2006-04-07
Humanressourcen für den Weltmarkt
Fallstricke der Erziehungspolitik
von Riccardo PETRELLA, Berater der EU-Kommission, Prof. an der Université catholique in Löwen in Belgien
DIE Schule hat die Aufgabe, die junge Generation auf das Leben in der demokratischen Gesellschaft vorzubereiten. Aber auch unsere Bildungssysteme unterliegen zunehmend der Logik des Marktes. Im "Zeitalter des Wissens", da alles Denken auf technologische und wissenschaftliche Weiterentwicklung ausgerichtet ist, droht die Schulbildung die Kluft zu zementieren, die sich zwischen Nord und Süd, West und Ost und zwischen Reich und Arm auftut.
Das Bildungswesen leidet unter fünf Hauptproblemen, die aus den politischen, sozialen und ökonomischen Änderungen der letzten dreißig Jahre resultieren. ...
1) Humanressource Mensch
Das erste Problem besteht darin, dass Bildung und Erziehung in zunehmendem Maße für die Ausbildung von „Humanressourcen" instrumentalisiert werden. Dadurch tritt die Erziehung der Persönlichkeit immer mehr in den Hintergrund. Ursprung dieser Entwicklung ist die Reduzierung der Arbeit auf eine "Ressource", die je nach Nutzen für die Firma verwaltet, weiterentwickelt, herabgestuft oder - bei Nichtbedarf - entlassen wird.
... Die Ressource Mensch verdankt ihr Recht auf Existenz und Einkommen allein ihrer Rentabilität und Leistungsfähigkeit. Ständig muss sie unter Beweis stellen, wie brauchbar sie ist - so wird das "Recht auf Arbeit" abgelöst von der Pflicht, den Nachweis ihrer "Brauchbarkeit" zu erbringen.
2) Bildung und Ausbildung als Ware
2) Das zweite Problem: Bildung und Ausbildung sind zur Ware geworden. Da die Hauptaufgabe der Bildung nunmehr darin bestehen soll, Humanressourcen im Dienste der Unternehmen auszubilden, verwundert es nicht, dass das Privatkapital - entsprechend seiner Marktlogik - dem Bildungswesen die eigenen Ziele und Prioritäten aufzuzwingen sucht. Bildung wird zusehends als Marktsegment behandelt.
In Nordamerika spricht man bereits von education market, education business bzw. von market of pedagogical products and services. ...
In allen "entwickelten" Ländern geht die Tendenz hin zu einem Bildungssystem, das individuell zugeschnitten, räumlich unabhängig (via Internet), zeitlich flexibel (lebenslang) und "à la carte" organisiert ist. Was die Regeln dieses Marktes betrifft, so hat das Scheitern der Millenniumsrunde der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle vorläufig verhindert, dass die Prinzipien des freien Handels auch auf die Bildung angewendet werden. Diese stand nämlich auf dem Programm des Allgemeinen Abkommens für den Dienstleistungshandel (GATS). Doch nun, da die Verhandlungen über die Dienstleistungen bei der WTO in Genf wieder aufgenommen wurden, besteht keinerlei Garantie, dass die Liberalisierung und Deregulierung des Bildungssektors nicht neuerlich auf der Tagesordnung stehen.
In der Tat gibt es in den entwickelten Ländern immer mehr Politiker/innen, die bereit sind zu akzeptieren, dass der Markt über Ziele und Organisation der Bildung bestimmt. Die gewerkschaftlichen Organisationen (insbesondere die "Internationale de lEducation"), Nichtregierungsorganisationen und Bürgerbewegungen sollten in verstärktem Maße versuchen, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken.
3) Bildung als Kriegskultur
Das dritte Problem: In einer Zeit, in der die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt absolute Priorität hat, zeigt sich Bildung als unabdingbar für das Überleben des Einzelnen, aber auch für das Überleben des Landes. So wird das Bildungswesen nach und nach zu einem „Ort", an dem man eher eine Kriegskultur erlernt (jeder kämpft für sich und will mehr Erfolg haben als die anderen und, wenn es sein muss, sogar auf deren Kosten) als eine Lebenskultur (gemeinsam mit den anderen im Interesse aller zu handeln). Universitäten, staatliche Instanzen, Student/innen, Eltern und sogar Gewerkschaften haben eine solche Kultur bereits akzeptiert. Trotz der Bemühungen zahlreicher Erzieher/innen wird in unserem Bildungssystem die Auswahl der Besten immer wichtiger, während die Würdigung und Förderung der spezifischen Fähigkeiten der einzelnen Schüler/innen an Bedeutung verliert.
4) Unterordnung unter Technologie
Das vierte Problem ist die Unterordnung der Bildung unter die Technologie. Da seit den siebziger Jahren die Auffassung vorherrscht, dass die Technologie der Hauptmotor für gesellschaftliche Veränderungen ist, vertreten führende Politiker die These vom Primat der Technologie, der man sich anpassen müsse. ...
5) Legitimierung einer neuen sozialen Kluft
Das fünfte Problem besteht darin, dass mit dem Bildungssystem eine neue soziale Kluft legitimiert wird. Folgt man der vorherrschenden Meinung, so sind die entwickelten Länder nach dem Ende des Industriezeitalters, das auf materielle Ressourcen und Kapital (Boden, Energie, Stahl, ...) gegründet war, nun ins Zeitalter des Wissens eingetreten, das sich auf immaterielle Ressourcen und immaterielles Kapital (Information, Kommunikation und Logistik) stütze. ...
Doch just während sich diese Umwälzungen anbahnen, wächst weltweit die soziale Kluft zwischen den "Qualifizierten", d. h. denen, die Zugang haben zum "Wissen, das zählt" und den "Nichtqualifizierten". Diese Kluft verschärft die aus der Vergangenheit resultierenden Spaltungen - entstanden etwa durch den ungleichen Zugang zur grundlegenden Alphabetisierung. Das Wissen wird so zum wichtigsten Baustoff einer neuen "Mauer des Wissens", die in Zukunft die auserlesenen Humanressourcen (die in neuen weltumspannenden Berufsgilden organisiert sind) von den gewöhnlichen Humanressourcen trennt (die das neue Proletariat des Weltkapitals darstellen).
WOLLEN die Europäer/innen diese fünf Probleme bewältigen, dürfen sie gewiss nicht den Leitlinien der Staats- und Regierungschefs der 15 EU-Länder folgen, die im März 2000 bei der Sondertagung des Europäischen Rates in Lissabon festgelegt und im Juni 2000 vom Europäischen Rat in Feira in einem Aktionsplan konkretisiert wurden.
Nach diesen Leitlinien geht es in den kommenden 15 Jahren zuvorderst um den Aufbau von "e-Europe", damit Europa bis zum Jahre 2015 zur fähigsten "e-economy" der Welt avancieren kann. Vorrangiges Ziel der Bildungspolitik soll sein, allen Europäer/innen vom Vorschul- und Grundschulalter an den Zugang zur digitalen Alphabetisierung zu ermöglichen, damit auf diese Weise konkurrenzfähige Humanressourcen gebildet werden können - konkurrenzfähig vor allem in Hinblick auf Nordamerika, das einen Vorsprung von etwa zehn Jahren haben sollen.
Auf diesem Gebiet besteht ein breiter Konsens unter den führenden Politiker/innen Europas. Haben sie denn - nachdem sie zwanzig Jahre lang die marktorientierte Wettbewerbsfähigkeit befördert haben - noch nicht begriffen, dass es in dieser Logik nur wenige Gewinner gibt, und zwar auch was das Bildungswesen angeht? Wissen sie tatsächlich nicht, dass das allgemeine Schulbildungsniveau ausgerechnet in den USA, wo bisher der weltweit höchste Entwicklungsstand in den Bereichen Informations- und Kommunikationstechnologien, Multimedia, Internet usw. erreicht wurde, besonders erbärmlich ist? Warum wollen sie den jämmerlichen Zustand der allgemeinen Schulbildung und die sozialen Ungerechtigkeiten nicht wahrhaben, die derzeit den Zugang zu den Hochschulen in Großbritannien kennzeichnen? ...
Eine andere Bildung wird gebraucht
Dabei fehlt es nicht an sinnvollen und realistischen Vorschlägen für eine andere Erziehungs- und Bildungspolitik. So wurde im März 1999 von der britischen Hilfsorganisation Oxfam International und von der "Internationale de lEducation" das Anliegen einer "qualitätsvollen öffentlichen Erziehung für alle" formuliert. ... Das Erziehungssystem sollte es als seine Grundaufgabe ansehen, jedeN Bürger/in erfahren zu lassen, dass die Anerkennung der Existenz und der Existenzberechtigung des anderen die fundamentale Basis der eigenen Existenz wie des Zusammenlebens ist.
Durch das unmittelbare persönliche Gespräch lernen wir, dass die Geschichte der Menschheit durch die Verschiedenheit der Menschen geprägt ist - und dies gilt gerade auch in der heutigen Zeit, wo es eine schöpferische (nicht eben konfliktfreie) Spannung gibt zwischen Einzigartigkeit und Vielfalt, zwischen universellem Denken und Partikularismus, zwischen Globalem und Lokalem. Durch das persönliche Gespräch lernen wir das Leben und die Demokratie, lernen wir die Solidarität und die Fähigkeit, andere (fremde) Beiträge anzuerkennen, auch wenn diese nicht die vorherrschenden Produktivitäts- und Rentabilitätskriterien bedienen.
Ausgehend von diesem Grundprinzip könnte eine Bildungspolitik, die Wissen und Kenntnisse als "öffentliche Güter" anerkennt und ihren Schwerpunkt auf die Entwicklung, den Erhalt und die Weitergabe dieser Güter setzt, zum Aufbau einer Welt beitragen, die im wirtschaftlichen Bereich solidarisch, im sozialen Bereich effizient und im politischen Bereich demokratisch wäre. Auf "e-Europe" angewendet, würde eine solche Bildungspolitik in erster Linie die Herausbildung einer Generation von Bürger/innen fördern, deren Kompetenzen und Qualifikationen einer anderen Logik folgen: nämlich der Logik einer sozialen, solidarischen, lokalen und kooperativen Wirtschaft.
dt. Dorothea Schlink-Zykan, gekürzt von Walther Schütz aus: Le monde diplomatique 2000