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Andreas Exner

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2013-11-11

„Das weiße Band“: Michael Haneke filmt den Zweiten Weltkrieg vor dem Ersten – und umkreist das Rätsel der Emanzipation

Dieser Film ist unvergleichlich. Fast ähnelt einer Meditation, wie Michael Haneke die Sozialstruktur eines preußischen Dorfes am Vorabend des Ersten Weltkriegs beleuchtet: in langsamen, sepianahen Schwarz-Weiß-Bildern, ohne Musik, und ohne Schnörksel. Doch unvergleichlich macht „Das weiße Band“ insbesondere sein Erzählstil. Denn der 2009 erschienene Streifen spricht gerade über das, was nicht ausgesprochen wird; vielleicht, weil es unaussprechlich ist. Was er dagegen durchaus zeigt, und stellenweise ausgesprochen drastisch, das sind die Brutalitäten in dem Dorf, das Haneke wie eine Fallstudie auf die Fallstricke der Emanzipation und psychosozialen Wurzeln von Herrschaft hin untersucht.

Der System gewordenen Brutalität des Dorfes steht nur das zärtliche Band zwischen dem Dorflehrer und Ich-Erzähler und seiner Verlobten entgegen, einer Dienstmagd auf dem Gutsherrenhof – eine Enklave naiver Menschlichkeit, wie es scheint. Der Ich-Erzähler ist es auch, der den Rahmen dieser Filmnovelle setzt, die sich um vier rätselhafte Gewaltakte rankt. Zu Beginn des Films zieht sich der Dorfarzt schwere Verletzungen zu, als sein Pferd über einen unsichtbar gespannten Draht stolpert. Einige Zeit danach folgt die Züchtigung des Gutsherrensohnes, der im nächtlichen Wald fast krankenhausreif geprügelt wird. Später geht ein Teil des Gutsherrenhofes in Flammen auf, gefolgt von einer fast rituell anmutenden Züchtigung des behinderten Sohnes des Arztes. Die Täterinnen oder Täter bleiben unbekannt, ein das Dorf zutiefst verstörender Umstand.

Der Ich-Erzähler nun, der Stimme nach zu schließen schon in höherem Alter, erklärt am Anfang des Films, dass sein Bericht der vor langer Zeit geschehenen Ereignisse in dem Dorf, in dem er als Lehrer tätig war, einiges Licht, wie er meint, auf die Verhältnisse „in diesem Lande“ werfen würden, auf Deutschland also. Man erfährt nicht zu welchem Zeitpunkt der Ich-Erzähler spricht, doch ist zu vermuten, dass es sich um die Zwischenkriegszeit oder die Zeit des Zweiten Weltkriegs handeln muss.

Der Film schließt mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, dessen Ausbruch, so erinnert sich der Erzähler, von den Menschen im Dorf mit einer gewissen Erleichterung, ja, Euphorie, aufgenommen worden war; Erleichterung darüber, dass das Dorfleben nun zu Ende gehen musste, das der Erzähler an anderer Stelle noch als ein in seiner und der Sicht der Dorfleute „gottgewolltes“, ja „gutes“ Leben beschrieben hatte. Die Gewaltakte, so scheint es, haben den Krieg schon vor dem Krieg begonnen. Der Staatenkrieg im Ersten Weltkrieg tritt nur an die Stelle des sozialen Krieges im Dorf.

Vieles spricht dafür, dass alle vier Gewalttaten von den Kindern des Dorfes verübt worden waren, unter Führung der älteren Tochter und des älteren Sohnes des protestantischen Pfarrers. Daher die Metapher des weißen Bandes, das der Pfarrer den beiden Ältesten umbindet, nachdem sie ohne Erlaubnis bis spätnachts mit den anderen Kindern zusammen weggeblieben waren. Als Erinnerung an die Unschuld, die sie als Kinder zu verkörpern hätten, wie er ihnen predigt; bevor er sie wie in einem Ritual bestraft. Davon handelt diese „deutsche Kindergeschichte“, wie der Untertitel heißt.

Dieser Film also irritiert, und er tut dies vor allem auf zwei Ebenen:

Einesteils, weil Kontext und damit Motiv der Erzählung selbst keineswegs in der zwar dramatischen, aber als solche quasi belanglosen, minutiösen Schilderung der unterdrückerischen Sozialstruktur eines noch halb feudalen Dorfes am Vorabend des Ersten Weltkriegs liegen. Dieser Kontext und dieses Erzählmotiv sind vielmehr in einer Erhellung der besagten Verhältnisse „in diesem Land“ zu suchen, die Verhältnisse eines schon nicht mehr rational begreifbaren Krieges und einer katastrophischen Vernichtung sind, also gerade in dem Element des Films beschlossen liegen, das einem durch die Erzähl- und Bildgewalt gebannten Zuseher fast zu entgehen droht.

An einer Stelle im Film etwa erwartet der Zuseher dem Kontext der Handlung folgend, dass der Gutsverwalter dem Gutsherr vom Fund der Pfeife berichtet, die dem Gutsherrensohn von dessen Sohn abgenommen worden war, wofür der Verwalter ihn mit Fußtritten und Peitsche gezüchtigt hatte. Stattdessen meldet der Verwalter dem Gutsherren, in einer Szene, die der Bestrafung seines Sohnes folgt, nur in knappen Worten von der Ermordung des Erzherzogs Ferdinand. Das scheinbar apolitische Dorf ist integraler Teil einer kriegspolitischen Landschaft, deren soziale Basis es bildet.

Anderenteils irritiert der Film, weil die Gewalttaten selbst, insbesondere die beiden Züchtigungen – einmal des Gutsherrensohnes, das andere Mal des behinderten Arztsohnes –, im ersten Augenblick ganz unverständlich sind. Während die Tortur des Ersteren noch legitim erscheinen mag – man könnte meinen, sie richte sich gegen die im Dorf vermutete Schuld des Gutsherren am Tod einer armen Bauersfrau – wirkt die Folter des Arztsohnes selbst nur barbarisch. Ein Bekennerbrief zu dieser zweiten Tat zitiert aus der Bibel jene Worte, wonach für die Missetaten der Väter die Nachkommen noch bis ins zweite und dritte Glied bestraft werden würden; Worte des Pastors, wie man sich denken könnte, die nun die Hand der von ihm gedemütigten Kinder niederschreibt.

Der Arzt verkörpert in der Tat eine sexistische und rohe Gewalt, die eine Bestrafung erklärlich machen könnte; und so wäre auch der gespannte Draht zu verstehen, über den sein Pferd strauchelt, ihn zu Fall und mehrere Monate ins Krankenhaus bringt. Doch warum muss sein behinderter Sohn leiden? Wofür? Ein Bub, der seine Behinderung aufgrund einer fehlgeschlagenen Abtreibung erlitten hat, wie man im Dorf munkelt – der Zuseher erfährt es erst zum Schluss. Diese Abtreibung hätte von der Schande ablenken sollen, dass seine Mutter die Hebamme des Hauses war. Zu allem Überdruss verdächtigt das Dorf sie auch noch der Komplizinnenschaft mit dem Arzt in der vermuteten Ermordung seiner früheren Gattin. Am Ende des Films fliehen Arzt und Hebamme überstürzt mitsamt dem Sohn und der Tochter, die der Arzt sexuell missbraucht, aus dem Dorf. Die Hebamme hat, wie es heißt, vom behinderten Sohn selbst erfahren, wer die Tat an ihm begangen habe.

Was sagt dies alles?

Einen Film zu erklären ist nicht das Gleiche wie einen Film zu sehen. Die Zweideutigkeiten und Leerstellen der Erzählung, ihre irritierend übereinander gelegten Ebenen, bergen Botschaften eigener Qualität, die eben einen Film vonnöten machen. Doch bietet das Schreiben über einen Film, über diesen Film, die Gelegenheit, eine politisch interessante Schlussfolgerung zur Diskussion zu stellen: mehr als eine Frage denn als eine Antwort, wie auch der Film selbst kaum Antworten gibt.

Die Unterdrückten, und das sind im Film zuerst einmal die Kinder, die vom Masturbationsverbot bis zu systematischen Schlägen alle Folter der „Schwarzen Pädagogik“ in dem Sinn erleiden, den Alice Miller in „Das Drama des begabten Kindes“ unter anderem an der Biographie von Adolf Hitler exemplifiziert hat, die Unterdrückten also wenden selbst die Methoden der Unterdrücker an. Diese Methoden haben sie an eigenem Leib gelernt, dieser Leib hat gelernt diese Methoden zu verkörpern.

Sie wenden diese Methoden, paradox vielleicht, genau dann an, als sie sich gegen die Unterdrückung zu wehren beginnen. Freilich bleibt das eigentliche Motiv der Kinder im Unklaren: Exekutieren sie nur die inoffizielle moralische Ordnung des Dorfes, das täglich die in es eingelassenen vielfältigen Strukturen von Herrschaft reproduziert und agieren sie daher lediglich als Vollstrecker einer feudal interpretierten Herrschaft, einer puren Überlebenslogik, die etwa an dem Gutsherren als solchem nichts auszusetzen hätte, solange er Brot und Arbeit gibt? Oder steckt gerade im Angriff auf den Gutsherren, die höchste ökonomische und soziale Autorität im Dorf, die seine Strukturen der Abhängigkeit und Hörigkeit zuspitzt und absichert, ein emanzipatorisches Moment? Ist das Moment des Sich-Wehrens nur die Transformation vom Opfer zum Täter, die die Kinder durchlaufen? Handelt es sich also nur um ein Abstreifen der eigenen Ohnmacht durch die Verohnmächtigung anderer?

Immerhin, so möchte man fast sagen, tötet die älteste Tochter und ob ihrer Gewitztheit vielleicht auch Rädelsführerin nach einer demütigenden Bestrafung durch ihren Vater, den Dorfpastor, dessen geliebten Singvogel – eine Handlung, deren Sinn als Akt der anders nicht mehr möglichen Opposition der Vater wohl zu verstehen scheint, wenngleich auch dies offen bleibt. Immerhin also, denn hier äußert sich der Widerstand gegen die Unterdrückung als fast schon direkter Widerstand gegen den Unterdrücker; und zugleich gegen die Verkörperung der Ideologie, den Pastor, die das Dorfleben legitimieren soll und essenzieller Teil von dessen Apparatur der Unterordnung ist.

Doch die Unterdrückten greifen eben nicht nur selbst zur Gewalt, sie wenden sie auch keineswegs nur gegen die tatsächlichen oder vermeintlichen Ursachen der Unterdrückung an, in dem Fall den Gutsherren, stellvertretend ausgeübt an seinem Sohn und der Scheune, und dem Dorfarzt, der die Hebamme demütigt, ausnutzt und vielleicht noch mehr auf dem Gewissen hat. Die Unterdrückten strafen, womöglich nachdem der Sturz des Arztes vom Pferd nicht den Wegzug der Familie bewirkte, nicht etwa den Arzt erneut, sondern nun seinen Sohn, ein auf die Hilfe der Anderen restlos angewiesenes, in bestem Sinne unschuldiges Wesen, das, wie man erfährt, von den Kindern im Alltag eher gemieden oder verspottet wird, also noch weit mehr der Befreiung bedürfte als sie. Und wer weiß, vielleicht hat eines der Kinder auch den versuchten Mord an einem kleinen Geschwisterchen im Babyalter, das sich am geöffneten Fenster fast zu Tode erkältet, auf dem Gewissen.

Und genau hier liegt die Hauptbotschaft des Films, fast möchte man sagen: vergraben. Denn es sind diese Kinder, die selbst gedemütigt, drangsaliert, geschlagen und vergewaltigt werden, die der Ich-Erzähler als die Recken des Nazismus oder seine Vollstreckerinnen und Vollstrecker vor Augen haben muss. Sie sind es, die schon in dem Dorf am Anfang des Ersten Weltkrieges das proben, was erst später zur Weltkatastrophe führen wird. Die „konformistische Rebellion“, die der Nationalsozialismus darstellt, hat ihren zweideutigen Vorläufer in Dynamiken wie den in „Das weiße Band“ geschilderten: Rebellische Momente, die, selbst herrschaftlich strukturiert, in einem neuen Konformisus enden.

Die Befreiung, die der Erste Weltkrieg dem Dorf durch die endgültige Zerstörung der halb feudalen Scheinidylle bringt, von der der Ich-Erzähler berichtet, war historisch nur die Vorbereitung der noch größeren Zerstörung in den Abgrund menschlich Unermesslichen hinein, den der Zweite Weltkrieg bedeutet hat. Michael Haneke setzt historisch betrachtet genau am richtigen Zeitpunkt an: bei einem Dorf, in dem die große Politik nicht zu existieren scheint, wo aber, an einem Einzelfall geschildert, die sozialen und psychischen Grundlagen für die Jahrzehnte späteren Gewalttaten gelegt worden waren.

Und in der Tat: Im Rückblick historischer Studien erscheint es fast so, als wäre die Entwicklung hin zum Zweiten Weltkrieg nach den gesellschaftlichen Brüchen, die der Erste Weltkrieg setzte, beinahe unvermeidlich gewesen. Sicherlich, soziale Kämpfe gegen Herrschaft und Not hatten alternative historische Möglichkeiten erahnen lassen und waren politisch einflussreich. Doch nicht nur „Das weiße Band“ lässt einen fragen, was davon wirklich in der Lage gewesen wäre, die Brutalität, die Haneke am Beispiel des Dorfes darstellt, zu überschreiten, hinter sich zu lassen.

Die Trennlinie zwischen den Unterdrückten und den Unterdrückern erweist sich als eine relative. Der Fragment bleibende, irregeleitete Schlag der Befreiung, der nicht auch oder nicht vor allem die inneren Strukturen von Herrschaft angeht, die von äußerer Herrschaft durchgesetzt werden und als äußere Herrschaft zur Geltung kommen, kann das Gegenteil von Befreiung sein. Dabei macht der Film zugleich deutlich, dass die Unterdrücker Unterdrückte eigenen Ranges sind: keiner aus der Dorfelite ist glücklich, auch wenn deren sozialer Status den der Anderen weit übertrifft.

Zu fragen also ist nicht nur: Wie hätte Befreiung in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg aussehen müssen? Denn der Film von Haneke umkreist ein Rätsel, das zu lösen ganz zentral sich täglich in der sozialen Auseinandersetzung stellt. Wie sehen befreiende Bewegungen heute aus?

Der Autor dankt Isabelle Schützenberger für spannende und wertvolle Einsichten in die kinotheoretischen Hintergründe von Michael Haneke und „Das Irritierende im Film“

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