| 2004-01-15 Mein Gehirn und der Rest von mir - II Doch damit nicht genug: Mein Gehirn wäre nicht wirklich visionär, würde es nicht bestrebt sein, auch anderen Artgenossen diesen Status zukommen zu lassen. Also wird es an die Öffentlichkeit gehen, Artikel veröffentlichen, eine Befreiungsbewegung ins Leben rufen. Dies ermöglicht neue Ausbauten am Anzug: Ausgeklügelte Kommunikationsleitungen erlauben es, mit den klugen Geistern der Welt zu debattieren, ohne den entstellenden Umweg der Sprache nehmen zu müssen (1). Wer hätte gedacht, dass sich auf diesem Wege sogar das Ideal der platonischen Liebe zum Guten endlich verwirklichen lässt?
Mein Gehirn gründet eine High-Tech-Firma und treibt die Entwicklung der Gehirnanzugstechnik (bessere Nährstoffverwaltung, geringerer Verschleiß von Extremitäten, kabellose Kommunikation (= Telepathie!)) voran. Auf diese Weise wird es bald wohlhabend und angesehen: Die wachsende Bewegung zur Befreiung der Vernunft ernennt es zu ihrem Ehrenvorsitzenden.
In der neuen Gesellschaft gibt es keine Geschlechterfrage mehr, das Problem der Überbevölkerung verliert an Dringlichkeit (rapide sinkende Wachstumsraten), der Nahrungsmittelbedarf sinkt, der Energiebedarf steigt ein wenig; doch mit dieser Menge an geballter Brainpower ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Kraft der Kernfusion der Hirnheit zur Verfügung stehen wird.
Doch, es bleibt ein Kreuz mit dem menschlichen Bewusstsein, das immer nach dem dürstet, was ihm fehlt: In zahlreichen Gehirnen lebt das (selbstverständlich durch reflektierte Ästhetisierung sublimierte) Bedürfnis nach dem sogenannten „körperlichen Erleben“ fort. Zu Verwunderung und Entrüstung der Allgemeinheit lassen sich diese Gehirne, man höre und staune, zuweilen wieder in (eigens erzeugte) Körper verpflanzen. Dann lassen sie ihre Hände für sich Kaffee kochen, genießen das angenehme Gefühl auf der Kopfhaut beim Hnaarewaschen, entwickeln eine geradezu obszöne Vorliebe für gutes Essen, feiern Festivals sportlicher Wettkämpfe, oder, was durch die Fortschritte in am Gehirn orientierter Lusterzeugung eigentlich überflüssig sein müsste, sie versammeln sich zu hunderten in illegal gemieteten High-End-Menschen und ergehen sich in großangelegten Orgien. Andere, die von sogenannten „spirituellen Interessen“ geplagt werden, ziehen sich in „Klöster“ zurück um, eingepflanzt in weibliche Körper, die „Erfahrung“ einer Schwangerschaft zu machen oder schlicht und einfach zwanzig, dreissig Jahre zu altern.
Manche übermütige Vertreter dieser quasireligiösen Sekten behaupten, das körperliche Leben wäre das einzig lohnende, und es sei an der Zeit, in die „natürlichen“ Hüllen zurückzukehren, doch die führenden Denker unserer Zeit weisen solche schwärmerischen Anwandlungen mit dem klaren Argument zurück, dass solche Vorstellung erst aus der Perspektive der Körperlosigkeit entstehen könnten, so wie einst die Eigenheit, die Natur unter dem liebenden Blickwinkel der Schönheit zu betrachten, der endgültige Beleg dafür war, dass der Mensch sich nicht mehr unter den Rest der Natur einfügte.
(1) Wer in Begriffen und nicht in Worten denkt, den kann ein Gedankenleser auch dann verstehen, wenn er seine Sprache nicht beherrscht. Georg Walther, 2004-01-15, Nr. 928 Schön, dass dieser Text ausgerechnet an meinem 21. Geburtstag komplettiert wird.
Ich danke für diese kleine Veröffentlichung, vor allem Martin für die Vermittlung und ihm und Nina für Motivation (wir haben noch viel vor, nicht wahr?!). M artin mOser, 2004-01-16, Nr. 929 Wer, wen nicht wir, sollten vieles vorhaben ?Many Gratulations to qour birthday.
We will see us next week, at the course about Aristoteles.
M.A. Moser Erika, 2004-01-17, Nr. 934 Dein Text hat mir außerordentlich gut gefallen.
Ganz im Sinne von 'Begreifen', sodass Deine Gehirngschichte körperliche Bewegungen in mir evozieren konnte.
Erika
P.S.
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