2003-02-05
Letzten Sommer-Teil II
15. Februar 84. Ein ganz normaler Tag. Es ist zwar noch kalt aber das Schlimmste scheint
schon überstanden zu sein. Nun wird es an der Zeit sich auf den Weg zu machen das Auto,
welches er gestern zwei Blocks entfernt von der Kneipe, in der er seinen Kummer ertrank
stehen lies, zu holen. Nur, - verdammt wo war das noch. Wo hat er sich eigentlich gestern
verloren. Wieder einmal mittels Alkohol das Hirn kurzzeitig zum Stillstand gebracht.
Er verlangsamt seinen Schritt und saugt die frische Luft noch tiefer in die Lunge.
Nur nicht nervös werden. Es wird sich schon alles regeln, bis sieben muß er den Wagen
gefunden haben denn um acht beginnt sein Dienst. Ein Dienst als Arzt. Um Gotteswillen warum
wurde er eigentlich Arzt. Der Drang zu helfen, die Welt zu verbessern etwas Gutes zu Tun?
Er weiß es nicht mehr, ist ihm auch egal. Zurzeit ist er Arzt und da muß er durch.
Die ewigen Überstunden die wegen Personalmangel zu leisten sind oder die gestreßten Kollegen,
das muß einen ja zum Schaffen machen. Und da kommt noch die Verantwortung dazu die man
gegenüber seinen Patienten hat. Nichts desto trotz muß er jetzt sein Auto finden und zwar
bald, denn viel Zeit bleibt ihm nicht mehr.
Okay, - das wäre erledigt. Ecke Simsstraße, Europaweg steht also sein Wagen was bedeutet
das er wieder im Cut Inn war. Dieses schäbige Café das ihn immer wieder anzieht. Nichts deutet
auf Eleganz in diesem Lokal und doch ist hier etwas, was ihn fasziniert. Vielleicht, weil
dieser Schuppen mit ihm spricht, diese Atmosphäre die er so aufsaugt, - ja das muß es wohl sein.
Er ist ein Mensch der solche Sachen ungemein genießen kann und es kommt vor das er hängen bleibt.
Nur in letzter Zeit zu oft. Zu viel Alkohol. Zu wenig bei der Familie. Doch in der Familie
kann er sich sowieso nicht zurücklehnen hier muß er stark sein, er ist doch der Mann.
Anlaufstelle für Sorgen der Kinder und auch seiner Frau, die er so liebt. Er wird auch immer
für alle da sein, das erwarten sie ja.
Seit seine Frau an diesem Nervenleiden, das niemand richtig definieren kann, erkrankt ist
wird es aber immer schwieriger. Immer schwieriger für ihn diesen gesellschaftlichen Weg zu gehen.
Diesen Weg der eine gewisse Routine beinhaltet wie zur Arbeit gehen, nach Hause kommen, Familie
versorgen schlafen und wieder von vorn. Da sind nur diese gewissen Stunden die er sich nimmt
um er selber zu sein nur spürt er es auch, daß das auf Dauer nicht die Richtung sein kann,
die er gehen will. Denn über kurz oder lang braucht man den Alkohol und dann ist es zu spät.
Das weiß er aus beruflicher Erfahrung. Obwohl er Verständnis hat für feinfühlige Menschen,
welche den Weg leider zu weit gegangen sind, muß etwas dagegen getan werden. Denn die Folgen
für den Betroffenen und seine Angehörigen sind schlimm. Die sogenannte Gesellschaft läßt einen
schnell fallen und will nichts mehr zu tun haben mit Menschen die es nicht geschafft haben
diesen ewigen Kampf zu bestehen. Menschen die aufgehört haben zu kämpfen, weil sie keinen Sinn
darin gesehen haben.
Zur Zeit hat er aber andere Sorgen; er muß pünktlich sein. Es passierte ihm schon zu oft das
er zu spät kam. Das gehört sich für einen angesehenen Arzt nicht, - sagt man.
Zwei vor acht. Gerade noch. Alles ging seinen gewohnten Lauf, ein Arbeitstag wie jeder andere.
Der Abend mit der Familie - nett, erholsam, beruhigend.
Eigentlich könnte er zufrieden sein. Wäre da nicht dieses unbestimmte Gefühl das irgend etwas
nicht stimmt. Möglicherweise nur ausgelöst durch den Druck unter dem er beruflich steht.
Wird schon nichts sein. Obwohl das normalerweise nicht seine Art war, hat er heute keine Lust
sich Gedanken zu machen. Als er in die Küche ging um sich ein Glas Wasser zu holen war es wieder
da. Verdammt will ihm seine Feinfühligkeit Ärger machen?? Irgend etwas lies seine Füße schneller
werden. An diesem Abend, den er nie vergessen wird erlebte er seine Frau das erstemal in diesem
Gemütszustand. Aphartisch saß sie am Küchenboden und urinierte. Durch seine Überraschung konnte er
zuerst nicht reagieren obwohl er wußte das er etwas machen muß. Der erste klare Gedanke der ihn
streifte war, das die Kinder ihre Mutter auf keinen Fall so sehen dürfen. Er schüttelte sie wie
ein Wahnsinniger an den Schultern. Da sie aber nicht reagierte wurde seine Hilflosigkeit noch
größer.
Nun war er völlig auf sich gestellt, ohne Ratschläge seiner geliebten Frau, die ihm immer sehr
viel Wert waren. Natürlich konnte er sich von seiner Frau nichts erwarten Sie war ja diejenige
die dringend Hilfe brauchte. Zum erstenmal in den 25 Jahren die sie sich kannten war seine Frau
so hilflos. Der Schock traf ihm ganz tief im Herzen.
Der herbeigerufene Arzt, ein alter Studienkollege, stellte Julia mittels Beruhigungsmittel still.
Gut dachte er, dies hätte er auch tun können aber seine Hilflosigkeit war zu groß. Als Julia am
nächsten Tag erwachte war sie wieder die Alte. Die, die er kannte. Und sie konnte sich an nichts
mehr erinnern, lachte ihn sogar aus, fühlte sich auf den Arm genommen. Aber leider häufte sich
der Zustand in den nächsten Monaten und nie konnte sie sich erinnern. Das machte die Sache
natürlich schlimmer. Wie soll man jemanden von einer Krankheit therapieren von der er nicht weis
das er daran leidet? Natürlich hörte er sich im Kollegenkreis um ohne Verdacht auf seine Frau zu
lenken. Auch bei seinen Studienkollegen, der ihm beim ersten Anfall half, suchte er Rat und bat
ihm gleichzeitig um Diskretion bis sich alles aufgeklärt hätte. Doch alles ohne nennenswerte
Ergebnisse. Natürlich wußte jeder von ähnlichen Fällen, aber diese Abfolge des Geschehens wie er
sie schilderte war sogar den Ältesten und Erfahrensten unter ihnen neu.
Bis jetzt konnte er die Wahrheit auch von den Kindern fernhalten, jedes Mal noch lag Julia
bereits gewaschen im Bett und schlief friedlich. Gut, warum Mutter manchmal schon schlief, wenn
sie von der Schule kamen verwunderte die Kinder schon aber sie waren noch zu klein um Schlüsse
zu ziehen. Das Leben gestaltete sich für ihn noch schwieriger als es ohnehin schon war.
Die Anfälle seiner Frau wurden zwar nicht häufiger aber sie wiederholten sich mit einer
Regelmäßigkeit die ziemlich an seiner Energie zehrte. Noch dazu, das sie nichts von ihren
Anfällen wußte. Das ganze war auch ziemlich unberechenbar so das man z.b. keine Gäste einladen,
geschweige ausgehen konnte. Jedes Mal mußte er sich eine Ausrede einfallen lassen, den, wenn er
ihr den wahren Grund zu erklären versuchte hielt sie ihn für verrückt. So pendelte sein
Leben zwischen Streß und Sorgen. Sicherlich dachte er, ist er nicht der einzige der so eine
Belastung zu ertragen hat. Mitleid hatte er noch nie mit sich, was in diesem Fall aber
vielleicht besser gewesen wäre.
Nervlich ging es ihm natürlich auch nicht gut, wie gesagt feinfühlig war er immer schon,
wollte nur das Beste für seine Familie ohne um sich selbst zu kümmern. Um seine Bedürfnisse,
die er selbst nicht richtig verstand weil er sich im Grunde genommen nicht ganz sicher war, was
es war, das er brauchte um ein ausgeglichener zufriedener Mensch zu sein. Für Fußball oder das
Fernsehen, wie seine Umgebung interessierte er sich nicht, er wollte mehr. Mehr Kunst,
mehr Kultur oder Gespräche, sowie tiefsinniges Denken. Doch diesen Denken kann auch zum
Verhängnis werden. Tiefsinniges Denken ruft eine gewisse Unzufriedenheit hervor die für
feinfühlige Menschen gefährlich sein kann. Aber hier ist er wieder mitten im tiefsinnigen Denken.
Und genau dieses Denken brachte ihn hierher. An die Brücke. Ein paar Gläschen Gin hatte er
schon intus als er sich ungewöhnlich ruhig auf den Weg zur Brücke machte. Warum gerade diese
Brücke hatten wir schon besprochen - Sie erinnern sich?
Sie hätte sich nicht scheiden lassen dürfen, nicht von ihm, wo er so viel für sie getan hatte.
Und auch die Kinder gegen ihn aufhetzen war nicht Gerecht von ihr. Das hatte er nun wirklich
nicht verdient. Auch das sie sich über ihn lustig machte, traf ihn sehr.
Nun, es ist erledigt. Sie werden ihn finden. Jetzt kann er endlich entspannen, ausgeglichen
sein etwas was er immer schon wollte. Nur dachte er nie daran das er "diesen" Weg gehen mußte
um sein Ziel zu erreichen.