen".
Alles in dieser Weinstube ist einfach, aber liebevoll bereitet und zubereitet. Bei meinen Besuchen im Sittl habe ich nie etwas gegessen, was mir nicht vorzüglich geschmeckt hätte. Das Essen dort ist mir zugleich Reminiszenz an die einfache und unübertreffliche schlesische Küche meiner Großmütter, aber zugleich hebt sie sich soweit davon ab, dass sie mir zur Melange wird, die nur dort in Wien genossen werden kann.
Das Sittl ist, ohne es sein zu wollen, ein Gesamtkunstwerk sui generis und zugleich ein Stück Fleisch und Gemüse gewordene Sehnsucht nach der guten alten Zeit, die es als solche nie gegeben haben mag, die aber in der Exzellenz einzelner Beizen ihr schon immer kärgliches Schattendasein noch in die Zukunft hineinragen lässt. Ein Tempel der Esskultur, der einem lehren kann, was Ehrfurcht bedeutet.
Unvergleichlich beschreibt die Atmosphäre im Sittl übrigens Richard Weihs. Weihs, der öfter im Sittl auftritt, hat urwitzige Lieder auf CD veröffentlicht.