2007-01-05
Migration in Gegenrichtung
A.D. 1993
Unweit der Ruta 1 zwischen Montevideo und Colonia del Sacramento bei Kilometer 93 liegt die Mennonitenkolonie Delta, die jüngste und modernste der drei mennonitischen Siedlungen in Uruguay. Nichts erinnert mehr an den schweren Anfang im Jahre 1955, vieles eher an ein kleines Gemeinwesen in den USA, dem die Insignien des amerikanischen Lebensstils abhandengekommen sind: keine surrenden Klimaanlagen, weder Automaten noch Tankstelle, dafür eine trotz ihrer Einfachheit dominierende Kirche, die unlängst fertiggestellte Festhalle, die kleine Schule mit Volleyballfeld, das bescheidene Altersheim mit seinen Bewohnern, die auf leichten Aluminiumstühlen die Nachmittagssonne genießen, der Laden, die klappernden Windmühlen, die das Wasser aus dem Boden pumpen, dafür aber auch eine Handvoll Oldtimer, die ältesten aus den späten Zwanzigern, als ihre heutigen Besitzer bestenfalls noch in ihren Kinderschuhen und in Westpreußen steckten. Und zwischen allem eine gepflegte, saftige Grünanlage.
Als man 1948 und 1951 in zwei Transporten mit insgesamt über 1000 Menschen übers Meer kam, waren die Aussichten ungewiss. Die ersten Siedlungswilligen, die sich schon auf eine Verbringung nach Paraguay eingestellt hatten, erfuhren zu ihrer Freude erst am Abend vor dem Ablegen der niederländischen Volendam aus Bremerhaven von ihrer möglichen Aufnahme in Uruguay, erhielten die offizielle Bestätigung aber erst durch Funkspruch auf hoher See. Die Hoffnung auf Ansiedlung in den USA und in Kanada, wo bereits eine große Zahl Mennoniten lebte, musste bereits früh aufgegeben werden, da beide Länder nach dem Krieg zunächst keine Reichsdeutschen aufnahmen.
Die Flucht war für sie alle dramatisch verlaufen. Ein Teil der westpreußischen Mennoniten hatte sich in Richtung Westen in Marsch gesetzt, ein anderer wartete im eingeschlossenen Danzig auf den vor der Roten Armee rettenden Dampfer. Viele starben an Entkräftung, durch Bomben, ertranken im sinkenden Schiff oder nahmen sich das Leben, weil ihnen keine Hoffnung mehr blieb. Die in Dänemark Gestrandeten wurden in Lager eingewiesen, aber auch dort waren sie dem Tod nicht entronnen, der besonders Greise und Kleinkinder nicht verschonte. Von den in dänischen Lagern Verstorbenen waren etwa die Hälfte Kinder unter fünf Jahren.
Heute (Anm. d. Verf.: im Jahre 1993) sind die Härten der Vergangenheit weitgehend in Vergessenheit geraten, die Augen nach vorn auf den gemeinsamen Markt zwischen Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay, den Mercosur gerichtet. Den Bauern in den Kolonien geht es im Vergleich zur prekären Wirtschaftslage des Landes gut, sie widmen sich beinahe nur noch der vielversprechenden Milchwirtschaft, nachdem die verhältnismäßig kleinen Parzellen bald keinen ausreichenden Ernteertrag mehr hergegeben hatten. Sie haben es zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht, die Kolonien Gartental und El Ombú, im Nordwesten des Landes unweit des Río Uruguay gelegen, betreiben sogar mit Erfolg eine Fabrik, in der Milch in großem Stil für den uruguayischen und zunehmend auch für den ausländischen Markt verarbeitet wird (http://www.claldy.com.uy/). Man produziert neben Frischmilch auch Joghurt, Käse und Dulce de Leche, eine süße Paste aus eingedickter Milch und Zucker, die in Uruguay so eine Art Allzweckfüllung für Gebäck und Süßwaren ist und die selbst einen dem Süßen im Allgemeinen argwöhnisch gegenüberstehenden Menschen an den Rand der Sucht führen kann. Dabei setzt man vor allem auf Pfandverpackungen, die man, wie der Genossenschaftschef Manfred Penner verspricht, auch dem Modernisierungsdruck nicht zu opfern gedenkt. Der mit Willy Brandt während der Kuwaitkrise aus Bagdad ausgeflogene Molkereimeister und Entwicklungshelfer Ernst Meiler hilft bei Fragen der Planung, Herstellung und Vermarktung auch bisher nicht im Sortiment enthaltener Produkte.
Die Mennoniten in der Hauptstadt sind häufig in höhere Positionen im Bankgewerbe oder in der Wirtschaft aufgestiegen oder sind Inhaber von Werkstätten. Den meisten hier geht es zumindest nicht schlecht und im Durchschnitt besser als der einheimischen Bevölkerung. Unter anderem deswegen und bei den Älteren auch aus dem Bewusstsein heraus, die Dörfer ihrer Kinderzeit nicht nur von rechtswegen sondern auch realiter verloren zu haben, denn wenig blieb von der Heimat im ehemals von vielen Mennoniten bewohnten Westpreußen übrig, ist Uruguay für beinahe alle zu einem neuen Zuhause geworden.
Es gibt aber noch solche, die Vertreibung und Zusammenbruch bis heute nicht verwunden haben und die, indem sie nach den Ursachen der Ursachen fragen, ihren Unwillen gegenüber einer mit 1933 beginnenden Geschichtsschreibung zum Ausdruck bringen. Sie reden vom Knebel des Versailler Vertrags, führen die eigenen durchlittenen Leiden gewissermaßen als Posten ihrer Abrechnung mit allen Kriegsgreueln auf, deren Bilanz sie - zumindest was sie selbst betrifft - für ausgeglichen halten. Sie verweisen auf die frühen Jahre des Hitlerregimes, die ihnen auch Gutes gebracht und auf die späten, die man so nicht gewollt und nicht geahnt hätte.
Dennoch wäre es falsch, wieder einmal das Klischee des nach Südamerika ausgewanderten Nazis bemühen und in diesen Emigranten ewig Gestrige sehen zu wollen. Natürlich hat es unter den Mennoniten Westpreußens zu Beginn des Dritten Reichs an Zustimmung für die neue Führung nicht gefehlt, was zu einem wesentlichen Teil aus einem rigorosen Antikommunismus resultierte, der sich in den zwanziger Jahren an der Anschauung dessen schärfte, was den Schwestern und Brüdern im Sowjetstaat widerfuhr. So bekundeten die ost- und westpreußischen Mennoniten - genau wie Vertreter der großen Volkskirchen - in Grußadressen an den neuen Reichskanzler ihren Willen zur Zusammenarbeit und traten die Flucht nach vorn an, indem sie als Mennonitengemeinden im Deutschen Reich ausdrücklich auf das ihnen einst so wichtige Privileg der Wehrlosigkeit verzichteten. Es kam zu Parteieintritten bis hin zu Angehörigen des Lehrdienstes. Schließlich meinte man, wenig Grund zu haben, den Beteuerungen Hitlers misstrauen zu müssen, der mit seiner Ideologie auf dem Boden eines "positiven Christentums" zu stehen vorgab und der vor allem den in finanziellen Nöten befindlichen Bauernstand durch das Erbhofgesetz und eine weitgehende Umschuldung vor dem Ruin bewahrte.
Als man aber durch die Gleichschaltung der Kirchen ein dezidiertes Heidentum zu fühlen bekam, das nicht nur Angehörige des jüdischen Glaubens und Kommunisten sondern Religion überhaupt verfolgte, wurde auch die Zustimmung zunehmend kühler. So nimmt die sogenannte Rundbrief-Gemeinschaft bis zur von der NSDAP verfügten Auflösung 1937 kritisch Stellung zur NS-Ideologie. und als Christian Neff, einer der Urheber des Mennonitischen Lexikons, im Gemeindeblatt 1941 den Krieg als Sünde bezeichnet, wird die Zeitung verboten. Man ruft nun das Amt eines Jugendwarts ins Leben, um so mittels einer Intensivierung des Glaubenslebens dem pseudoreligiösen Einfluss der NS-Jugendorganisationen zu begegnen. Mag dies insgesamt aus heutiger Sicht zu wenig sein, so sollte man sich doch davor hüten, die Mennoniten wie auch die übrigen Kirchen zum leicht erlegbaren Sündenbock der Historie zu machen. Denn ebensowenig wie man die Zögerlichkeit und Anbiederung vieler - aber nicht aller - Hirten den Gläubigen zurechnen kann, gebührt jenen auch nicht der Lorbeer für den oft mutigen Widerstand ihrer Schafe. Zum anderen sind auch die Kirchen, trotz ihres Selbstverständnisses als Hüter der Moral, immer Kinder des herrschenden Zeitgeistes, und der war damals -verallgemeinernd gesagt - antikommunistisch, antisemitisch, autoritätsgläubig und undemokratisch. Es gilt daher wohl auch für alle Kirchen, dass deren Widerstand erst zu keimen begann, als der eigene Bestand für gefährdet gehalten werden musste. Auch die Mennoniten, für welche die Obrigkeit in Anlehnung an Luther göttlicher Ordnung war, der man in allem zu gehorchen hatte, was nicht gegen die Grundlagen des mennonitischen Glaubens gerichtet war, machten hier keine Ausnahme. Die westpreußischen Mennoniten, die etwa seit Beginn des 20. Jahrhunderts ihre traditionelle Forderung nach einer strikten Trennung von Kirche und Staat kontinuierlich abschwächten, waren so zwar subjektiv weitgehend unpolitisch geblieben, objektiv aber insoweit politisch geworden, als sie das System auch aktiv stützten, wenn es nur ihre Glaubensgemeinschaft nicht antastete.
Reste von Autoritätsgläubigkeit sind auch in Uruguay noch zu spüren, besonders bei den Älteren. Wenn etwa die Militärdiktatur nachträglich - zumal hinsichtlich eines verbesserten Funktionierens der Gesellschaft - gerühmt wird, weil sie dem Land "Ruhe und Ordnung" gebracht habe, dann bleibt dabei unerwähnt, dass der Ordnung wegen ein exponiertes Mitglied der Gemeinde in Montevideo wegen angeblicher Nähe zu einer linken Studentenorganisation das Land fluchtartig verlassen musste und ein ehemaliger uruguayischer Koloniearzt heute als Folteropfer auf dem Friedhof ruht. Darüber hinaus sind die bis auf den heutigen Tag eher unpolitischen Einwanderer freilich vom Militärregime auch nicht weiter behelligt worden.
Diejenigen unter ihnen, die heute in Uruguay die Fragen nach der Vergleichbarkeit der Grausamkeiten auf den Seiten der kriegführenden Völker stellen, reagieren damit zum einen auf den auch nach über vierzig Jahren noch immer schmerzenden Verlust ihrer Heimat und Jugend, andererseits aber auf eine nach ihrer Meinung seit Ende des Zweiten Weltkriegs geführte internationale Kampagne gegen Deutschland. "Nationaler solltet ihr eingestellt sein", sagt mir eine gebildete Mennonitin in den Siebzigern. Ebenso arglos schreibt sie in einem Brief von dem schlechten Eindruck, den herumpöbelnde Skinheadbanden mit erhobenem Arm doch in der Welt machten, und dass man sowas doch im Fernsehen der Deutschen Welle nicht zeigen sollte. Eine solche "political directness" ist nur verständlich, wenn man sich vor Augen hält, dass sie und alle anderen ihrer Altersgruppe die versuchte Aufarbeitung der Vergangenheit in der alten Bundesrepublik Deutschland nur aus der Ferne mitverfolgen konnten und weil viele bis heute nicht haben verstehen können, warum sich ein Kleinstaat wie Uruguay einen ausgeprägten Patriotismus leistet, den Deutschland - bis 1990 - eher einzudämmen trachtete. Dabei ist auch das deutsche Recht auf Asyl ein oft diskutiertes Thema. Wie ein Land soviele Menschen aufnehmen könne? Uruguay hat insgesamt nur etwa drei Millionen Einwohner. Die deutschen Proportionen wirken da ein wenig aus dem Maß geraten. Am Tage des Mordes an drei jungen Türkinnen im deutschen Herbst des Jahres 92 bringt uns der sichtlich erschütterte Älteste (der oberste Geistliche der Gemeinde) Klaus Dück (übrigens einst Mitschüler von Günter Grass) die Nachricht via Deutsche Welle. Es herrscht darauf greifbare Bestürzung im frühlingswarmen Delta.
Es gibt wohl niemanden mehr, der ernsthaft an eine Rückkehr in die alte Heimat dächte, obwohl sie jetzt im Bereich des Möglichen läge. Nur ganz wenige, wie etwa der siebzigjährige Kurt Neumann, halten noch den Glauben an einen Neuanfang in der alten Heimat aufrecht. Begreiflicherweise stößt er damit selbst in seiner eigenen Familie nicht auf Enthusiasmus. Uruguay ist eben, insbesondere für die zweite, im Lande geborene Generation, ihr Zuhause geworden, hier haben sie ihr Auskommen und ihre Freunde.
Was will man da noch von einem Deutschland, das sich zumeist wie der reiche Onkel gebärdet, wenn es in Form von Verwandten und Bekannten zu Besuch kommt? Etwas vom Reichtum? Nun, man ist nicht gerade traurig über das, was abfällt, sei es in Form von privaten Geschenken oder als Bafög (Anm. d. Verf.: Bundesausbildungsförderungsgesetz, das - damals noch ohne Rückzahlungspflicht - monatliche Zahlungen zur Unterstützung der Ausbildung gewährte), das den mennonitischen Schülern des Handelskursus der Deutschen Schule in Montevideo zuerkannt wird. Auch die Unterstützung der Kolonieschulen durch die deutsche Bundesregierung hat man begrüßt. Nun ist deren Ende durch einen Bescheid des Bundesverwaltungsamts in Köln abzusehen, nach dem die Förderung für das Jahr 1994 um ein Drittel und 1995 um ein weiteres Drittel gekürzt werden soll, um dann ab dem Jahre 1996 ganz eingestellt zu werden. Die Bundesregierung hatte zwar mit erheblichen Mitteln zum Aufbau der Schulen in den mennonitischen Kolonien Uruguays beigetragen, die jetzt angebahnte Rückführung der Zuschüsse stellt aber das bisher Geleistete insgesamt in Frage, da man davon ausgehen muss, dass die Kolonisten sich in Zukunft weigern werden, hohe Mehrkosten für die Beschäftigung der Lehrer zu zahlen. In dem Maße, wie in der Zukunft bei der nun heranwachsenden Jugend und deren Kindern das Interesse an der deutschen Sprache schwindet, wird wohl auch die Bereitschaft abnehmen, für eine deutsche Schule zu zahlen, wo man die staatlichen unweit der Kolonien gratis besuchen kann.
Insgesamt hat sich in Analogie zur privaten Nachkriegsbefindlichkeit in der DDR eine Mentalität entwickelt, die finanzielle Zuwendungen aus Deutschland und auch von den Glaubensbrüdern in Nordamerika für selbstverständlich hält. Das ist alles andere als ehrenrührig, denn angesichts der geringen Vertrautheit der jüngeren Mennoniten mit den deutschen Verhältnissen war eine realistische Einschätzung des Lebens im Mutterland unmöglich, die real existierenden Verwandten aber waren - ihrem Gehabe nach zu urteilen - ganz offensichtlich mit Reichtum gesegnet. Ähnlich wie für die ehemaligen DDR-Bürger ist Deutschland noch heute für den überwiegenden Teil älterer und jüngerer Mennoniten ein Wirtschaftsschlaraffenland, in das auf Besuch oder auf ein paar Jahre zum Studium oder zur Arbeit zu fahren sich nach wie vor die wenigsten leisten können. Aufgrund dieser Einschätzung steht der deutsche Reisepass aber hoch im Kurs, er könnte ja in schlechten Zeiten einmal nützlich werden. Man beachte hier die aktuelle Diskussion zur Doppelstaatsbürgerschaft von in Deutschland lebenden Menschen ausländischer Provenienz: die jungen Mennoniten haben in Uruguay alle die uruguayische Staatsbürgerschaft, aber - mit Einverständnis der deutschen Behörden - auch die deutsche. Es mag da schon grotesk erscheinen, wenn einem nach Uruguay "verpflanzten" deutschsprachigen Mennoniten der zweiten und dritten Einwanderergeneration, der noch nie seinen Fuß auf deutschen Boden setzte und der nurmehr ein recht geringes Interesse an diesem hat, seines Stammbaums wegen der deutsche Pass ohne die sonst geforderte Entscheidung für oder gegen Deutschland angedient, einem jungen deutschsprachigen und in Deutschland lebenden Bikulturellen aber verweigert wird, weil der nicht davon absehen kann und will, dass sein Stammbaum in der Türkei wurzelt.
Was nun die Mennoniten von der dagebliebenen reichen Verwandtschaft einerseits erwarten, praktizieren sie andererseits aber auch gegenüber den weniger bemittelten Schwestern und Brüdern in den eigenen Reihen. Der Gemeinsinn ist ungebrochen, wenn der ein oder andere auch mal ein Gemeinschaftsvorhaben nicht für gut befindet, zahlen wird er letzten Endes doch. Die Einführung des Telefons im Sommer 1992 in Delta Urgroßmutters Zeiten) lässt sich hier gut als Beispiel anführen. Die nahe an der Zentrale liegenden Haushalte zahlten zur Entlastung der weiter abliegenden Gehöfte, worunter sich auch uruguayische befinden, genau wie diese, den Durchschnittspreis der Gesamtkosten, in diesem Falle etwa $ 1000 US pro Anschluss. Auch für die reicheren Bauern ist das keine kleine Summe, für nicht wenige weit mehr als die Hälfte des Monatseinkommens.
Im Sinne der Einheimischen ist man auch weiter aktiv geworden, half mit beim Bau von staatlichen Schulen und Altersheimen nach Überschwemmungen im Jahre 1959 und kümmert sich heute finanziell und ideell unter anderem um Weisenkinder in einem mit Hilfe von Spenden finanzierten Kinderheim.
Da die Uruguayer in der Umgebung oft eine gewisse Abneigung zeigen, ins Zentrum der Kolonie zum Gottesdienst zu kommen, hat Delta auch eine Missionskirche eingerichtet, in der zweimal monatlich von Mennonitenpredigern (die Prediger und Ältesten sind durch die Laien der Gemeinde durch geheime Wahl bestimmte Gemeindeglieder; eine Predigerin wurde bisher von den selbständigen Gemeinden nicht gewählt, bei einer Wahl sind aber erstmals eine Reihe von Stimmen auf eine Frau gefallen) auf Spanisch ein deutlich lebendigerer Gottesdienst als in der Hauptkirche im Zentrum abgehalten wird. Die Abneigung liegt wohl darin begründet, dass die uruguayische Landbevölkerung und die mennonitischen Kolonisten unterschiedlichen Schichten und Kulturkreisen angehören. So wie diese, zumal sie hier überwiegend als Arbeitgeber auftreten, den Ruf des effektiven, ehrlichen Arbeitsmenschen bei den Uruguayern nicht los werden, obwohl die Effektivität mittlerweile auch schon ein wenig gelitten haben mag, stehen jene für die Kolonisten in dem - von ihrer Warte sicher nicht immer unberechtigten - Ruf, den kargen Tagelohn mit unnützen Dingen zu vertun und also nicht besonders fleißig zu sein. Die Mennoniten stehen ihrem hohen Ansehen aber auch zwiespältig gegenüber und viele nehmen insofern kritisch zu der nach wie vor bestehenden sozialen Kluft Stellung, indem sie nach ihrem eigenen Verschulden fragen. Instinktiv mögen sie ahnen, dass sich das Bild vom anderen in den Vorstellungswelten beider Gruppen im wirklichen Leben als fragwürdig erweist und dass die Einheimischen auch Vorzüge besitzen, die ihnen selbst vielleicht abgehen.
Die westpreußischen Mennoniten in den uruguayischen Kolonien sind gläubige Menschen. Zwar sind sie nicht so streng wie zum Beispiel ihre paraguayischen Glaubensbrüder, denn die halten dort offiziell wenig vom Alkohol, vom Tanzen oder Rauchen, aber neben diesen Freuden des Lebens, die man hier ohne weitere Skrupel genießt, steht das Ringen um den richtigen Weg zu Gott. Mag noch in Westpreußen vor und während des Dritten Reichs die innerliche Hingabe weniger inbrünstig gewesen sein, jetzt wenigstens herrscht eine Aufbruchstimmung, deren Ziel es ist, die in der Bibel versprochenen Gaben in den Mittelpunkt zu stellen und das nüchterne Mennonitenvolk zu begeistern: die charismatische Bewegung hat von Kanada aus ihren Einzug gehalten, und sie hat viele ergriffen. Dass die Gaben des Geistes nun aber nicht jeder haben, dass mancher sich auch gar nicht um sie bemühen will, sondern vielmehr das Ganze für ein schwärmerisches Treiben hält, in dessen angeblichen Gebetsheilungen er nichts als einen religiösen Placeboeffekt sieht, ist den Begeisterten ein Dorn im Auge. Sie, die sie schon so weit auf ihrem Weg vorangekommen sind, werden von den Zurückgebliebenen wegen etwas angegangen, das diese Skeptiker ob ihrer "Blindheit" für die Wahrheiten der Bibel zu begreifen nicht im Stande sind. Einer der Zweifler karikiert: "Sie denken auch zum Beispiel, ich schneid mir einen Finger ab und Gott kann mir machen, dass der wieder anwächst, und wenn das eben dann nicht wird, der Finger wächst nicht an, dann geben sie einem die Schuld: Du hast nicht genug geglaubt, du hast nicht genug gebetet". Und freilich, es wird da schon ein wenig übertrieben mit Mutmaßungen über die Folgen und Spätfolgen der Sünde: da sieht jemand zum Beispiel die Frühgeburt und daraus resultierende Behinderung eines Kindes als göttliche Strafe dafür an, dass die Ehe erst während der Schwangerschaft geschlossen wird. Und auch der Teufel, der in den großen Kirchen Deutschlands, wenn er überhaupt noch vorkommt, marginalisiert und entpersonalisiert ist, genießt großen "Stellenunwert" und stellt sich daher im Gemüt des Begeisterten vor allem dann ein, wenn dieser den rechten Weg zu Gott in Gedanken, Worten und Werken zu verlassen droht. Das zeitigt wohl hier und da günstige Metamorphosen, wenn die innere Fülle in einen positiveren Umgang mit den Mitmenschen mündet, es bringt aber auch dank des an einigen Bibelversen axiomatisch festgezurrten Sendungsbewusstseins mitunter eine Besserwisserei an den Tag, die nicht mehr hinterfragbar ist. Niemand jedoch, nicht die charismatisch Bewegten noch die im Nüchternen Verharrenden, will eine Spaltung, und es besteht demnach Anlass zu der Hoffnung, dass die Synthese der Auseinandersetzungen um den richtigen Weg am Ende alle ein Stück weiter auf demselben vorwärts gebracht haben wird.
Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, denn eine Vertiefung des Glaubens nach Innen und nach Außen wird allenthalben für nötig erachtet. Dahinter steht letztlich die Angst vor einer Anpassung an die Religiosität, wie sie in Uruguay praktiziert wird: Zum einen, so meint man, sei die religiöse Praxis grosso modo oberflächlich und zu sehr an Heiligenverehrung etc. gekoppelt. Hinzu gesellt sich eine Verquickung des Katholizismus mit den einheimischen Kulten, welche die Mennoniten durchaus als Handreichungen des Teufels verstehen. Es kommt daher mitunter zu allerlei idiosynkratischen "Hinter-weltlichkeiten", wenn beispielsweise die Rockmusik, die Anthroposophie, Yoga, Karate, Meditation, der aus Brasilien eingesickerte Spiritismus und weiteres mehr als Vorboten einer Verschwörung gelten, die die Errichtung eines Reichs des Bösen auf der Welt zum Ziel haben.
Solche Einstellungen können freilich nur den mit Verwunderung erfüllen, der keine Vorstellung von der relativ isolierten Lage der Mennoniten in Uruguay hat. Da hat es seit vierzig Jahren weder eine umfassende und intensive Auseinandersetzung mit dem uruguayischen Umfeld noch mit den Entwicklungen in Deutschland gegeben. Viele Ältere sind auf dem hohen formalen Bildungsniveau der alten Heimat stehengeblieben und beklagen sich jetzt vehement über die Kultur- und Bildungslosigkeit des eigenen wie auch des deutschen Nachwuchses, der durch die Verwandschaftsbande zu ihnen herüberfindet. Und auch die deutsche Sprache dieser Verwandtschaft will nicht mehr schmecken, obschon man gewisse Wendungen aus der Nachkriegszeit als den letzten Schrei begrüßt. Anlässlich der jährlich stattfindenden Frauenfreizeit wurde etwa gefragt, ob es nun "ich stehe auf Dich" oder "ich stehe auf Dir" heiße, was allein genügte, um im Publikum eine kaum enden wollende, lautstarke Ausgelassenheit zu erzeugen.
Die erste, bereits im Lande geborene Generation hat sich zwar um Einpassung in die neue Heimat wirklich bemüht, der Erfolg ist jedoch, wenn zwar nicht ausgeblieben, so doch nur auf einem eng begrenzten Feld abzusehen. Schließlich wollte man ja auch das mennonitische Völkchen zusammenhalten, weswegen ein behutsames Vorgehen geboten schien. Insofern sind Ehen mit Uruguayern in den Kolonien äußerst selten, nur in der Hauptstadt sind sie dabei, zur Regel zu werden. Der Kontakt zu den Einheimischen, von den Mennoniten immer "die Hiesigen" genannt, ist weder in den Kolonien noch in der Hauptstadt wahrhaft intensiv: nur die jüngeren Mennoniten Montevideos haben uruguayische Freunde, mit denen sie regelmäßig ihre Freizeit verbringen.
Deutsch wird daher nach wie vor von beinahe allen gesprochen. Einzig die kleine in Colonia del Sacramento lebende Mennonitengruppe, die sich weitgehend akkulturiert hat, macht hier eine Ausnahme. Hier ist die faktische Abkehr vom Mennonitentum besonders augenfällig. Das intensive Zusammenleben mit der uruguayischen Bevölkerung hat jedwedes Misstrauen hinsichtlich einer "falschen Spiritualität" oder einer fehlenden christlichen Haltung schwinden lassen. Da man hier die übrigen Religionen und auch den uruguayischen Katholizismus nicht als bedrohlich empfindet und selbst keinen missionarischen Eifer an den Tag legt, sind keine Berührungsängste vorhanden. Man bewegt sich auf dem Boden einer religiösen Toleranz, was natürlich daher rührt, dass man die traditionelle Religion nicht mehr für wesentlich hält.
In den Kolonien wird Deutsch auch unter den Jugendlichen vorwiegend verwendet, da diese die ersten Jahre bis zum Eintritt in die kolonieeigene Schule in der Regel mit dem Spanischen nur sporadisch konfrontiert werden. Die mennonitischen Jugendlichen in Montevideo wie auch die Älteren bedienen sich hingegen häufig des Spanischen, was bei einzelnen Sprechern der jüngsten Generation bis zur ausgeprägten Vorliebe gehen kann.
Vieles, was von Außen in die Gemeinschaft eindringt, fällt auf fruchtbaren Boden, denn die Menschen sind in alter Mennonitentradition interessiert und wissbegierig. Aber oft macht sich auch die fehlende, da nicht anerzogene, Kritikfähigkeit bemerkbar, die im Verein mit einer immer schon despektierlichen Haltung des mennonitischen Landwirts gegenüber einer nicht in die Praxis mündenden Intelligenz auch die unüberprüfte Annahme von vorgeblichen Wahrheiten zulässt, die sich dann mit anderen wirklichen zu einer Weltsicht verbinden, die einem "verbildeten" und "verstädterten" Wohlstandsbundesbürger nur eigentümlich vorkommen kann.
Und dennoch ist vieles, wenn nicht das meiste dessen, was man als Besucher in den Kolonien dieser mennonitischen Aussiedler erleben und erfahren kann, dazu angetan, ein positives Bild zu zeichnen: die erfrischenden, unprätentiösen Jugendlichen, die scheinbar keinen Modezwängen in Kleidung und Sprache unterworfen sind (obligatorische Sportschuhe vielleicht ausgenommen); die immer empfangsbereiten, gastfreundlichen Erwachsenen, die sich füreinander Zeit nehmen; die heiteren und manchmal - wenn sie an die Heimat denken - etwas wehmütigen Alten, die vor dem Altersheim zeitlos die Sonne genießen. Dies alles kann man den Bundesdeutschen gut als Spiegel vorhalten. Wer dazu die politischen und religiösen Nebenwege dieser Menschen nicht ungebührlich in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt, mag eine gewisse Minderwertigkeit der eigenen Kultur verspüren, die - an ihren Informationen wiederkäuend - nur wenig wirkliches Wissen vermittelt und allenthalben den schönen Schein in den Vordergrund stellt. Die deutschen Mennoniten in Uruguay haben da durchweg ein stärkeres Fundament, ein festgefügteres Weltbild, unter dessen Schutz, weil kaum merklich in Bewegung, es sich offenbar leicht und froh leben lässt.
Einer jungen Mennonitin sollte das nicht genügen: die mutmaßliche Terroristin Elisabeth von Dyck, die 1979 von der Polizei erschossen wurde, kam 1951 nach Uruguay und wuchs in der Kolonie Delta auf. Ihre Verwandten dort bestreiten ihre Verwicklung in die ihr zur Last gelegten Delikte: "so etwas hätte sie nie getan". Elisabeth von Dyck wurde in den Rücken geschossen, als sie, vom Einkaufen zurückkehrend, auf den Anruf der Polizei eine Pistole zog.
Ein Einzelfall, der ebensowenig als irrige Konsequenz einer religiösen Erziehung, wie als zwangsläufige Reaktion auf den gehetzten, scheinbar kalten Lebensvollzug in Deutschland hingestellt werden kann. Ein Einzelfall, der zum Nachdenken bewegen sollte und uns, wenn wir ihn als ein Spiegelbild unserer Wirklichkeit ernst nehmen wollen, ein Mitleid für Täter wie Opfer abfordert, das wir in der Regel nur entweder/oder zu fühlen gewillt sind.