2005-10-19
Ein Zimmer voll....
Ein Zimmer voll Grün, Gelb und Rot und ein bisschen Erde, dessen Nachbarn die Schatten der Bäume sind.
Die ausländischen Kinder, die lärmend im Hofe spielen, das sind die Rotkehlchen, so selten sie auch geworden sind, es gibt sie doch.
Irgendwer hat Kastanien am Ofen liegen, ja, es gibt noch Öfen, nicht nur prall gefüllt mit Marihuana, echte Öfen, geheizt mit Holz und Kohle.
Hier wohne ich, inmitten der großen, dunklen Stadt und das Gras ist beinahe so grün wie in meiner Heimat.
Doch was ist Heimat?
Ist Heimat ein Gefühl oder ist es Land?
Land, wo Tyrannen regieren, Gesetze schmieden in denen ein Jugo kein Jugo mehr sein darf und die inländischen Kinder brav zur Schule gehen und zu Hause vom Großvater Malzzucker zum lutschen bekommen, wo sie doch in 10 Jahren ganz was anderes lutschen werden, was nichts gemein hat mit diesem wohlig, malzigen Geschmack.
Hier wohne ich also und huste vor mich hin, im verrauchten Zimmer über schweren Büchern von Nietzsche und Adorno, von Mandelas Lehre über Krieg und Frieden und die Hasstiraden gegen die Weiber von Schopenhauer.
Ich huste und huste, meine Lunge brennt mir wie Feuer und wie würde ich - ach so gern - in dieses Feuer tausende von Büchern werfen.
Ignoranz habe ich gelernt und jetzt muss ich sie mir wieder ablernen um den Zeiger der Zeit nicht zu übersehen wenn er bei mir vorbeihuscht.
Nie hat ein Zeiger eine Sekunde übersprungen, habe weder davon gehört noch davon gelesen, also muss ich sicher sein, dass er dies auch bei mir nicht tut und ich muss Aufmerksamkeit hegen.
Wo war ich noch vor 5 Jahren?
In der Heimat.
Wo spielte ich noch vor 17 Jahren?
Im Walde.
Wo sang ich noch vor 10 Jahren?
Im See, unter Wasser.
Jetzt da ich merke, wie jugendlicher Leichtsinn Abschied ist, jetzt werde ich traurig, genau so kann ich mir Anatter vorstellen, als sie so fern von hier merken musste:
ihre Kindheit war mit diesem Tage.
Anatter.
Die gelben Wände strotzen vor Nikotin und ausgeatmetem Alkohol, der rote Wein, der einer Träne gleicht.
Der transsexuelle Flamingo starrt mich mit seinen paralysierenden Augen an und fragt, wann sie wieder kommen würde.
Ich weiß nicht antworte ich ihm, vielleicht besuchen wir sie am Sonntag aber morgen, morgen wirst du deine erste Zugfahrt erleben, wir werden 6 Stunden unterwegs sein, du kannst dir das Land anschauen.
Der transsexuelle Flamingo legt sich nieder, die Augen gegen das alte Holz gerichtet, Engelbert heißt sie.
Engelbert hat schon viel in diesem Zimmer erlebt.
Eine Vegetarierin, die plötzlich Rohschinken isst und dann krank wird, nackte Graphikerinnen, Philosophinnen und angehende Diplomatinnen.
Also ob dieser Satz Frieden stiften könnte, ganz im Sinne der UNO.
Ha, das wäre doch gelacht, jetzt spielen wir „Pfui du Sau“ und drehen uns im Kreis.
Wir drehen uns so schnell wie die Räder im Wind und die Gebetsfahnen in Tibet und die frisch gewaschenen Leintücher in der alten Persil-Werbung.
Wir flattern und drehen, wir hüpfen und sinken, wir schwimmen und gehen unter und schnellen dann herauf wie wild gewordene Ahornblätter die dem Wind ins Gesicht zu schreien versuchen, er solle doch bitte scheißen gehen aber bitte nicht wieder zu seiner Oma.
Posttraumatisiert und hormongesteuert steige ich die Stufen auf und ab und sehe sie mir an, drehe mich im Kreis, links, rechts und wieder zwei runter, drei auf einmal hoch, hoppla, auf die Pfeife.
Es raucht wie in einer Selchbude, von der wieder einmal ein Geselle weil seine Freundin wegen dem Eigengeruch des Selchfleisches mit ihm nicht mehr ficken will, downturnend sozusagen.
Ja wo kämen wir denn da hin, wenn wir nicht mehr ficken können ohne von irgendwelchen Alltagsgestank belästigt zu werden?
Ich werde meinen Herrn Nachbar morgen wegen Geruchsbelästigung klagen, ich will sein Kohlrabigemüsebraten nicht immer riechen müssen, da will ja keine mehr nackt hier tanzen, was werden dann die anderen Nachbarn sagen, die dann nicht mehr glotzen können, durch meine nicht vorhanden Vorhänge.
Ich habe zwar Vorhänge aber die sind nur da um im Wind zu wehen, die sind nur da um mir zu zeigen, wie viele Bücher hier gelesen wurden.
Engelbert steht auf und geht aufs Klo.
Sie muss eine Blasenentzündung haben, sie geht sonst doch nie aufs Klo.
Ich versuche dem Wind im vorbeiwehen etwas zuzuflüstern, doch im nächsten Augenblick fällt mir ein, er spricht ja gar nicht Deutsch. „Which language?“ schreie ich ihm nach, doch er hat mich nicht mehr gehört?
In Indien hat schon wieder ein buddhistischer Käfer einen hinduistischen Hund erschossen (aus Eifersucht) und mir geht das alles am Arsch vorbei.
Hauptsache ist: die ausländischen Kinder trällern im Hof.
Und wieder haben Millionen von Leuten Geburtstag und womöglich sind auch ein oder zwei Menschen dabei.
Was macht Anatter?
Anatter schläft du Narr(!), wecke sie nicht auf, sonst hast du sie wieder am Hals.
Engelbert, was hast du.
Engelbert, du schöne - du.
Was schert dich mein Mietvertrag, was meine Lunge, deshalb musst du doch nicht ständig aufs Klo.
Ach, die schöne Engelbert geht zu Bett.