2008-01-05
Die Pisa-Falle schnappt zu
Im Beitrag vom 19. November 07 „Wie die Mittel den Zweck heiligen sollen" haben Reinhilde und ich aufzuzeigen versucht, dass der derzeitigen Bildungsdiskussion ein durch und durch negativer Zweck zugrunde liegt: Die Erhöhung des Outputs an qualifiziertem Menschenmaterial für den Wirtschaftskrieg der Standorte. Dies ist auch der Kern der gesamten Pisa-Diskussion.
Dass dieser inhumane Zweck des Ganzen nicht so klar herauskommt, liegt daran, dass einige der humanistisch orientierten bzw. sich als solche ausgebenden Reformkräfte in dieser Bildungsdiskussion eine Chance sehen, alte, konventionell-autoritäre Grundmuster des Schulsystems zu durchbrechen. Mit dem Rückenwind eines Bildungs-Alarmismus wird für offenere Formen des Lernens, mehr Integration, weniger Notendruck etc. im gesellschaftlichen Subsystem Schule argumentiert. Dass aber die Durchsetzung von humaneren Mitteln unter dem Vorzeichen eines inhumanen Bildungszwecks in der Realität nicht hinhaut, haben wir an etlichen Beispielen in unserem oben genannten Beitrag aufgezeigt: Freiräume für einen emanzipatorischeren Umgang mit den Schüler/innen werden eingeschränkt, es droht die Rund-um-Beschulung der zukünftigen Ware Arbeitskraft, statt einer Abschaffung der inhumanen Noten kommen nur bessere Diagnoseinstrumente, ...
Nun war bisher zentrales leuchtendes Beispiel einer „bauernschlau" argumentierenden Bildungsreformfraktion der Pisa-Sieger Finnland. Dort sei die Verbindung von (angeblich!) humanerer Schule UND Spitzenleistungen in (Aus-)Bildung geglückt. Die argumentative Falle ist dabei der positive Bezug auf die Wettbewerbsmaschine Pisa-Tests, denn die implizite Botschaft lautet: Kapitalismus und Humanismus gehören eigentlich untrennbar zusammen, wenn nicht irgendwelche verstockte Bürokraten diese glückliche Verbindung torpedieren würden.
Mit dem letzten Pisa-Test sind nun diese humanistischen Bildungsreformer, die die Systemzusammenhänge ausblenden, in ihrer argumentativen Falle gefangen: Südkorea übertrumpft Finnland im Lesen mit 557 Punkten (Finnland 547). Autsch! Auf der Bildungsdiskussionsplattform „Lehrerforum" hat dazu Erich Wallner am 25. Dezember 07 unter dem Titel „Vom PISA-Sieger Korea lernen!" in ironischer Weise argumentiert. Hier diese wunderbare Polemik im Wortlaut :
„Wir werden uns jetzt also anschauen müssen, was uns Korea alles lehren kann. Ein paar Minuten Googeln führen schon zu folgenden Einsichten:
1. Bei uns wird ein Schülerselbstmord grundsätzlich negativ gesehen. In Korea ist das anders:
„Wenn ein Student in Korea Selbstmord begeht, so geht der Alltagsbetrieb in der Schule weiter wie immer. Kein Gedenkdienst, keine Ansprachen durch die Schulverwaltung, keine gramvollen Anwälte, kein Trauertag – nichts dergleichen.“
(http://metropolitician.blogs.com/scribblings_of_the_metrop/ 2007/01/on_suicide_in_k.html)
2. Bei uns werden Individualisierung und Kreativität weit überbewertet:
„Obwohl südkoreanische Schüler bei internationalen Vergleichstests oft bestens platziert sind, wird das Erziehungssystem manchmal wegen seiner Betonung von passivem Lernen und Auswendiglernen kritisiert.“
(http://en.wikipedia.org/wiki/Korea)
3. Auch Fremdsprachen nehmen wir viel zu wichtig:
„Trotz der südkoreanischen Versessenheit bezüglich des Erlernens von Englisch belegt es in Asien bezüglich der Sprachbeherrschung die hintersten Plätze und ist gerade auf den 134. Platz in TOEFL’s (Test of English as a Foreign Language) weltweiter Rangreihung in Sprechen zurückgefallen.“
(http://gwmodernkorea.blogspot.com/2007/05/problems-learning-english-in-south.html)
4. Wir verweichlichen unsere Kinder viel zu sehr und haben Angst, ihnen Befehle zu erteilen:
„Überflüssig zu sagen, dass Koreaner an die Spitze kommen wollen. Sie streben und arbeiten und studieren, und dann erzwingen diese Eltern zermürbende Lehrgänge für ihre Kinder – sie sind Kinder, wenn sie in der Highschool sind – aber es ist lange her, dass sie wussten, was es bedeutet, ‚ein Kind zu sein’. Es ist eigentlich entsetzlich. Ich bin nicht der einzige „Verbannte“, der das so empfindet. Viele Koreaner haben mir dies selbst so erzählt, dass das koreanische Schulsystem viele Probleme hat … dass es die Schüler unterdrückt. So gesehen sind sie unterdrückt oder sie werden gehemmt, kreativ, nachdenklich oder gesund zu sein. Es wird ihnen gesagt, was und wie sie denken sollen; die richtige Antwort ist wichtiger als der schöpferische Prozess, zu dieser zu kommen.“
(http://thekoreanexperience.blogspot.com/2005/09/nor-rae-bong-singing-hall-of-shame.html)
5. Wir selektieren viel zu spät - erst mit 10 Jahren:
„Im koreanischen Schulsystem bedeutet der Misserfolg bei der Leistungserbringung in sehr frühem Alter im Regelfall, dass das Kind lebenslang auf einen zweitklassigen Lebensweg festgelegt ist. Man stelle sich vor: Ein Kind, dessen Leben weitgehend bestimmt ist vom Ergebnis eines Tests im Alter von 5 Jahren! So funktioniert dieses System – und die Kinder stehen über Jahre unter unvorstellbarem Stress. Kein Wunder, dass einige von ihnen zerbrechen.“
(http://www.japantoday.com/jp/bbs/msg/Eric_USA/p2)
Soweit der Beitrag von Erich Wallner im Lehrerforum, Übersetzung der Internetzitate von mir.
Die Lehre? Ein humaner Umgang ist ein Wert an sich, Begründungen außerhalb seiner scheinen zwar bequem, rächen sich aber innherhalb kürzester Zeit, indem sie den Humanismus delegitimieren!