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2003-06-30 Die Haut des Schreibers Man wird ja nicht Schreiber, wie man zum Lehrer sagt, man will Lehrer werden und zum Förster sagt, man will Förster werden und zum Radfahrer sagt, man will Radfahrer werden. Schreiber wird man ja im heimlich brennendem Schweigen unter der Haut. Unter der blassen, frierenden Haut, die manchmal eine Gänsehaut ist, oder eine arme, oder die eines Esels. Unter dieser aber hat der Schreiber seine zweite Haut, die wahre. Eine Haut von Leben, Kummer und Schnee. Sie ist nicht sichtbar, nur fühlbar, von Geschicken und Heimsuchungen tätowiert, und empfindsam für die zarten Spuren höchster Freuden. Sie ist die Haut eines Mörders, der unschuldige Familienväter mit dem riesigen Richtbeil enthauptet, nur weil sie aus gebrochenem Herzen über ihre knochendürren, hungrigen Mäuler daheim mit zitterndem Mut um ein kleines bißchen mehr Lohn gebeten haben. Selbst ausgezehrt und vom Tode gezeichnet. Sie ist aber auch eine Haut, die er zum Markte trägt, zu einem orientalischen etwa, einem Bazar, wo sie neben schweren, mit überreicher Phantasie geknüpften und verzauberten Teppichen wartet, bis man sie mit diesen zusammen hinter zehnfach bewachte Haremsgitter bringt. Dort läßt sie sich liebkosen. Volle, warme Lippen streifen ihre empfindsame Oberfläche und glühen ihr verbotene Küsse ein, neben den geblendeten Sinnen der Eunuchen. Aber nicht das allein ist die Haut eines Schreibers. Sie ist auch die in lodernder Empörung und aus tiefstem Herzen flammende Haut des Revolutionärs, der jeden einzelnen der Hungrigen, Bedürftigen und Bedrängten, jedem der geschundenen Menschen das Heil, das Glück und die Lebensfreude aufbürden will, und der, die schwarze Fahne hochreißend, aus diesem blut- und haßbesudelten Planeten schon in den nächsten Augenblicken das gerechteste aller Paradiese macht! Doch auch die Haut des Großen, des Mächtigen ist sie, der sich in seinem Schloß mit zweiundvierzig Zimmern in das schäbigste, dunkelste und feuchteste verkriecht, um in seiner grenzenlosen Verzweiflung dem Leben zu entsagen. Die Haut eines Schreibers hat die goldbronzene Farbe von Inkafürsten, die schwarze der Sklaven, die rote des klugen Mutes, und die gelbe zeitloser Weisheit. Die Haut des Schreibers ist in Milch gebadet, gesalbt und von Myrrhe beräuchert, auf ausgedörrten Lehmfeldern verkrustet, oder in den Hinterhöfen von Chicago feilgeboten für einen Aufschrei der Lust. Sie ist aber auch die frische, frohe Farbe der lebensfreudigen Bauernmädchen in den Bergdörfern, jene der lachenden und singenden Frauen Polynesiens, die der freundlichen und ehrlichen Gesichter des Nordens, und auch der Stolz der tanzenden Spanierinnen. Ja, sie ist das Gewand, welches die Komödien tragen, wie auch das enge, feierliche der Tragödie. Sie ist die Bewahrerin aller irdischen Bestimmungen und sämtlicher, nur möglicher Zufälligkeiten. Sie ist Seismogramm und Kassandra. Die Haut des Schreibers ist es, welche die Welt und die Zukunft fühlt. Sie ist diese verhaßte Haut, die ihm selbstgefällige Potentaten vom Leibe reißen möchten, und, ob der sich dann zeigenden Ärmlichkeit, die eigene Potentatenhaut erkennen und im ratlosen Schrecken davon ablassen. Sie ist die glattgerunzelte Haut des jungen Alters, welche der Welten Ende und zugleich die blühende Zukunft fühlt. Und wer sie trägt, lebt wie ein Pendel zwischen Segen und Verdammnis und zeigt in seinem Schwingen, daß es weder dort noch da ein Verweilen gibt. Denn das Ziel ist nicht der heftige Ausschlag. Das Ziel ist die Mitte, die Ruhe, die Klarheit. Es ist die unstillbare Sehnsucht der Haut des Schreibers, einmal sekundenlang nur der eigenen Haut hautnah zu sein.
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