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2005-06-06

Widerstand und Verfolgung im Oberen Drautal

Überblick und Beispiele

Vortrag von Peter Pirker bei kuland, Berg/Drautal, 7. Februar 2004
(Die Bereitstellung der zur Zeit noch fehlenden Fussnoten ist in Arbeit)

Inhalt

I.Vorbemerkungen, grundsätzliche Überlegungen, Zugang
II.Beispiele für Verfolgung und Widerstand im Oberen Drautal
III.Schluss und Ausblick

I. Vorbemerkungen, grundsätzliche Überlegungen, Zugang

Der Nationalsozialismus hat in den Jahren seiner Herrschaft Millionen von Menschen vernichtet. Opfer gnadenloser und systematischer Verfolgung wurden vor allem Juden und Jüdinnen und als rassisch minderwertig bezeichnete Menschen wie Sinti und Roma. In Kärnten verfolgten die Nationalsozialisten zudem besonders Angehörige der slowenischen Volksgruppe. Wer dem NS-Regime aus politischen, ideologischen, religiösen, sexuellen oder sozialen Gründen nicht genehm war, musste ebenso mit Verfolgung rechnen, wie jene, die dem NS-Regime nicht Folge leisteten oder ihm gar Widerstand entgegensetzten.

Der millionenfache und planvoll betriebene Mord an den europäischen Juden wurde zum Großteil in den Vernichtungslagern im besetzten Polen (Treblinka, Sobibor, Belzec, Chelmno, z.T. Majdanek, Auschwitz-Birkenau1) ausgeführt. Viele der Täter in diesen Lagern stammten aus Österreich, einer der Hauptverantwortlichen für die Organisation des Massenmordes in den Vernichtungslagern war der Kärntner Odilo Globocnik.2 Einige seiner engsten Mitarbeiter kamen ebenfalls aus Kärnten.3

Hunderttausende Menschen wurden in Konzentrationslagern von den SS-Wachmannschaften getötet, etwa in Mauthausen, Dachau, Buchenwald, San Sabba, Jasenovac oder Dora/Nordhausen. Sie wurden erschossen, erhenkt, totgeschlagen oder starben an Unterernährung, Krankheiten und Erschöpfung durch die Sklavenarbeit in den angeschlossenen Steinbrüchen und Industrieanlagen.

Diese Tatsachen sind allgemein bekannt. Zugleich scheint es, als sei das alles fern von uns passiert und es gebe eine große zeitliche und räumliche Distanz zwischen uns und diesen Untaten. Das stimmt nicht. Die Menschen, die von den Nazis in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern getötet worden sind, lebten zuvor in Städten und Dörfern. Dort wurden sie festgenommen, dort wurden sie „abgeholt“, dort waren sie vorher denunziert worden, dort begann ihr Leidensweg. Die zentrale Idee des Nationalsozialismus – der Antisemitismus – wurde von weiten Teilen der Bevölkerung geteilt, die Aussonderung, Vertreibung und Deportation der jüdischen Bevölkerung wurde gut geheißen, direkt oder indirekt profitierte die „arische“ Bevölkerung davon auch in beträchtlichem Ausmaße materiell, nicht-jüdischen Widerstand dagegen gab es nur vereinzelt.

In den Dörfern des Oberen Drautales gab es vor 1938 keine jüdische Bevölkerung, deshalb gibt es auch keine jüdischen Opfer. Die jüdischen Familien, die bis 1938 in Spittal und Lienz gelebt hatten, wurden vertrieben oder im Holocaust getötet.

Im Oberen Drautal lieferten Anhänger und Funktionäre des NS-Staates Menschen der fürchterlichen Gewaltmaschinerie des NS-Staates aus – weil sie als politische Gegner galten, weil sie sich abfällig über den Führer und den deutschen Angriffskrieg äußerten, weil sie aus religiösen Gründen nicht an diesem Krieg teilnehmen wollten, weil sie aus der Wehrmacht desertiert und sich den Partisanen angeschlossen haben, weil sie den Widerstand unterstützt oder ihre Eltern dies getan haben, weil sie zu unwertem Leben erklärt worden sind, weil sie willentlich oder unwillentlich gegen andere spezifische NS-Gesetze verstießen.

Diese vielfältige Verfolgung verweist auf einen Aspekt des Nationalsozialismus, der nach 1945 vor allem in Deutschland und Österreich gerne hervorgehoben und herausgestrichen worden ist, nämlich der des Terrors und der Unterdrückung. Doch dass das NS-Regime ein Terrorregime gewesen sei, ist nur die halbe Wahrheit. Die Forschungen über die nationalsozialistische Gesellschaft (die Volksgemeinschaft) haben gezeigt, dass ein großer Teil der Bevölkerung sowohl in Deutschland als auch in Österreich dem NS-Regime zugestimmt hat und es loyal mitgetragen hat. Dies gilt nicht nur für die Kriegspolitik (vor allem solange sie siegreich war), sondern auch für das Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung (der Antisemitismus als ein zentrale, Konsens stiftende Idee), die Verfolgung politischer und ideologischer Gegner sowie jener Menschen, die allgemein als Schädlinge der Volksgemeinschaft gegolten haben (Behinderte, „Asoziale“, „rassisch Minderwertige“).4

Mir scheint es also wichtig, sich zwei Aspekte vor Augen zu halten:

  1. Ein Weg nach Auschwitz kann in Steinfeld beginnen, ein Weg in die Sklaverei der unterirdischen Waffenfabriken des KZ Mittelbau-Dora in Dellach, einer in die Hölle von Dachau in Greifenburg, in Oberdrauburg oder Dellach, der Transport in das KZ Buchenwald kann in Berg beginnen, jener zur Euthanasie in Dellach und Greifenburg. Widerstandskämpfer wurden in Dellach und Greifenburg erschossen. Wenn wir vor unserer Haustüre die Lebensfäden von verschwundenen Personen aufnehmen, landen wir in den Zentren des Terrors und der Vernichtung. Das ferne Auschwitz, das ferne Mauthausen wird so zu einem Ort – wie der Klagenfurter Pädagoge Peter Gstettner sagt – zu einem Ort vor unserer Haustüre. Die Spurensuche vor der eigenen Haustüre – in unserer unmittelbaren Umgebung - kann die NS-Vergangenheit in ihrer ganzen Tiefe und Tragweite aufdecken.

  2. Die Verfolgten wurden in vielen Fällen nicht von (anonymen) GESTAPO-Männern abgeholt, sondern vor Ort bei der Gendarmerie oder NSDAP-Stellen (dem Ortsgruppenleiter etc.) angezeigt und dann von der Gendarmerie an die GESTAPO in Spittal/Drau oder Lienz ausgeliefert. An der Verfolgung von Freiheitskämpfern (z.B. der Partisanengruppe um Stefan Hassler) oder entflohenen Kriegsgefangenen nahmen große Teile der männlichen Bevölkerung teil (Landwacht, Volkssturm), dabei wurden mehrere Menschen erschossen. Das heißt, Teile der örtlichen Bevölkerung waren in die Verfolgung aktiv involviert, vielleicht sogar unsere Großväter oder andere Verwandte.

Diese Erkenntnisse sind schwer zu akzeptieren. Man wehrt sich instinktiv dagegen. Eine Täterschaft oder Mittäterschaft von Verwandten oder Personen, denen man nahe steht und von denen man gut behandelt worden ist, ist für viele schwer zu begreifen. In Österreich und Deutschland sind nach 1945 regelrechte Entlastungsdiskurse entstanden, in denen versucht wurde, diesem zutiefst unangenehmen und auch persönlichen Konflikten auszuweichen. Doch meines Erachtens ist nirgends mehr „aus der Vergangenheit zu lernen“, als in diesem Spannungsfeld, das uns am nächsten ist. Auch wenn in diesem Projekt die Biographien der Opfer im Vordergrund stehen sollen, dürfen wir diesen Aspekt der „nahen Täter und Mitmacher“ niemals vergessen. Es geht mir deshalb in diesem Projekt nicht nur um die Opfer aus dem Oberen Drautal sondern auch um jene, die egal warum und woher sie kamen, im Oberen Drautal verfolgt worden sind.

II. Beispiele

Ich möchte jetzt einige Beispiele für Verfolgungen unter dem NS-Regime geben. Es handelt sich dabei um eine Auswahl und keineswegs um eine vollständige Darstellung. Weiters muss ich gleich betonen, dass die Verfolgungsgeschichte der einzelnen Personen keineswegs erschöpfend erforscht ist. Ganz im Gegenteil. Die folgenden Darstellungen geben im wesentlichen meinen bisherigen Wissensstand zu diesen NS-Opfern wieder, ohne dass ich sehr ins Detail gehen werde.

Ich gehe chronologisch vor – und versuche zugleich, auf verschiedene Aspekte des breiten Verfolgungsspektrums der Nationalsozialisten hinzuweisen. Ich berücksichtige dabei nicht nur Menschen, die getötet worden sind, sondern auch jene, die eingesperrt wurden, ihre Verfolgung mit Glück überlebten oder deren weiteres Schicksal mir noch nicht bekannt ist.

Beginnen wir unmittelbar mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Österreich am 11. und 12. März 1938. Hier eine Ansicht aus Greifenburg.

Zu diesem Zeitpunkt befand sich Josef Nischelwitzer bereits auf der Flucht. Josef Nischelwitzer ist ein Beispiel dafür, dass die Verfolgung von politisch andersdenkenden Menschen in Österreich nicht mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten begonnen hat, sondern schon mit der Ausschaltung der Demokratie durch das christlich-soziale, autoritäre Regime von Engelbert Dollfuss im Jahre 1933.

Wer war Josef Nischelwitzer? Nischelwitzer wurde am 27.11.1912 in Irschen geboren, sein Vater war Land- und Forstarbeiter, er wuchs in Dellach auf und wurde Bauarbeiter.5 In Dellach trat er der Sozialdemokratischen Partei bei, war dort bei der Gründung des Arbeiter-Radfahrervereines aktiv und begann schon als 20-Jähriger sich gewerkschaftlich zu betätigen. Er war einer Organisatoren des großen Streikes auf der Baustelle der Großglockner-Hochalpenstraße, störte im Drautal schon früh Veranstaltungen der Nazis und als 1933 die linken Partein verboten wurden, gründete er in Dellach eine illegale Gruppe des sozialistischen Schutzbundes. Als am 12. Februar 1934 der Arbeiter-Aufstand gegen das Dollfuß-Regime fehlschlug, und viele junge Arbeiter vom Verhalten der sozialdemokratischen Führung enttäuscht waren, trat Nischelwitzer wie mit anderen Dellacher Arbeitern der illegalen KPÖ bei und wurde in ein Verteilernetz für Flugschriften eingebaut6. In den folgenden Jahren war Nischelwitzer für die KPÖ organisatorisch tätig, zunächst in Oberkärnten, dann auf Landesebene und schließlich übernahm er auch österreichweite Aufgaben. Im November 1936 wurde er deshalb von der Dellacher Gendarmerie festgenommen, von Bezirksgericht Greifenburg aber mangels Beweisen freigesprochen. Spätere Verhaftungsversuche schlugen fehl, da Nischelwitzer bereits verdeckt lebte. Im Jänner 1938 fehlte er als Hauptangeklagter bei einem Prozess in Klagenfurt. Er bereitete sich in Wien auf die Flucht ins Ausland vor. Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nazis wurde Nischelwitzer von der GESTAPO verhaftet und wurde am 1. April mit dem ersten Transport aus Österreich – dem sogenannten Prominententransport - in das KZ Dachau verschleppt.7

Josef Nischelwitzer hat in einigen Artikeln über die Sklavenarbeit in den verschiedenen KZL, über die Schläge und die schlechte Ernährung, die willkürlichen Tötungen von Häftlingen und anderen Grausamkeiten berichtet, die ihn sein Leben lang nicht mehr los gelassen haben. Er hat die siebenjährigen Qualen überlebt. Bis Mai 1942 war er im KZ Dachau, dann bis Juni1943 im Außenlager des KZ Mauthausen in St. Lambrecht in der Steiermark; am 30. Juni 1943 wird sein Arbeitskommando in das KZ Mauthausen gebracht, bei der Ankunft lässt die SS ausgehungerte Hunde auf den Trupp los. Sie zerrissen am Appellplatz, dort wo heute der 100.000 getöteten Mauthausen-Häftlinge aus ganz Europa gedacht wird, vierzehn Menschen. Als Nischelwitzer am Appellplatz eintraf, waren die Hunde schon satt, wie ein Funktionshäftling meinte. Die nächste Station ist das Außenlager in Gusen, wenige Kilometer von Linz entfernt. Nur drei von etwa hundert Menschen, mit denen Nischelwitzer 1944 vom Außenlager St. Lambrecht nach Mauthausen bzw. Gusen gebracht wurde, haben die Befreiung durch die amerikanischen Truppen Anfang Mai 1945 erlebt. Josef Nischelwitzer war nach der Befreiung Redakteur der kommunistischen Zeitung „Volkswille“. Er war einer jener Antifaschisten in Kärnten, die hier trotz heftiger Gegentendenzen versucht haben, die Verbrechen der Nazis aufzudecken, an die vielen Ermordeten zu erinnern und sich für NS-Opfer einzusetzen.8

Im März 1938 begannen die Nationalsozialisten also mit der Ausschaltung ihrer Gegner. In Dellach im Drautal taten sie sich damit zunächst überraschend schwer – zumindest in einem Fall. Die lokalen Nazis nahmen bekannte Kommunisten und Sozialisten zwar sofort fest, einer der aktivsten, Johann Türk, entkam ihnen aber. Er hielt sich einige Tage lang am Oberberg vermutlich beim Zeber versteckt, unterstützt wurde er von Georg Flaschberger. Nach seiner Rückkehr verhinderten demonstrierende Arbeiter in Dellach seine Verhaftung.9

Am 3. Oktober 1938 gingen die Nazis wieder systematisch gegen Kommunisten und Sozialisten im ganzen Land vor. Im Oberen Drautal wurden mehrere Personen wegen Hochverrat in Verwahrungshaft genommen und mehrere Wochen im Amtsgericht Greifenburg eingesperrt. Den Arbeitern wurde Mitgliedschaft bei der verbotenen KPÖ bzw. Agitation für sie vorgeworfen. Unter ihnen waren etwa Karl Kircher aus Berg, aus Dellach Johann Türk und Josef Niedermüller, aus Greifenburg Josef Breinegger.10 Wie aktiv politische Delikte verfolgt wurden, zeigt eine Zahl aus dem Gendarmerieprotokoll Dellach. Allein im Jahre 1938 verzeichnete der Posten insgesamt 96 politische Anzeigen.

Die Nationalsozialisten rächten sich 1938 auch bei den Vertretern des christlich-sozialen Lagers. In Greifenburg etwa inhaftierten die Nazis sofort 24 vaterländisch gesinnte Bürger.11 Einer von ihnen war der Rechtsanwalt Karl Wanner, der in Linz und Greifenburg tätig war. 1934 war Wanner Heimwehrkommandant von Greifenburg und als solcher wesentlich daran beteiligt, die gewalttätigen Aufstände der Greifenburger Nazis im Zuge des Putschversuches niederzuschlagen. Nach mehrwöchiger Haft in Greifenburg wurde Wanner bei einem Schauprozess in Lienz zu vier Jahren Haft verurteilt, die ihm aber nachgelassen wurde. Er erhielt Gauverweis und Berufsverbot.12

In Wien war er an einer konservativen, antinazistischen Gruppe beteiligt, die sich einmal wöchentlich traf und Kontakte zu anderen bürgerlichen, antinazistisch gesinnten Personen und Gruppen hielt. Sie stand zum Beispiel mit der kleinen Widerstandsgruppe „Antifaschistische Freiheitsbewegung Österreichs“ rund um den Geistlichen Anton Granig (Onkel des derzeitigen Irschner Pfarrers) und Georg Lexer jun.13 in Klagenfurt in Verbindung. Beide Gruppen flogen auf. Wanner wurde am 8. 2. 1943 festgenommen und am 9. 6. 1944 wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" angeklagt. Er befand sich bis 7. 4. 1945 in Haft.14 Anton Granig wurde noch 1945 hingerichtet.

Die Nazis verfolgten aber auch all jene gnadenlos, die sich aus religiösen Gründen weigerten, Kriegsdienst in der Deutschen Wehrmacht zu leisten. Das traf vor allem auf Zeugen Jehovas zu.

Hermann Fertin, geb. am 23. Juni 1894 in Klagenfurt. Der Tapezierer lebte 1938 mit seiner Lebensgefährtin Seraphine Weber in Oberdrauburg, wo er einen Einberufungsbefehl zur Wehrmacht erhielt. Er leistete Folge. Nach seinem Einrücken gab er bekannt, dass es ihm auf Grund seines christlichen Glaubens nicht möglich sei, Waffendienst zu leisten. Er verweigerte mehrmals den Befehl der Waffenannahme und der Einkleidung. Er wurde festgenommen und in Graz von der Wehrmachtsjustiz wegen Gehorsamsverweigerung und der Weigerung den Dienst bei der Wehrmacht anzutreten, zu sechs Monaten Haft verurteilt. Nach Verbüßung der Haft kehrte Fertin nach Oberdrauburg zurück. Dort wurde er von der GESTAPO Lienz verhaftet und bis November 1940 in GESTAPO-Haft in Klagenfurt gehalten und dann in das KZ Dachau deportiert. Dort verstarb der Zeuge Jehovas am 15. Januar 1941 im Alter von 47 Jahren. Als seine Lebensgefährtin 1947 um Opferfürsorge ansucht, lehnt das Land Kärnten ab.15 Mindestens 50 Zeugen Jehovas wurden in Österreich wegen Kriegsdienstverweigerung hingerichtet16, wie viele in Konzentrationslagern starben – wie Hermann Fertin – ist nicht bekannt.

Ein anderer Fall, von dem bisher nicht mehr als einige nackten Daten bekannt sind: Rudolf Hader, geb. am 30.8.1909 in Möllbrücke. Das Archiv der Gedenkstätte des KZ Dachau verzeichnet seinen Zugang am 15. Juni 1940, Haftart: Polizeiliche Sicherungsverwahrung. Rudolf Hader wurde am 3. September 1940 in das KZ Sachsenhausen, dann in das KZ Neuengamme überführt. Die Aufnahmeprozedur in Neuengamme glich denen in anderen KZ: Eine Prügelgarde der SS empfing die neuen Häftlinge, Kopf- und Körperhaare wurden geschoren und den Häftlingen eine Nummer verpasst. Sie wurden zu namenslosen Wesen ohne eigene Individualität degradiert. Schläge und willkürliche Bestrafungen, Hunger bei harter Bauarbeit. Kranke und entkräftete Häftlinge schickte die SS nach Dachau zurück.17 So auch Rudolf Hader. Er kam am 29. April 1941 dort an. Am 22. Jänner 1942 wurde er mit einem Invalidentransport in das Schloss Hartheim in Oberösterreich transportiert, der berüchtigten Vernichtungsanstalt.18

Zwischen 1940 und 1944 wurden in der Euthanasieanstalt 30.000 Menschen umgebracht, deren Leben den Nationalsozialisten als „unwert“ galt. Auch an Rudolf Hader dürfte dieser Mord vollzogen worden sein. Am 4.7.1941 hat ein Bahnbediensteter in Greifenburg es offenbar gewagt, sich nicht im Sinne der örtlichen Nationalsozialisten zu äußern. Franz Deschmann wurde am 17. November 1920 in Laibach geboren, er war Slowene und wurde in Greifenburg zum Fahrdienstleiter ausgebildet. Im Gendarmerieprotokoll Greifenburg kann man folgendes lesen: „Durch staats- und deutschfeindliche Aussagen verriet er seine wahre Gesinnung. Er wurde daher festgenommen und durch die GESTAPO dem KZ Dachau zugeführt.“19 Im Archiv der heutigen Gedenkstätte Dachau finden sich folgende Hinweise: Haft-Nr. 33229, Haftart: Schutzhäftling (also ohne Prozess aus pol. Gründen eingeliefert), Zugangsdatum: 2. August 1942. Weiteres Schicksal: überführt am 19. September 1942 in das KZ Buchenwald, wohin vor allem politische Häftlinge geschickt wurden. Was mit ihm passiert ist, weiß ich noch nicht.

Im August 1941 deckten die NS-Behörden in Lienz eine Gruppe kommunistisch gesinnter Arbeiter auf. Sie hielten Treffen ab, um sich zu besprechen sowie gegenseitig zu warnen und zu helfen. Einer von ihnen war Paul Anetter, geb. am 23. März 1893 in Oberdrauburg und ehemaliges Mitglied der Sozialistischen Partei.20 Er wurde ohne Gerichtsverfahren, als Schutzhäftling, in das KZ Dachau deportiert. Nach genau einem Monat Haft wurde er am 11. Dezember 1941 dort wieder entlassen.21 Nach seiner neuerlichen Verhaftung und Einlieferung in das KZ Mauthausen starb er dort am 1.10.1942. Im Totenbuch von Mauthausen sind unter dem gleichen Datum weitere 55 Häftlinge verzeichnet. Ein Massenmord wurde an diesem Tag an jüdischen Häftlingen verübt. 33 jüdische Häftlinge erschoss die SS angeblich „auf der Flucht“.22

Zu der Lienzer Gruppe gehörte auch der in Sachsenburg geborene Peter Ronacher. Nach viereinhalb Monaten Haft wurde ihm offenbar die Wahl zwischen Dachau und der Wehrmacht gestellt. Er fiel zwei Jahre später an der „Eismeerfront“ in Norwegen. Ebenfalls verhaftet wurden seine Schwestern Auguste, Frieda und Lina. Sie wurden nach mehrmonatiger Haft wieder entlassen.23

Ein weiteres Beispiel für die Verfolgung politischer Gegner in dieser Phase Anfang der 40er Jahre: Die GESTAPO-Leitstelle Wien verzeichnete eine Anzeige gegen Michael Burgstaller, geb. am 26.9.1900 in Greifenburg. Er wurde am 21.12.1942 wegen „Verbrechens der Vorbereitung zum Hochverrat und Feindbegünstigung“ beim Volksgerichtshof in Berlin angezeigt und der Haftanstalt St. Pölten überstellt.24 Über weitere Quellen zu Michael Burgstaller verfüge ich derzeit nicht, sind aber vermutlich vorhanden.

Vor allem während der ersten Jahre seiner Herrschaft konnte das NS-Regime auf die Loyalität und Unterstützung bei weiten Teilen der Bevölkerung zählen. Bis 1943 waren 700 000 Österreicher Mitglied der NSDAP geworden. Der Historiker Evan Burr Bukey hat in einer vor drei Jahren erschienen Studie diese große Zustimmung vor allem zur Sozial- und Wirtschaftspolitik, wie zur Judenverfolgung beschrieben und nachgewiesen.25

Der Terror des NS-Regimes lastete nicht so sehr auf der Gesamtbevölkerung sondern war höchst selektiv – bezogen auf politische Gegner, Juden, sogenannte rassisch Minderwertige u.a., die nicht in das Ideal der Volksgemeinschaft gepasst haben. Einig war man sich vor allem darin, dass der Krieg mit einem Sieg der Deutschen Wehrmacht enden sollte. Solange der Siegeszug anhielt – im wesentlichen bis Ende Jänner 1943 (Stichwort Niederlage von Stalingrad) regte sich wenig Kritik oder Dissens. Mit den Gegenoffensiven der Alliierten stieg aber nicht nur die Zahl der toten Soldaten. In Österreich hatten die Volksgenossen bisher von den Kriegserfolgen profitiert, nun begannen sich die Verluste der Wehrmacht auf den Alltag der Menschen auszuwirken. Dies blieb mitunter nicht unbeanstandet und der Unmut äußerte sich in meist verdeckter, selten offener Kritik an der deutschen Führung bzw. einzelnen Aspekten der NS-Herrschaft.

Delikte, die auch in dieser Phase von den NS-Behörden nur unter der Mitwirkung der Bevölkerung verfolgt werden konnten, waren etwa das Hören von ausländischen Sendern (sog. „Feindsendern“) oder Wehrkraftzersetzung. Dafür gibt es im Drautal ebenfalls einige Beispiele, auf die ich jetzt nicht näher eingehen will. Maria Luser aus Pobersach bei Greifenburg soll wegen „Abhören von Feindnachrichten“ in einem KZ gewesen sein.26 Maria Zillinger aus Greifenburg wurde etwa am 14.10.1944 wegen Weitergabe eines Spottgedichtes über den Führer festgenommen und der GESTAPO ausgeliefert. Nach vier Monaten Haft wurde sie wieder entlassen.27 Der in Oberdrauburg lebende Eisenbahner Otto Festin wurde am 6.11.1944 vom Oberlandesgericht Wien zu sechs Jahren Zuchthaus wegen Wehrkraftszersetzung verurteilt. Er hatte sich kritisch zur deutschen Kriegsführung geäußert und war denunziert worden.28 Was mit ihm passiert ist, weiß ich nicht.

In größter Gefahr waren Menschen, die sich am Rande der Gesellschaft bewegten, bzw. deren Lebensstil nicht den gewollten ordentlichen deutschen Lebensführungen entsprach. Ihnen konnte leicht ein Verstoß gegen die zahlreichen nationalsozialistischen Bestimmungen nachgewiesen werden, auf Rückhalt in der Bevölkerung konnten sie nicht zählen. Ein Beispiel aus Berg im Drautal.

Rochus Kupferschmied bestritt seinen Lebensunterhalt als Almhirte und Knecht. Geboren wurde er am 13.8.1901 in Griffen. Im Sommer und Herbst 1943 lebte er in der Ortschaft Feistritz in Berg, zuvor war er zumindest einige Monate bei einem Bauern als Almhirte beschäftigt. Im Herbst soll Kupferschmid keiner geregelten Arbeit nachgegangen und angeblich herumvagabundiert sein. In der Feistritz lebte er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Maria Wolbang und deren Tochter. Das war den Nationalsozialisten oder wen auch immer ein Dorn im Auge. Ihm wurde mit Verweis auf das Ehegesundheitsgesetz die Auflage erteilt, diese Wohngemeinschaft aufzugeben. Zugleich wurde Kupferschmied offenbar zur Wehrmacht eingezogen. Nach seinen eigenen Angaben ist er aus der Wehrmacht geflüchtet und wieder nach Feistritz zurückgekehrt, nach anderen Angaben wurde er entlassen. Jedenfalls rückte am 8.12.1943 Gendarmeriebeamten aus Dellach aus und nahmen Rochus Kupferschmied in Feistritz fest. Grund: Nichteinhaltung der Auflagen gemäß Ehegesundheitsgesetzes. Kupferschmied wurde der GESTAPO Klagenfurt überstellt, wo er bis Februar 1944 in Haft blieb. Seine weiteren Stationen: bis Februar 1945 KZ Dachau, dann KZ Buchenwald. In den letzten Monaten vor der Befreiung am 11. April starben in Buchenwald fast 14.000 Menschen, zigtausende wurden auf Todesmärsche geschickt. Rochus Kupferschmied überlebte mit schweren Gesundheitsschäden, die von ständigen Schlägen durch die SS herrührten. Aufgrund seines schlechten gesundheitlichen Zustandes konnte er erst im Herbst 1945 nach Kärnten zurückkehren.

Er erhielt aufgrund seiner Arbeitsuntauglichkeit zunächst sechs Monate lang 50 Schilling Unterstützung. Verlängert wurde sie nicht. Alle Ansuchen auf Entschädigung und Wiedergutmachung wurden abgelehnt. Hier der Bescheid vom Sozialministerium aus dem Jahre 1948. Rochus Kupferschmied listete in dem Verfahren eine ganze Reihe von Gegenständen auf, die während seiner Abwesenheit verschwunden sind, darunter Kleider, ein Grammophon und 80 Schallplatten.29

Kommen wir zu weiteren Verfolgungen, die allein aufgrund der NS-Ideologie durchgeführt wurden, etwa der Auslöschung des sogenannten „unwerten Lebens“, der Euthanasie.30 Das Wort Euthanasie bedeutet soviel wie „schönes Sterben“. Adolf Hitler gab am 1.9.1939 einen geheimen Erlass aus, der die Tötung von sogenanntem „lebensunwertem Leben“ möglich machte, die ersten Opfer waren Polen, dort wurden ganze Psychiatrien entleert, Erschießungen waren die Methode. Dasselbe nach dem Überfall auf die Sowjetunion. Im Deutschen Reich begann die systematische Vernichtung von psychiatrischen Patienten im Jänner 1940. Eines der Zentren der Vernichtung war das schon erwähnte Schloss Hartheim.

Von der planmäßigen Erfassung bis zur Ermordung sogenannter geistig und körperlich Behinderter waren sehr viele Täter beteiligt. In Kärnten arbeitet der Historiker Helge Stromberger seit Jahren daran, diese Vernichtungspraxis zu rekonstruieren und die Opfer und Täter beim Namen zu nennen. „Der Täterkreis“, schreibt er, „setzte sich zusammen aus Bürgermeistern, einzelnen Parteileuten kleiner Gemeinden, die bei der Ausforschung von Behinderten, taubstummen Bauernknechten etc. behilflich waren, aus Gendarmeriebeamten, die mitunter bei Zwangseinweisungen Hand anlegen mussten, hinzu kamen Amtsärzte, einzelne höhere Beamte des Gesundheitswesens, Teile des Psychiatrie- und Siechenhauspersonals, Transportbegleiter, die zentralen Administrationsstellen in Berlin und schließlich das Personal in den Vernichtungsanstalten selbst.“

Ab 1941 wurde die Vernichtung dezentralisiert. Ein Grund dafür war der stärker werdende Widerstand der katholischen Kirche gegen die Euthanasie. Verhindern konnte die Kirche das produzierte Sterben nicht. Zugleich wurde 1941 das Fachpersonal aus den Euthanasieanstalten nun in Polen gebraucht, um die industrielle Vernichtung von Millionen europäischer Juden durchzuführen.

Behinderte wurden fortan auch in Krankenhäusern umgebracht, so etwa in Klagenfurt. Bald war landauf landab gerüchteweise bekannt, dass in Klagenfurter Krankenanstalten schwache, lästige, behinderte oder verrückte Patiente totgespritzt oder vergiftet wurden. Davon zeugt das bis heute gebräuchliche Wort „Untan Hitla hättns so an wie di vagast“. Das Pflegepersonal hat in Klagenfurt jedenfalls bis 1945 mindestens 1.500 Menschen umgebracht.

Bestimmt waren darunter auch Menschen aus dem Oberen Drautal. Hinweise gibt es einige. In einem Beiblatt des Gendarmerieprotokolls von Greifenburg, das nach 1945 angefertigt wurde, ist der Landwirt Thaler aus Weisach als in einem KZ verstorben vermerkt. In Greifenburg wird erzählt, er sei Opfer der Euthanasie geworden. Aus Dellach, so berichtete mir eine Frau, sollen die beiden Mädchen Katharina und Ella Moser dem Todesbetrieb im Krankenhaus Klagenfurt zum Opfer gefallen sein, mehrere Behinderte sollen kastriert worden sein. Diese Angaben, das möchte ich betonen, müssen erst überprüft werden. Wenn man sich aber bereits existierende Opferlisten anschaut, bei denen die Herkunft eruriert werden konnte, und die Häufigkeit in Betracht zieht, kann man davon ausgehen, dass auch Menschen aus dem Oberen Drautal der Euthanasie zum Opfer gefallen sind.31 Vor dem Hintergrund der aktuellen scharfen gesellschaftlichen Rationalisierungen, der Durchsetzung von immer härteren Nützlichkeitserwägungen scheint es mir besonders wichtig, sich diesen gnadenlos getöteten Menschen zu widmen.

Weil wir gerade über das besetzte Polen gesprochen haben: Im Distrikt Lublin, einem Laboratorium für die Bevölkerungs- und Vernichtungspolitik der NS-Führung, herrschte der Kärnter SS-Führer Odilo Globocnik, eine der Schlüsselfiguren der Vorbereitung und Durchführung des millionenfachen Mordes an den Juden. Er war der von Eifer, Ehrgeiz, Habgier und Judenhass getriebene Leiter der sogenannten Aktion Reinhardt32, bei der allein in den beiden Vernichtungslagern Sobibor und Belzec zwischen Frühjahr 1942 und Herbst 1943 etwa 800.000 Juden vor allem polnischer Herkunft umgebracht wurden. Er errichtete insgesamt 350 Lager, in denen etwa 1,5 Millionen Menschen sterben

Eines der größten war Majdanek direkt am Rand von Lublin.34 Das KZ Lublin durchlief mehrere Phasen, inhaftiert waren dort zunächst vor allem polnische politische Häftlinge, Juden und sowjetische Kriegsgefangenen und Zivilisten. Im Jahr 1943 wandelte sich Majdanek zu einem Vernichtungslager: Massenerschießungen und Vergasungen standen auf der Tagesordnung. Als der Greifenburger Gottfried Demoser am 11. Jänner 1944 vom KZ Dachau in diese Hölle aus dem Hause Globocnik geschickt wurde, war das Vernichtungswerk großteils getan.35 Ab dem Jahreswechsel 1943/44 hatte Majdanek vornehmlich die Funktion einer Mordstätte für kranke Häftlinge, die aus KZ im Deutschen Reich dorthin gekarrt wurden. Wie lang Gottfried Demoser in Majdanek noch gelebt hat, konnte ich noch nicht eruieren und wird sich vermutlich niemals feststellen lassen. Sicher ist, dass ein Gendarmeriebeamter in Greifenburg am 11.3.1944 folgenden Satz in die Chronik schrieb. „Der am 8.11.1943 wegen abfälliger Äußerungen über den Führer und Reichsmarschall Göring festgenommene Gottlieb Demoser aus Greifenburg ist in einem KZ im Generalgouvernement an Typhus gestorben“. Dem Fleischhauer und Hilfsarbeiter, ehemaliges Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, waren unvorsichtige Äußerungen, vermutlich im betrunkenen Zustand, im Gasthaus der Maria Holzmann zum Verhängnis geworden. Er wurde denunziert, ausgeliefert und ging im Lager-Kosmos der SS innerhalb von wenigen Monaten zu Grunde.36

Ein ähnliches Schicksal wie Gottlieb Demoser wünschte der besagte Gendarmeriebeamte vermutlich auch seinem Greifenburger Mitbürger Hermann Hassler an den Hals. Laut Protokoll ist Hassler am 19.4.1944 in Lienz wegen Verdacht auf Hochverrat festgenommen worden. Hassler soll einer Gruppe namens „Neues Österreich“ angehört haben. Doch das Verfahren ging nicht im Sinne des Gendarmeriebeamten aus. Er schrieb: „Sowohl die Bevölkerung als auch die Behörde war von der Schuld Hasslers überzeugt, doch wurde das Verfahren gegen Hassler nach vier Monaten wieder eingestellt und dieser aus der Untersuchungshaft entlassen.“

Bevor wir zum größten Verfolgungsfall im Drautal kommen, möchte ich noch auf eine Opfergruppe hinweisen, die zahlenmäßig und namentlich schwer zu erforschen ist. Ich meine die zahlreichen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, die schon seit 1940 auch ins Obere Drautal gebracht worden sind. Dabei handelte es sich überwiegend um Menschen aus Polen und anderen unterworfenen Ländern im Osten bzw. auch Kriegsgefangene etwa aus Frankreich. In Greifenburg waren 1940 bereits 75 Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen im Einsatz.37 In Kärnten und der Steiermark waren insgesamt im April 1941 etwa 41.000 Menschen in Zwangsarbeit.38 Diese Menschen unterstanden rassistischen Sondergesetzen, die ihre maximale Ausbeutung und Beherrschung sichern sollten. Ihre faktische Behandlung war sehr unterschiedlich, in der Landwirtschaft oft verhältnismäßig gut. Man stößt aber immer wieder auf Fälle, wo Zwangsarbeiter der GESTAPO ausgeliefert wurden. Neben angeblicher Arbeitsverweigerung ist die sogenannte „Rassenschande“ ein anzutreffender Grund. Aufgrund der NS-Rassegesetze war Geschlechtsverkehr zwischen Angehörigen der sogenannten arischen Rasse und Angehörigen sogenannter minderwertiger Rassen, wie Slawen oder Juden verboten.

Ein Beispiel: Im November 1942 wird in Greifenburg der Bauer Felix Leitner der GESTAPO ausgeliefert, weil er angeblich mit seiner ukrainischen Zwangsarbeiterin Igaskar Mosil sexuell verkehrte. Auch die bereits im fünften Monat schwangere Igaskar Mosil übergaben die Greifenburger Nazis der GESTAPO.39 Was mit den beiden geschehen ist, weiß ich nicht. In umgekehrten Fällen, also wenn Zwangsarbeiter mit einheimischen Frauen verkehrten, wurden diese meist sofort und vor den Augen der versammelten Zwangsarbeiter aufgehängt, die Frauen gescherrt und in KZ geschickt. Beispiele dafür gibt es aus Sillian oder aus Rothenturn.40

In Dellach wurden im ersten Halbjahr 1941 mehrere polnische Zwangsarbeiter wegen angeblicher Arbeitsverweigerung verhaftet und wie es im Gendarmerieprotokoll heißt „der Geheimen Staatspolizei zur internen Behandlung zugeführt“. In Berg wurden im Juli 1942 die beiden Polen Thaddäus Bujak und Kasimir Taijt (Tayt) wegen Diebstahls verhaftet und der GESTAPO in Lienz ausgeliefert.41 Sieht man sich ähnliche Fälle an, die dokumentiert sind, dürften die Überlebenschancen der Betroffenen bis auf Felix Leitner gering gewesen sein. Aber auch hier gilt: Was den Betroffenen geschehen ist, muss erst eruiert werden.

Zum Abschluss möchten ich kurz den Fall Stefan Hassler darstellen. Dabei wurden zwischen November 1944 und Ende April 1945 mindestens vier Menschen umgebracht.

Der 24-jährige Stefan Hassler aus Dellach ist im Frühjahr oder Sommer 1944 aus der Deutschen Wehrmacht desertiert.42 Auf die Gründe dafür möchte ich nicht näher eingehen, m.E. ist das für die Einschätzung der folgenden Ereignisse auch nicht notwendig. Die Umstände der Desertion sind unklar. Es gibt Erzählungen, wonach er von einem Heimaturlaub nicht mehr eingerückt sein soll. Vermutlich war Stefan Hassler in einer Kaserne in Friaul stationiert, über welche die Wehrmacht große Truppenverlegungen von der Ostfront an die Italienfront abwickelte. Er könnte auch dort desertiert sein. Auf jeden Fall hielt sich Stefan Hassler im Juni 1944 bereits in den Partisanengebieten südlich des Plöckenpasses auf.43

Den friulanischen Partisanen war es im Frühjahr und Sommer 1944 gelungen, die deutschen Truppen aus den Tälern zu vertreiben und weit hinter dem Frontverlauf befreite Zonen einzurichten. Die Front verlief zu diesem Zeitpunkt etwas nördlich von Rom. Der britische Geheimdienst war schon länger daran interessiert, herauszufinden, ob es in Österreich so etwas wie eine antinazistische Stimmung oder gar patriotischen Widerstand gab. Zu diesem Zweck plante der Geheimdienst Agenten nach Österreich einzuschleusen – dafür gab es eine eigene Österreich-Sektion. Bei diesen Agenten handelte es sich um Juden, die 1938 aus Österreich vertrieben wurden und nach Großbritannien flüchten konnten, andere Agenten waren österreichische Sozialisten, die etwa in den 30er Jahren in Spanien bereits gegen die Faschisten gekämpft hatten oder von der deutschen Wehrmacht zu den Briten übergelaufen waren. Im Juni 1944 sprang die erste Mission in Friaul ab, um die Zusammenarbeit mit den Partisanen zu suchen. Der gebürtige Österreicher Manfred Czernin hat diesen Einsatz geleitet.

Czernin war es auch, der Stefan Hassler als Agent für den britischen Geheimdienst rekrutierte und zwar bereits im Juni oder Juli 1944.44 Der Deserteur schien den Briten geeignet zu sein, die Mitarbeiter der Österreich-Sektion über die Karnischen Alpen nach Kärnten und Osttirol zu schleusen und dort für Unterkünfte und Verstecke zu sorgen bzw. entsprechende Kontake herzustellen. Ich möchte diese Zusammenarbeit jetzt nicht weiter ausführen, nur zwei Dinge sagen: In Österreich ist über die Tätigkeit Stefan Hassler für die Befreiung des Landes vom Nationalsozialismus so gut wie nichts bekannt geworden, er wurde vielmehr als Krimineller verunglimpft. es tut gut, zu wissen, dass sein Einsatz wenigsten in Großbritannien geschätzt wurde. Der britische Offizier Patrick Martin-Smith würdigt in seinen Erinnerungen Stefan Hassler als mutigen und hilfsbereiten Mitarbeiter, der manchmal allerdings etwas leichtsinnig agierte. Stefan Hassler verschaffte den österreichischen Offizieren im Dienste des britischen Geheimdienstes wie z. B. dem Tiroler Hubert Mayr.45 den strategisch wichtigen Unterschlupf bei seinem Schwager in Unterpirkach. Von dort aus gelang es den Agenten Kontakt mit der einzigen aufzufindenden Widerstandsgruppe in südwestlichen Österreich, im Villgratental, aufzunehmen. Stefan überquerte im Dienste der Briten mehrmals als Kurier und Wegführer die schwer bewachte Grenze zwischen Italien und dem Deutschen Reich. Seinen letzten Auftrag erhielt Hassler Mitte Oktober 1944. Nach der deutschen Offensive war der Spielraum in Friaul eng geworden. Hassler sollte deswegen eine Gruppe von Widerstandskämpfern über das Obere Drautal nach Villach bringen. Das war wahrscheinlich ein Fehler. Denn nach mehrmonatigen Versuchen wussten alle Beteiligten an den geheimen britischen Mission bereits, dass die weitaus überwiegende Bevölkerung in der Ostmark apathisch war, keinen Gedanken auf Widerstand gegen die Nazis verschwendete, vermutlich deshalb, weil sie nach wie vor dem Regime die Treue hielt, die Gegend strikt kontrolliert wurde und Angst vor Repressalien herrschte. Der einzige Grund, warum die Partisanengruppe dennoch in die Ostmark eindrang, war eine Kontaktadresse in Villach, bei der sie sich melden hätte sollen. Doch dazu kam es nicht. An der Gruppe waren neben Stefan Hassler folgende Personen beteiligt: Robert Schollas, Karl Schmid und ein Mann dessen Vorname wahrscheinlich Alois war.46 Nach mehrtätigen Fußmarsch von Sauris di Soppo weg erreichten die vier am 31.10.1944 den Hof der Hasslers in Grientschnig bei Dellach. Sie gruben sich im Heu in der Tenne ein und versorgten sich vermutlich über einen Schafdiebstahl bei einem Bauern in der Umgebung. Um sich für die bevorstehenden Wochen der Ungewissheit einzudecken, beschlossen sie den Hof des Peter Ebner in Eben, einem regional bekannten Nationalsozialisten zu überfallen und Waffen sowie Geld und Bekleidung zu beschlagnahmen. In der Nacht auf den 3.11. führten sie den Plan aus. Nachdem ihnen die Magd die Türe geöffnet hatte, traten die vier Männer mit gezogenen Pistolen in das Haus ein und erklärten, dass sie österreichische Freiheitskämpfer seien. Sie nahmen Bargeld, Schmuck, Männerbekleidung und Unterwäsche, einige Waffen und Munition, zerstörten die restlichen Waffen sowie die im Haus befindlichen Hitler-Bilder und beschlagnahmten die NSDAP-Mitgliedsbücher und Parteiausweise. Abschließend stellte Schollas, der als Anführer der Gruppe auftrat, Frau Ebner eine Bestätigung der Beschlagnahmungen aus und bezifferte dien Schaden mit 2500 RM. Danach zog die Gruppe ab, ohne jemanden auch nur ein Haar zu krümmen. Als der Vorfall bekannt wurde, alarmierte die Gendarmerie Greifenburg die Landwachtposten der Umgebung und die Jagd auf die Partisanen begann. Ende 1943 bestand die Landwacht von Greifenburg und Bruggen aus 81 Mann. Die Bevölkerung wurde zur Mithilfe aufgefordert.

Am nächsten Morgen trennte sich die Partisanengruppe. Um etwa 8.30 Uhr trafen Schollas und Schmid am Kreuzberg ein und bestellten dort beim Bauern Stotter Milch. Sein Sohn Ferdinand war Landwachtmann. Als solcher hatte er von dem Überfall auf Ebner schon erfahren. Er verlangte von Schollas und Schmid Ausweise. Als sie keine Anstalten machten, verschwand Ferdinand in der Küche und kam gemeinsam mit seinem Bruder zurück und zwar mit schussbereiten Waffen in der Hand, die sie auf Schollas und Schmid richteten. Trotz dieser ausweglosen Situation soll Schollas zu seiner Waffe gegriffen haben. Vinzenz Stotter schoss auf Schollas, sein Schuss traf den Partisanen in den Hals. Er war sofort tot. Schmidt konnte flüchten. Bei dem folgenden Schusswechsel wurde der Flüchtende getroffen. Wenig später wurde auch er gefasst und auf den Gendarmerieposten Greifenburg gebracht. Seine Aussagen brachten die Gendarmerie auf die Spur Stefan Hasslers, der als Deserteur bereits gesucht worden war.

Wer war Robert Schollas? Robert Schollas, Leutnant der Luftwaffe, dürfte ebenfalls in Italien desertiert und zu den Partisanen geflüchtet sein. Von Schollas sind mehrere Flugblätter erhalten47, in denen er Wehrmachtssoldaten zur Fahnenflucht und zur Unterstützung der Partisanen aufgefordert hat. Meinen Nachforschungen zufolge wurde Robert Schollas 1919 in der Gegend von Dortmund geboren, war seit 1940 Wehrmachtssoldat, 1943 befand er sich in einer Strafabteilung, was auf mögliche Widerstandshandlungen oder Ungehorsam in der Wehrmacht hinweist.48 Die Gendarmerie Greifenburg fand bei Schollas einen Ausweis der Partisanenformation Osoppo in Friaul. Zu diesem Zeitpunkt und wohl auch später war im Drautal deshalb allgemein bekannt, dass es sich bei der Gruppe nicht um eine Räuberbande, wie später behauptet, sondern um Freiheitskämpfer gehandelt hat.

Wer war Karl Schmidt? Karl Schmidt wurde am 20.9.1919 in Leimsgrub, Sudetenland geboren. Was mit ihm passiert ist, ist mir nicht bekannt. Er hat seine Verhaftung aber überlebt und ist 1995 gestorben.49

Am selben Tag gegen Abend wurde das Anwesen der Familie Hassler das erste Mal durchsucht.50 Weil sie ergebnislos verlief, wurden die Eltern Ludwig und Stefanie nicht festgenommen. Am nächsten Tag beauftragte der Leiter des Gendarmeripostens Greifenburg, Franz Bacher, die Dellacher Gendarmerie damit, die Festnahme der Eltern und der Brüder von Stefan Hassler durchzuführen. Am 4.11. umstellte die Gendarmerie also den Hof und führte Ludwig sen., Stefanie (Mutter) und den Sohn Johann ab. Alle drei werden in Spittal der Gendarmerie übergeben. Doch Johann gelingt bei der Ankunft am Bahnhof in Spittal abends die Flucht. Der 22-Jährige weiß aber offensichtlich nicht wohin. Er beschließt wieder nach Dellach zurückzukehren, wagt sich aber nicht auf den Hof. Am nächsten Tag wird er schließlich an einer Wandharpfe auf dem Weinberg entdeckt, bei seiner neuerlichen Verhaftung durch den Blockleiter Peter Breitegger angeblich schwer misshandelt, festgenommen und neuerlich der GESTAPO ausgeliefert.

Am selben Tag wird der Hassler-Hof zum dritten Mal durchsucht. Der 18-Jährige Ludwig, der mit seinen noch minderjährigen Geschwistern Josef, Aloisia und Paula, nach der Verhaftung der Eltern und Johanns auf dem Hof zurückgeblieben ist, wird ebenfalls verhaftet und der GESTAPO ausgeliefert. Die drei Kinder werden getrennt und auf verschiedene Bauernhöfe gegeben. Diesesmal wird das Versteck in der Tenne entdeckt, doch von Stefan Hassler fehlt jede Spur. In Dellach ist zu diesem Zeitpunkt eine Wehrmachtskompanie stationiert und zu diesem Zeitpunkt ist auch Oberlehrer Ignaz Pirch Ortsgruppenleiter. Unter der Leitung dieses fanatischen Nationalsozialisten findet nun die planmäßige Suche nach Stefan Hassler statt, der zu einer gefährlichen Bedrohung für die Bevölkerung hochstilisiert wird. Mir wurde berichtet, dass so etwas wie eine Jagdstimmung in der Luft gelegen sei. Jeweils einem Landwachtmann wurde also ein Wehrmachtssoldat beigestellt. Die Gegend wurde systematisch abgesucht.

Am 11. 11., also eine Woche nach dem Überfall, steigt Stefan Hassler früh morgens am Bahnhof Berg aus einem Zug aus und wird dabei von zwei Landwachtleuten gestellt. Sie wollen ihn am Gemeindeamt abliefern. Neuerlich flüchtet Stefan. Am Weinberg bittet er bei Franz Oberdorfer vlg. Josn Franz um Hilfe, Josn Franz hatte Stefan Hassler auch schon bisher unterstützt. Er bekommt etwas zu essen und erfährt, dass die Jagd auf ihn in vollem Gange ist. Stefan Hassler erzählt von seinem Plan, nach Italien flüchten zu wollen. Zu seinem Unglück hatte es in der Nacht geschneit, seine Spuren waren im Schnee also deutlich sichtbar. In Dellach hatte Pirch inzwischen vom Auftauchen des Partisanen erfahren und er kam zwischen 9 und 10 Uhr mit zwei Soldaten auf den Weinberg. Ein Suchtrupp wich den offensichtlichen Spuren Stefan Hassler angeblich bewusst aus, der einheimische Bauer schlug mit dem ihm zugestellten Soldaten genau die Gegenrichtung ein. Das zweite Duo verfolgte die Spuren aber zielstrebig. Um ca. 11 Uhr trafen der Landwachtmann Peter Breitegger, der seit ihm die Festnahme von Johann Hassler gelungen war, im Dorf „hoch im Kurs“ stand und der Wehrmachtssoldat Otto Reinboth im Draßnitzgraben auf Stefan Hassler. Der erschöpfte Deserteur war in der Sonne auf einem Baumstumpf eingeschlafen. Die Festnahme und Entwaffnung war ein leichtes. Die beiden Männer eskortierten den gefesselten Stefan Hassler in die Ortschaft. Knapp vor zwölf Uhr kam die Eskorte ins Ortszentrum, die enge Kreuzung wurde gerade von einem Pulk Schulkinder bevölkert. Hassler nutzte seine letzte Chance, riss sich los und rannte Richtung Kaufhaus Pichl. Reinboth und Breitegger folgten ihm, auch die Kinder liefen hinterher. Dann fiel der erste Schuss. Er traf Stefan Hassler in den Rücken. Ein weiteres Mal wurde geschossen. Hassler hielt sich noch 70 bis 80 Meter aufrecht, versuchte eine Stalltür zu öffnen und brach schließlich zusammen. In Dellach verbreitete sich die Nachricht seines Todes rasch. Sein Körper wurde auf den Friedhof geschliffen, Soldat Reinboht erhielt eine Belohnung von der Gemeinde, Pirch war zufrieden, die Bevölkerung angeblich erleichtert und Stefan Hassler wurde in der Erde ohne Sarg verscharrt.

Zu diesem Zeipunkt befanden sich Ludwig sen., Stefanie, Johann und Ludwig jun. Hassler in GESTAPO-Gewahrsam in Spittal. Ende November wurden sie zur GESTAPO in Klagenfurt überstellt. Den Aufzeichnungen in Dachau zufolge kamen Ludwig und Johann Hassler am 11. Januar 1945 als Schutzhäftlinge (ohne Verfahren) in das KZ. Ihr weiteres Schicksal ist schnell erzählt. Am 29. April befreien US-Truppen das KZ. Am selben Tag starben im Hauptlager und in den zahlreichen Nebenlagern dieses Gewaltkosmos mehr als hundert Häftlinge an den Folgen der Haft, etwa Typhus. Ludwig Hassler ist unter ihnen. Sein Sohn Johann wird am selben Tag im Außenlager Rosenheim noch als befreit vermerkt.51 Doch auch er geht, wie seine Mutter Stefanie später schreiben wird, zu Grunde – und zwar in den Tagen der Befreiung.

Ludwig jun., der mit 18 Jahren wie sein Bruder völlig grundlos festgenommen wurde, wird in das KZ Nordhausen deportiert. Er hat als einer der wenigen dieses Lager im Harzgebirge überlebt. Nordhausen war Teil eines ganzen Lagerkomplexes, in dem Häftlinge unter schlimmsten Bedingungen unterirdisch arbeiten mussten – vor allem in der Rüstungsindustrie. Gegen Kriegsende versuchte die SS die Arbeitskraft der Häftlinge innerhalb weniger Wochen buchstäblich bis zum letzten Atemzug auszuschöpfen und damit aber auch zu vernichten. Ein Drittel der 60.000 Häftlinge überlebte nicht, der Begriff Vernichtung durch Arbeit trifft hier besonders auf die jüdischen Häftlinge zu.52 Ludwig Hassler weiß im Unterschied zu uns, was es bedeutet, kein Mensch mehr zu sein, was es heißt, der völligen Willkür, der entfesselten Gewalt der SS-Wachmannschaften in einem Konzentrationslager ausgeliefert zu sein. Er hat es erlebt und er hat es in einem Nebenlager des Lagerkomplexes Dora/Nordhausen mit einer Handvoll Häftlingen überlebt. Er hat gesehen, wie die SS an manchen Tagen fünfzig, Hunderte Juden verschwinden hat lassen. „Sie waren einfach nicht mehr da. Weggeräumt“, hat Ludwig Hassler gesagt. Und auch wenn er sich schwer tut darüber zu spreche, er weiß, was Befreiung bedeutet, im Unterschied zu denen, die die Niederlage der Wehrmacht und den Zusammenbruch des Nationalsozialismus bis heute aus guten Gründen nicht als Befreiung empfinden können. Er kennt aber auch die Schmerzen im Augenblick der Befreiung, im Wissen nämlich um das Ungeheuerliche, das passiert ist. Ludwig jun. ist schließlich mit einem Zug heimgekehrt, der voll mit befreiten Häftlingen gewesen ist, die als Partisanen aus Jugoslawien verschleppt worden waren. Nach und nach kehren die Überlebenden der Familie auf den Hof zurück.

Auch die Mutter Stefanie Hassler kehrte aus der Barbarei zurück. Sie war im Jänner 1945 über Umwegen nach Klessheim bei Salzburg deportiert worden. In der Nähe des 1938 von den jüdischen Besitzern enteigneten Schlosses Klessheim befand sich ein Ausweichlager für die überfüllten Gefängnisse Salzburgs.53

Über das Lager selbst ist wenig bekannt. Wir können uns aber das amtsärztlich Zeugnis anschauen, das im Zuge ihres dritten Antrages auf Wiedergutmachung angefertigt wurde und Rückschlüsse auf die Verhältnisse im Lager ziehen. Abgemagert auf 36 Kilo wurde sie von den US-Truppen befreit. Von der Haft ist ihr unter anderem ein schwerer Herzmuskelschaden geblieben. Alle ihre Ansuchen auf Wiedergutmachung, Entschädigung oder wenigstens Hilfe sind von der Zweiten Republik abgelehnt worden. In allen Verfahren ist es der einheimischen Gendarmerie gelungen, das Bild einer Räuberbande zu zeichnen, obwohl seit 1944 klar war, dass Stefan Hassler am Befreiungskampf gegen die Nationalsozialisten teilgenommen hat und die Mitglieder der Familie wegen Hoch- und Landesverrat, also wegen einem politischen Delikt, das gewissermaßen die Voraussetzung für das Entstehen der demokratischen Republik Österreich ist, verhaftet, verfolgt und umgebracht wurden. Denn Stefan Hassler haben – um mit Ingeborg Bachmann zu sprechen – nur etwas Unwürdiges, nämlich die nationalsozialistische Volksgemeinschaft, verraten.

Man kann, glaube ich, schwer ermessen, welche Bitterkeit dieses Scheitern nach 1945 bei den Betroffenen ausgelöst haben muss und welche negativen Folgen das für ihr Selbstwertgefühl, das Selbstbewusstsein gehabt haben muss. Von den negativen Auswirkungen auf ein in der Nachkriegsgesellschaft erst auszubildendes Rechts- und Gerechtigkeitssinns bei der Bevölkerung im Oberen Drautal möchte ich jetzt gar nicht sprechen. Und selbst wenn man sich auf ein Gedankenexperiment einlässt, in dem die Verfolgung nicht wegen Hochverrats sondern tatsächlich wegen einiger Diebstähle durchgeführt worden wäre, würde folgendes Bild entstehen: Vier Menschenleben für ein Schaf und 2500 RM. Das – lässt sich aus den vergeblichen Antragsstellungen von Stefanie Hassler schließen – wurde in Dellach (und nicht nur dort) nach 1945 offenbar für angemessen empfunden. Die Zeit ohne Gnade wurde fortgesetzt – nun mit den Mitteln der Lüge und Ausgrenzung.

Ich möchte noch auf zwei Personen hinweisen. Einen haben wir bereits einmal erwähnt. Es ist der Tiroler Sozialist Hubert Mayr. Von ihm ist ein Nachlass erhalten, der dokumentiert, mit welch hohem Einsatz er in den dreißiger Jahren in Tirol, dann in Spanien und schließlich im Rahmen der britischen Armee gegen die Zerstörung der Demokratie gekämpft hat. Auch ihm ist der Einsatz in Oberkärnten zum Verhängnis geworden. Das britische Verteidigungsministerium hat ihn 1947 für gefallen erklärt. Der Mitstreiter von Stefan Hassler soll in Dellach im Drautal im Jänner 1945 das letzte Mal gesehen worden sein. Er ist spurlos veschwunden.54

Noch ein ehemaliger Spanienkämpfer: Josef Wuggenig55, geb. am 6.7.1901 in Greifenburg, wohnhaft in Steinfeld, Bundesbahnschaffner, in Innsbruck 1934 wegen Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung zu 15 Monaten Haft verurteilt. Am 2.6.1937 setzt sich der Kommunist aus Österreich ab, um in Spanien auf der Seite der internationalen Brigaden gegen die Franco-Faschisten zu kämpfen. Nach der Niederlage und Haft in Frankreich Rückkehr nach Tirol, Verhaftung durch die GESTAPO, 19.5.1941 Einlieferung in Dachau, ab 29.3.1943 KZ Auschwitz. Er überlebt. 1965 ist Josef Wuggenig in Innsbruck gestorben.

III. Schluss

Wenn wir zum Schluss noch einmal die Karte mit den Stammlagern der großen NS-Lagerkomplexe in Europa anschauen, dann sehen wir, dass wir viele dieser Lager berührt haben, indem wir einfach die Lebensfäden von Menschen aus dem Drautal aufgenommen haben: Mauthausen und einige seiner Nebenlager, die Euthanasie-Anstalt Hartheim, Dachau, Buchenwald, Dora/Nordhausen, Neuengamme, Sachsenhausen, Majdanek und Auschwitz.

In den Lebensläufen der Überlebenden scheint die Verfolgung als persönliche Katastrophe auf, mit der sie weiterleben mussten. Sie kehrten in eine Gesellschaft zurück, die wenig Verständnis für ihr Leid hatte. Gespräche mit einigen NS-Opfern im Oberen Drautal bestätigten, was schon oft allgemein festgestellt worden ist: Während in der Zweiten Republik das „Verständnis“ für das Verhalten der ehemaligen Nationalsozialisten groß war, das zweifellos vorhandene Leid der Wehrmachtssoldaten beschworen und die Teilnahme am Angriffs- und Vernichtungskrieg der Deutschen Wehrmacht zur „Verteidigung der Heimat“ umgelogen wurde, war das Verständnis und das Mitgefühl für die aus den Lagern und Gefängnissen heimkehrenden Menschen gleich null.

Sie mussten vielmehr das schlechte Gewissen der Mehrheitsbevölkerung verkörpern. Ihre Geschichte wollte deshalb niemand hören, Entschädigung für geraubtes Gut und Geld gab es kaum. Während die Kriegserlebnisse vieler heimgekehrter Soldaten so oft, so stolz und so verbittert erzählt wurden, dass sie zu Legenden von Tapferkeit, Heldenmut und Opfertum wurden und das emotionale Empfinden der Kinder und Enkel prägten, blieben die Opfer des Nationalsozialismus stumm. Es wurde ihnen zu verstehen gegeben, dass sie nach wie vor in der Minderheit sind. Dabei hätten gerade sie erzählen können, was der Nationalsozialismus war und was die Befreiung vom Nationalsozialismus bedeutet hat. Dieser Prozess des Verschweigens ist in weiten Teilen Österreichs bis heute nicht beendet.

Die Auseinandersetzung mit den Opfern und ihrer Verfolgungsgeschichte soll die Achtung und den Respekt für den einzelnen Menschen, das Individuum in all seinen Facetten stärken. An einigen Verfolgungsgeschichten soll auch der Handlungsspielraum gezeigt werden, der für die Bevölkerung bestanden hat. Es war beispielsweise möglich, Verfolgte zu unterstützen, sich der Teilnahme an der Verfolgung zu verweigern oder die Verfolger in die Irre zu führen, ohne dass es schwere Konsequenzen gegeben hätte.

Der Auftrag der Überlebenden, im Gedenken an die Ermordeten und die Gesellschaft so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe56, diesen Auftrag ernst zu nehmen, darum muss ständig neu gerungen werden, und darum soll er auch nicht verhallen. Darin – damit komme ich zum Schluss – darin liegt meine persönliche Verantwortung.

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Salcher, 2005-08-21, Nr. 2056

Sehr berührend diese Geschichte. Ich bin auf diesen Beitrag gestoßen um Informationen über Herrn Josef Salcher, Landarbeiter aus Bannberg/Osttirol zu erfahren.

Er soll im KZ Sachsenhausen an Kreislaufschwäche ums Leben gekommen sein.

Weiters ist uns bekannt, daß er mit einer Maria Inri aus Sagritz im Mölltal liiert gewesen, die ihn zu den Zeugen Jehovas gebracht haben soll.

Josef Salcher ist der Großonkel meines Mannes - ebenfalls Josef Salcher.

Eine Geschäftsreise führt uns demnächst nach Berlin - bei dieser Gelegenheit möchten wir auch Sachsenhausen aufsuchen und ein Lichtlein für ihn anzünden. In seiner Heimatgemeinde Assling - Ortsfriedhof Bannberg erinnert nichts - nicht einmal ein Schriftzug an ihn. Angeblich soll das Sterbeglöcken geläutet haben, als man von seinem Austritt aus der katholischen Kirche erfuhr.

Auch in seiner Familie wurde das Thema totgeschwiegen - leider eine typisch scheinheilig katholische Eigenschaft - das darf ich mal so einfach behaupten obwohl ich selbst überzeugte Katholikin bin.

Es würde mich sehr freuen, wenn Sie uns noch weitere Informationen über unseren Großonkel übermitteln könnten und verbleiben mit besten Grüßen

Andrea und Josef Salcher

barbara feigl, 2010-06-08, Nr. 4834

der mann, dessen vorname als alois angegeben wurde ---- könnte evtl. mein großvater sein.

melita turale (wolbang), 2012-08-29, Nr. 5704

Rochus Kupferschmidt is my grandfather (my father's father) and have been trying to find information on him, so thanks for writing this article.
Maria wolbang mentioned in the article is his not his daughter, she is his partner's mother. His partner was amalia wolbang (wohlbang). They did not marry, but my father was the result of their partnership. My father believes Rochus died in Diex Austria. He lived a quiet life after the war. Would like to talk with anyone who has an interest in Rochus Kupferschmidt. Thanks

Maria, 2018-12-01, Nr. 6556

Ich bin eine Urenkelin von Gottlieb Demoser und lerne gerade in der Schule über die Gräuel der NS-Zeit. Obwohl meine Oma (älteste Tochter von Gottlieb Demoser) noch lebt, kann ich mit ihr nicht darüber sprechen, weil sie dann nur heult. Wie schlimm musste für die Kinder damals sein, wenn der eigene Vater so grausam ermordet wurde! Die Tatsache, dass er denunziert wurde, ist gefühlsmäßig unerträglich.

Jedenfalls fahre ich mit meiner Schulklasse nächstes Monat zur Gedenkstätte KZ Dachau, wo mein Urgroßvater gequält wurde. Das wird nicht einfach werden...

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