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Andreas Exner

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2013-07-08

Zomia analog. Lesbarkeit digital

Die Enthüllungen rund um das US-Abhörprogramm PRISM und die Verfolgung von Whistleblower Edward Snowden zeigen, wie es um die Autonomie des Individuums steht: äußerst schlecht. Längst werden der Bewohner und die Bewohnerin der bürgerlichen Gesellschaft total verwaltet und gehörig überwacht. Dagegen erweist sich die Kontrolle, die etwa noch der DDR-Staat seinen BürgerInnen angedeihen ließ, als eher maßvoll im Vergleich.

Der kybernetische Mensch

Der digitale Krisenkapitalismus hat sich zu einem kybernetischen System ausgewachsen, worin der lebendige Mensch kaum mehr als eine Stellgröße von ihn umgreifenden Apparaturen ist. Der Philosoph Byung-Chul Han bezeichnet dieses System als ein digitales Panoptikum. Was der liberale Ideologe Jeremy Bentham im 18. Jahrhundert als ein perfektes Gefängnis konzipierte, und kaum je plangetreu gebaut worden ist, das verwirklicht sich nun im Internet.

Ich kann mich noch an Debatten in Le Monde Diplomatique Anfang der 1990er Jahre erinnern, die sich um die Frage drehten, ob man das Internet begrüßen solle. Heute kann man einerseits nur mehr darüber lächeln, mit welch unbekümmerter Redlichkeit da Einige noch vor rund zwanzig Jahren eine Technologie als gestaltbar, ja, als aufhaltbar betrachteten, die heute den meisten im globalen Norden zu einer zweiten Natur geworden ist. Andererseits muss man darüber erschrecken, wie manche Befürchtungen von damals Wirklichkeit geworden sind.

Die Überwachungssoftware "Riot" des US-Rüstungskonzerns Raytheon, auch "Google für Spione" genannt, erstellt sowohl Bewegungsprofile als auch Prognosen für das zukünftige Verhalten der Zielpersonen, indem sie unter anderem für jeden zugängliche Daten aus sozialen Netzwerken auswertet. Mit ein paar Klicks wird das ganze private Umfeld der Zielperson auf dem Bildschirm ausgebreitet.

berichtet Byung-Chul Han. Und Viktor Mayer-Schönberger, der sich mit Internet Governance und Regulation befasst, erläutert, wie Firmen und staatliche Apparate aus der Korrelation der unzähligen leicht verfügbaren Informationen, die wir alle fast täglich im Internet hinterlassen, statistische Aussagen über das künftige Verhalten von KundInnen und BürgerInnen treffen.

Big Brother heißt heute Big Data, so Mayer-Schönberger:

Mit Big Data lassen sich diese Korrelationen erkennen: aus kleinsten Veränderungen des Einkaufsverhaltens erkennt etwa die Firma Target in den USA mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass eine Kundin schwanger ist (sogar der Geburtstermin lässt sich relativ genau vorhersagen). Ein amerikanischer Finanzinformationsdienstleister ermittelt aus vordergründig völlig banalen soziodemografischen Daten die Wahrscheinlichkeit, wie verlässlich jemand seine Medikamente einnimmt. Lediglich aus dem Freundeskreis auf Facebook lässt sich vorhersagen, ob jemand wahrscheinlich homosexuell ist, oder ein Scheidungskind. 30 Bundesstaaten in den USA nutzen empirische Datenanalyse um vorherzusagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Häftling, der einen Antrag auf vorzeitige Entlassung stellt, in den nächsten zwölf Monaten wieder in eine Schießerei verwickelt wird.

Der Blick des Staates

In seinem großartigen "Seeing Like A State", auf Deutsch "Der Blick des Staates", beschreibt der Anthropologe James Scott eine entscheidende Technik des Staates, die Herrschaft über die Gesellschaft, in der er wurzelt, zu gewinnen und auszubauen. Der Staat, so Scott, unterwirft die Gesellschaft einem abstrakten Raster von Codes, die vorgeblich beschreiben sollen, wie sich Menschen verhalten, um so ihr Leben zu verbessen. Tatsächlich jedoch richten sie die Gesellschaft so zurecht, dass sie für den Blick des Staates überhaupt erfassbar, lesbar wird. Und richten damit häufig Katastrophen an. Denn diese Techniken intendieren nichts anderes als Herrschaft.

Ein Beispiel für diese Technik der Lesbarmachung von sozialen Verhältnissen durch den Staat ist die Entstehung von Familiennamen, mit deren Hilfe der frühmoderne Staat seine BürgerInnen in spe verfolgbar machte; die Durchsetzung von Hausnummern ist ein anderes. Weitere Beispiele sind die Entwicklung von Katasterplänen, ebenso wie die Normierung von Maßen und Gewichten, oder die von oben geordnete Planung von Städten.

Die selbstorganisierte Ordnung etwa einer mittelalterlichen Stadt ist für den Staat schwer lesbar. Die Polizei des frühmodernen Gewaltapparats verirrt sich darin, präzise Karten existieren nicht, sie können das Winkelwerk der Gässchen und das Geflecht der Zubauten auch kaum erfassen. Aufstände sind darin nur mit Schwierigkeiten zu bekämpfen. Ein rechtwinkeliges System aus Boulevards und übersichtlichen Straßen dagegen bietet dem Staat einen erheblichen Vorteil.

Ebensowenig kann der Staat in dem für seinen Blick unlesbaren Gewirr sich überlappender, flexibler Nutzungen in einer Welt der bäuerlichen Gemeingüter und frei zugänglicher Ressourcen eine effiziente steuerliche Ordnung einführen. Der steuerliche Parasitismus des Staates erfordert zu allererst eindeutige und festgelegte Bezüge zwischen einzelnen LandnutzerInnen und dem Grund und Boden, den sie bestellen.

Zomia

Das an "Seeing Like a State" anschließende Buch von James Scott behandelt folgerichtig die "Kunst nicht regiert zu werden", im Original "The Art Of Not Being Governed". Darin zeichnet Scott ein beeindruckendes Bild der riesigen und bis in die jüngere Vergangenheit staatenlosen Region im Grenzbereich zwischen China, Vietnam, Kambodscha, Laos, Thailand, und Burma. Schon der Historiker Willem van Schendel hat sie vor Scott als Zomia bezeichnet: 2,5 Millionen Quadratkilometer groß, mit heute etwa 100 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner.

Zomia war für den Blick des Staates sozusagen eine Nicht-Region, definierte sie sich doch gerade über ihre Tradition der Staatenlosigkeit. Sie beherbergt heute gerade aus diesem Grund viele so genannte ethnische Minderheiten, deren Identität, so Scott, sich hauptsächlich aus ihrer Abwehr staatlicher Strukturen herleitet.

Gründlich zerstört Scott den Mythos, wonach es das Höchste für den Menschen sei, in einem Staat zu leben. Dies ist erst ab dem Zeitpunkt der Fall, als die Welt restlos von Staaten unter sich aufgeteilt wird. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg war dies in Zomia de facto nicht der Fall, vor allem aufgrund der Unzugänglichkeit des gebirgigen Terrains.

Deshalb kann man die Geschichte Südostasiens nur als eine Oszillation zwischen zwei Polen beschreiben, die sich wechselseitig bedingten: einerseits den Staaten, die sich ihre Subjekte als Sklaven fangen mussten und unterjochten; andererseits denen, die sich dem Staat entzogen.

Rebellionen waren in den an den riesigen Fluchtraum Zomia grenzenden Staaten offenbar kaum erfolgreich, jedenfalls nicht darin, die verfestigte soziale Ungleichheit zu zersprengen, die ein Staatswesen bedeutet. In hohem Maße gelang dies jedoch jenen, die sich in wiederkehrendem massenhaften Exodus dem Staat entzogen.

Die Gesellschaften Zomias zeigen eine Reihe von Anpassungen, die sie sozusagen staatsabweisend machen. Ihre Identitäten sind enorm flexibel und plural, häufig zeichnen sie sich durch relativ große Egalität aus, jedenfalls aber durch die Möglichkeit des jederzeitigen Splits. Benachteiligte Gruppen konnten sich ohne allzugroße Schwierigkeiten von entstehenden Machteliten trennen. Nicht selten wurden Chiefs ermordet oder davon gejagt, die ihre Position allzu ernst genommen hatten; jedenfalls ist dies ein charakteristisches Element der Legenden Zomias. Politische Allianzen wurden ad hoc geschlossen und bestanden bestenfalls in losen Konföderationen. Anstelle der leicht zu kontrollierenden Nassreiskulturen der Staatswesen im Tiefland dominierte in Zomia der Rotationsfeldbau mit wechselnden Wohnorten, der kaum besteuert werden kann, zumeist ergänzt durch Sammeln und Jagen.

In allen Facetten richteten sich die Gesellschaften Zomias darauf aus, sich dem Staat durch Flucht in unwegsames Gelände zu entziehen, und ihren Lebensunterhalt und ihre soziale Struktur für seinen Blick unlesbar zu machen.

Exodus aus der digitalen Überwachung

Was hat der Blick des Staates, was hat Zomia mit der digitalen Überwachung zu tun?

Nun, digitale Medien machen soziale Beziehungen auf extreme Art für den Staat lesbar, der sonst an der ihnen innewohnenden Komplexität, Wandelbarkeit und Undurchsichtigkeit scheitern müsste. Damit rückt ein Ziel in seine Reichweite, das bisher trotz aller perfektionierten Kontrolle utopisch schien: die Vorhersage oder zumindest das Eingrenzen gesellschaftlichen Verhaltens und die präventive Reaktion darauf. Die Gesellschaft, so die Tendenz, würde sich in ein Set von Variablen und die ihren Verlauf beschreibenden Funktionen auflösen lassen.

Kann man sich innerhalb der digitalen Vermittlung der Überwachung entziehen und damit das an Autonomie zurückholen, was noch die bereits durchstaatlichte Gesellschaft der 1970er Jahre oder der 1980er ausmachte?

Auszuschließen ist es nicht, Grund zur Skepsis aber gibt es. Die in einer Gesellschaft der Konkurrenz und der Kontrolle vorherrschenden und damit auch die darin herrschenden Technologien lassen sich wohl nicht beliebig zweckentfremden. Zu fragen ist, ob eine bottom up surveillance der Überwachungsqualität des digitalen Panoptikums grundsätzlich überhaupt beikommen kann; oder ob die klassische bürgerliche Antwort auf das Allmachtsstreben des Staates, nämlich die Verteidigung der eher ungenießbaren liberalen Freiheit der Privatsphäre, die ja nur das ihr zugeordnete, private Eigentum ins Intime hinein verlängert, noch auf der Höhe der Zeit selbst einer nur gemäßigten Freiheitsstrebung liegen kann.

Die Gesellschaften Zomias vor dem Zweiten Weltkrieg, als die fossilen Ressourcen noch nicht die Distanz zwischen ihnen und den Machtzentren im Tiefland radikal komprimiert hatten und dem Staat Zutritt und Einblick verschafften, fanden ihr Refugium von Natur aus vor - ein Privileg, das sie mit vielen auf die Berggebiete verwiesenen Kulturen der autonomen Vielfalt gemein hatten, vom Atlas bis zum Balkan.

In einer restlos in Staaten aufgeteilten Welt hat sich der Spielraum der Autonomie so gesehen unerhört verengt. Man könnte vielleicht darauf hoffen, dass dem Blick des Staates ein wenig von seiner Sehschärfe abhanden kommt, wenn die Versorgung mit fossilen und anderen Ressourcen, derer er bedarf, zurückgeht. Doch noch eine andere, näher liegende Hoffnung könnte am Horizont der digitalen Überwachungsära aufscheinen: der Exodus.

Dieser Exodus selbst, individuell praktiziert, könnte in einer nicht allzu fernen Zukunft schon zu einer Art geheimdienstlich verfolgbarem Verdachtsmoment geraten. Sind alle online, so fällt einer offline auf. Ein solcher individueller Exodus bliebe jedenfalls vorerst wirkungslos und würde in einer Welt der total Digitalisierten vor allem einmal die Einbuße an sozialer Teilhabe bedeuten. Die schmerzt in einer Gesellschaft knapper Anerkennung wohl mehr als eine autonomiebedürftige Gruppe von ZomianerInnen im 19. Jahrhundert eine Trennung von ihrem Dorf, dem für sich weder Ehrerbietung galt noch eine herausgehobene existenzielle Bedeutung zukam. Doch könnte dieser Exodus vielleicht einen Ausweg in ein Land jenseits der totalen staatlichen Kontrolle bieten, wenn ihn eine Generation von no digitals betreibt, die sich auf verschiedenen Ebenen ein Zomia des 21. Jahrhunderts erschließen.

Das kann schwerlich eine Autarkie, noch muss es auch nur ein von Anderen abgeschlossenes Leben bedeuten. Auch die Gesellschaften Zomias blieben mit den Staaten des Tieflands in Kontakt, doch zogen sie den Austausch nach eigenen Bedingungen einem Leben in Unfreiheit vor.

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