2007-10-01
Für einen Perspektivenwechsel im Irrenhaus
Versuch eines Nachdenkens über Ziele von Engagement, garniert mit gut gemeinten Tips der „Lachyoga-Trainerin" Ellen Müller, veröffentlicht in der Job&Karriere-Beilage der Kleinen Zeitung vom 1.9.2007.
Leider ernst gemeint
ist die Empfehlung, „einen Raum einzurichten, in den sich frustrierte Mitarbeiter zurückziehen können und wieder zum Lachen animiert werden – durch Comics und Co." Zitiert aus: Kleine Zeitung, 1.9.2007
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Sehr oft wird Gesellschaftskritik aufgehängt an Erscheinungen der Ausgrenzung: Arbeitslosigkeit, so sagt man, sei eine der schlimmsten Erscheinungen. Und Armut. Und die Ausgeschlossenheit der Frauen aus dem Arbeitsmarkt. Und die Unterentwicklung. Und die Ausgrenzung von Kindern aus schulischen Bildungsprozessen ... Nun, all das ist tatsächlich sehr schlimm. Entsprechend haben sich auch die verschiedensten sozialen Bewegungen gebildet, die die Bekämpfung dieser Exklusionen auf ihr Banner geschrieben haben.
Das ist auch der Punkt, wo ich als Autor Teil des Ganzen bin: Das, was ich geworden bin, verdanke ich dem Erfolg von Kämpfen, die diese Exklusionen zum Teil erfolgreich bekämpft haben. Dass ich in halbwegs geordneten sozialen Verhältnissen aufwachsen konnte, dass ich ausgiebig institutionalisierte Bildung genießen durfte, ist ja keinewegs selbstverständlich, sondern das Ergebnis harter sozialer Kämpfe etwa der Arbeiter(innen?)bewegung. Und ich selbst bin ja in den neueren Formen dieser Bewegungen (Dritte-Welt-Bewegung ...) politisch sozialisiert worden, bin Teil des Kärntner Armutzsnetzwerkes etc. Wir setzen uns ein für eine gerechtere Verteilung des Reichtums, damit es möglichst wenig Exklusion gibt!
Gerade deswegen ist aber Rechenschaft abzulegen: Was tue ich / was tun wir eigentlich, wenn wir solchermaßen tätig sind? Was wird mit so einer Herangehensweise transportiert, was ausgeblendet bzw. möglicherweise sogar unabsichtlich propagiert? In was sollen die Menschen überhaupt integriert werden?
Auch ernst gemeint
ist der Smile day: Einen Arbeitstag lang jeden Kollegen nur freundlich anlächeln! Kleine Zeitung, a.a.O. |
Ein Blick auf die Sieger
Erhellend ist das Beispiel Hongkong, einer Metropole, in der mittlerweile das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen deutlich höher ist als in Deutschland:
„Hongkong ist der Horror für jeden, der dort leben und arbeiten muss. Die Hongkonger arbeiten mindestens 55 Stunden pro Woche, wer zuerst Feierabend macht, gilt als Weichei. Es gibt so gut wie keinen Kündigungsschutz. Und Urlaub – was ist Urlaub? Trotz des neuen Reichtums ist diese Stadt nach Einschätzung der eigenen Bevölkerung und nach allen statistischen Indizes einer der freudlosesten, anstrengendsten Orte auf der Welt.
Völlig erschöpft hängen die Menschen spätabends vor der Glotze. Existenzängste und Überschuldung plagen die meisten Angestellten. Familienleben findet kaum noch statt, ganz zu schweigen von Sex. Die Geburtenrate ist in den letzten zwei Jahrzehnten schnell gefallen – von 3,0 auf unter 0,8 Kinder.
Und auch sonst sieht es mies aus: Die Boomtown Hongkong befindet sich auf etwa dem gleichen (Un-)Glücksniveau wie die verarmte, von Krisen geschüttelte Ukraine.
Wie unter einer Lupe lässt sich am Beispiel Hongkong der Zusammenhang zwischen einer entfesselten Wachstumsökonomie und der subjektiven Lebensqualität studieren. Wer in dieser hypermanischen, superdynamischen Stadt lebt, kann die Früchte seiner Arbeit nicht mehr genießen, weil er viel zu erschöpft ist – und mit hoher Wahrscheinlichkeit depressiv wird."
(Heiko Ernst, Neurosige Zeiten. Editorial. In: Psychologie Heute 8/2006. Im Netz: www.psychologie-heute.de)
Besonders „lustig":
Kuli zwischen die Zähne nehmen und Mundwinkel nach oben ziehen. Die Muskeln senden Signale an das Gehirn – die Stimmung verändert sich positiv. Kleine Zeitung, a.a.O.
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Der Kapitalismus ist nicht entartet, er ist nicht krank geworden, er ist die Krankheit. Es ist krank, gegeneinander zu arbeiten (heilige Kuh Konkurrenz / Leistung), es ist krank, nicht für die Sache tätig zu sein, sondern irgendwas zu produzieren, damit man Geld hat, es ist krank, sich zu bilden, damit man einen Job hat, es ist krank, den Konsum immer weiter ankurbeln zu wollen.
Hans D. Smoliner hat in einer genial-ironischen Darstellung dieser Krankheit „System" den Begriff „soziosomatisch" eingeführt (siehe K60.2E Soziosomatisches Knie) Depressionen sind nicht die Krankheit, sondern die Symptome einer Krankheit. Dasselbe gilt für Rückenschmerzen, Magengeschwüre, Impotenz ... aber auch Esoterik, Armut, Alkoholismus, Terror, .... Ich will hier nicht behaupten, dass diese Symptome in jedem Fall nur durch den Kapitalismus entstehen, hinter den verschiedenen Symptomen können im Einzelfall unterschiedliche Ursachen stecken. Bemerkenswert aber ist, wenn solche Erscheinungen zum Massenphänomen werden:
„Depression ist heute die massenhafte Reaktion auf zu schnelle Veränderungen – weltweit. Deshalb sind die dynamischsten Gesellschaften besonders betroffen. In ihnen lässt sich der Traum vom Glück verwirklichen: durch Anpassung und pausenlose Arbeit an sich selbst, glauben die Menschen. Die Depression wird so zwangsläufig die „Krankheit der Unzulänglichkeit“, wie der französische Soziologe Alain Ehrenberg meint. Wo das abstrakte wirtschaftliche Kalkül über Erfolg und Misserfolg des Einzelnen entscheidet, ist sein „Versagen“ programmiert. Damit er aber trotzdem so lange wie möglich funktioniert, muss er die Illusion des Erfolgs behalten."
(Heiko Ernst, Neurosige Zeiten. Editorial. In: Psychologie Heute 8/2006. Im Netz: www.psychologie-heute.de)
Ob der Kapitalismus nun „nur" anders reguliert werden müsste, wie viele meinen, oder ob wir nicht ernsthaft viel grundsätzlicher über neue Formen des gesellschaftlichen Miteinanders nachdenken müssten, soll und kann hier nicht beantwortet werden. Einiges spricht aber dafür, dass eine Rückkehr zu gemütlicheren Zeiten IM System wohl nicht mehr möglich ist: Dagegen sprechen innerökonomische Barrieren (siehe Was steckt hinter der Globalisierung?) und dagegen spricht, dass keine Form eines regulierten / ökosozialen Kapitalismus das Wachstumsparadigma umgehen kann (siehe Crash: Gedanken im und zum Treibhaus). Dagegen spricht aber auch die Tatsache, dass der Mensch schlicht und ergreifend ein System den KONSUMISMUS nicht erträgt.
Siehe dazu auch die Reflexionen zur Tagung „Gesichter der Armut“ unter Armut IN der Gesellschaft? Armut DER Gesellschaft!.