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Tomasz Konicz

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2011-10-11

Europas Krisenpolitik vs. Europas Bürger?

Angesichts der weit fortgeschrittenen Krisendynamik bildet die ernsthafte Beteiligung von Reichtum und Kapital an den Krisenkosten eigentlich die letzte Option der Krisenpolitik, den drohenden heftigen Wirtschaftseinbruch zumindest zu verzögern.

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Anmerkungen und ein Aufruf

Die Debatte um eine Vermögensbesteuerung ist ein zweischneidiges Schwert. Selten wird sie so nüchtern geführt wie im Beitrag hier von Konicz: Eine Umverteilung von Reichtum ist ein beschränkt wirksames Instrument innerhalb einer fundamentalen Krise, mit dem - bis etwas besseres aufgebaut ist - konkrete Grundbedürfnisse von Menschen erfüllt werden könnten. Und das Signal ist, dass ja vom Potenzial her „das gute Leben für alle“ möglich wäre.

Vielfach aber wird diese Debatte voller Ressentiments geführt, so als wäre nicht die Funktionsweise des System selbst das Problem, sondern konkrete Personen mit ihrem persönlichen Versagen („Gier“, „Korruption“). Von da zu Verschwörungstheorien ist es nur mehr ein kleiner Sprung.

Innehalten, versuchen, die Froschperspektive zu überwinden, das sind die Herausforderungen mit denen „wir“ konfrontiert sind. Immer klarer zeichnet sich ein humanitäres und ökologisches Fiasko ab, wenn es UNS nicht gelingt, den potenziell vorhandenen Wohlstand für alle nutzbar zu machen. Auf den r Staat als gefangenen Verwalter des Systems sollte man sich da wohl besser nicht verlassen. Vielmehr drohen sich seine im Grunde immer vorhandenen bösartigen Seiten immer deutlicher zu zeigen, wie Andreas Exner im Beitrag r Der autoritäre Krisenstaat aufzeigt.

Umso wichtiger ist es, das Ganze der Misere nicht aus den Augen zu verlieren und Perspektiven zur Umkehr aus der Sackgasse zu entwickeln. In Villach laden wir am 14. Oktober mit der Aktion r „Lassen wir's uns gut gehen“ zum Erinnern an das Potenzial an gutem Leben ein. Gegen die sich abzeichnende offene Barbarei, gegen die Alternativlosigkeit.

Walther Schütz, ÖIE-Kärnten

Der Krisenprozess reißt eine große Schere zwischen Arm und Reich in den meisten Mitgliedsländern der Europäischen Union auf. Im Zuge der Sparmaßnahmen sind viele Europäer von Rentenkürzungen, schlechten und geringen Bildungsangeboten und sinkenden Sozialausgaben betroffen. Griechenland droht unter den ins extrem getriebenen Sparmaßnahmen zusammenzubrechen, die Athen von Brüssel, Berlin und dem IWF aufgenötigt wurden. Anfang September musste Finanzminister Evangelos Venizelos zugeben, dass die Rezession in dem pleitebedrohten Mittelmeerland mit einer prognostizierten Kontraktion von mehr als fünf Prozent weitaus stärker ausfallen werde, als ursprünglich angenommen. Athen ging im Mai von einer Schrumpfung der griechischen Wirtschaft von „nur“ 3,8 Prozent in diesem Jahr aus. Damit entgleitet der griechischen Politik endgültig die wirtschaftliche Basis, um die anvisierten Sparziele überhaupt noch zu erreichen, da diese tiefe Rezession zu massiven Steuerausfällen und enormen Mehrausgaben führt. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres sanken die griechischen Steuereinnahmen um 6,4 Prozent, während die Staatsausgaben um 7,1 Prozent anstiegen. In Folge dessen betrug das griechische Staatsdefizit zwischen Januar und Juli dieses Jahres 20,3 Milliarden Euro, während es im Vorjahreszeitraum nur 12,7 Milliarden waren.

Diese dramatische Verschlechterung der Haushaltslage in Hellas resultiert gerade aus den Sparmaßnahmen, die Athen im Gegenzug für die Notkredite der EU aufgenötigt wurden. Die im Mai 2010 und Juni 2011 beschlossenen Sparpakete im Umfang von insgesamt rund 58 Milliarden Euro zielten vor allem auf die extreme Senkung der Staatsausgaben und auf eine umfassende Erhöhung der Konsumsteuern. So wurde etwa die Mehrwertsteuer von 19 Prozent auf inzwischen 23 Prozent erhöht, während zugleich massenhaft Angestellte im öffentlichen Dienst ihre Arbeitsplätze verloren - oder enorme Lohneinbussen hinnehmen mussten. Bis 2015 sollen sogar 150.000 Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst Griechenlands wegfallen, während die restlichen Beschäftigten viel länger arbeiten sollen! Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen (Kürzungen von 1,4 Milliarden Euro bis 2015), im Rentensystem und bei den sozialen Sicherungssystemen belasteten ebenfalls die Lohnabhängigen Griechenlands, die stärkere Zuzahlungen und Gebühren in Kauf nehmen müssen. Besonders verheerend auf die Konjunkturentwicklung wirken sich die um 700 Millionen Euro gekürzten Staatsinvestitionen aus, die ja direkt zum Beschäftigungs- und Wirtschaftswachstum beigetragen hätten.

Sparpolitik zu Lasten der Arbeitnehmer/innen

Die Hauptlast dieses rabiaten Kahlschlagsprogramms trugen somit die Lohnabhängigen und Rentner Griechenlands, die sowohl Einkommensverluste durch Konsumsteuern und Sozialkahlschlag hinnehmen mussten, wie auch mit einem rasch fallenden Lohnniveau konfrontiert sind. Die griechische Rezession wird folglich durch einen Einbruch der Binnennachfrage befeuert, der sich in einem Absinken der Staatsausgaben um 9,7 Prozent, der Konsumausgaben um 7,9 Prozent und der realen Arbeitnehmerentgelte um nahezu 13 Prozent im ersten Quartal 2011 äußerte. Die Athen aufoktroyierten „Sparmaßnahmen“ vertiefen also die griechische Krise zusätzlich. Griechenland wurde auf Druck neoliberaler Hardliner in Brüssel und Berlin in die nun akut drohende Staatspleite gespart! Zugleich kann von einer Beteiligung der Wohlhabenden an den Krisenkosten – abseits symbolischer Vermögenssteuern - keine Rede sein. Zur Illustrierung der gigantischen sozialen Kluft in Hellas reicht der Hinweis, dass sich die Unternehmens- und Vermögenseinkommen in Griechenland im zweiten Quartal 2011 auf rund 31 Milliarden Euro summierten (ein Minus von 1,39 Prozent), während die Einkünfte aller Lohnabhängigen im Jahresvergleich um nahezu 10 Prozent auf circa 19 Milliarden Euro sanken.

Die maßgeblich von der „Troika“ aus EU-Kommission, EZB und IWF ausgearbeiteten Austeritätspakete haben nicht nur die Rezession in Hellas entscheidend befeuert, sondern auch die soziale Spaltung des Landes vertieft. Ein ähnliches Muster lässt sich auch bei den Sparmaßnahmen in anderen südeuropäischen Staaten, die aufgrund der sich zuspitzenden Schuldenkrise ebenfalls Sparmaßnahmen beschließen mussten. Die geläufige und zugleich unsozialste Abwälzung der Krisenkosten auf die breite Bevölkerung besteht in der Erhöhung der Mehrwertsteuersätze, wodurch vor allem Geringverdiener und Arbeitslose besonders hart getroffen werden, während Vermögende diese Mehrkosten leicht verkraften können. So erhöhte Spanien seine Mehrwertsteuer bereits im September 2009 von 16 auf 18 Prozent; in Portugal stieg diese Konsumsteuer im Krisenverlauf von 20 auf inzwischen 23 Prozent. Auch in Italien soll im Rahmen des aktuell beschlossenen Sparpakets die Mehrwertsteuer auf 21 Prozent steigen.

Aufweichung der Arbeitnehmer/innenrechte durch die Hintertür

Steigende Mehrwertsteuersätze wurden auch in Irland und Großbritannien durchgesetzt. In Irland, das aufgrund der besonders niedrigen Unternehmenssteuersätze als ein Steuerparadies insbesondere für amerikanische Konzerne gilt, wird diese Massensteuer von 21 Prozent auf 23 Prozent bis 2014 ansteigen. Die konservative britische Regierung beschloss neben der Mehrwertsteueranhebung zusätzlich ein extremes Kürzungsprogramm, das Einsparungen von ca. 95 Milliarden Euro bis 2015 vorsieht. Dieses mit massiven Kürzungen im Sozialbereich und bei Jugendprojekten einhergehende Kahlschlagprogramm kann getrost als der Funke betrachtet werden, der die jüngsten gewalttätigen Jugendunruhen in Großbritannien auslöste. Das Vereinigte Königreich ist von einer besonders krassen sozialen Spaltung gekennzeichnet: Die reichsten 10 Prozent der Einwohner Londons besitzen 275mal mehr Vermögen als das ärmste Zehntel. Die Bewohner der Hochhausghettos Londons leben in Sichtweite zu den gläsernen Banktürmen des Londoner Finanzdistrikts. Einer 2010 publizierten Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zufolge weist Großbritannien die niedrigste soziale Mobilitätsrate aller Mitgliedsstaaten auf.

Zugleich wird die Krise auch zur weiteren Durchsetzung neoliberaler „Strukturreformen“ genutzt, die zu einer Schwächung der Verhandlungsposition der Lohnabhängigen wie auch der Gewerkschaften führt. Beispielhaft für diese „Arbeitsmarktreformen“ ist Spanien, dass unter der höchsten Arbeitslosenrate von 21 Prozent innerhalb der EU leidet und dessen sozialdemokratische Regierung ein Maßnahmenpaket beschloss, das eine Aufweichung des Kündigungsschutzes und eine „Flexibilisierung“ des Arbeitsmarktes – etwa durch den verstärkten Ausbau der Kurzarbeit – zum Ziel hat. Eine ähnliche Aushöhlung des Arbeitnehmerschutzes plant auch die Regierung Berlusconi im Gefolge des kürzlich beschlossenen Sparpaketes im Umfang von 45 Milliarden Euro. Schließlich folgt Südeuropa nun auch mit einem anderen Projekt dem deutschen Beispiel und gießt die neoliberale Doktrin in Gesetzesform: Während Spanien seine „Schuldenbremse“ bereits beschlossen hat, will nun auch Italien mit einem ähnlichen Gesetzesprojekt nachziehen, dass künftig eine Defizitfinanzierung des Staatshaushalts erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen dürfte.

Die symbolische Reichensteuer

Im krassen Kontrast zu dieser unsozialen, bisher in der EU dominierenden Krisenpolitik scheint die Diskussion um die Einführung einer „Reichensteuer“ zu stehen, die in etlichen europäischen Ländern an Zustimmung gewinnt. Überlegungen oder bereits handfeste Gesetzesprojekte, endlich die Vermögenden und Spitzenverdiener an den Krisenkosten zu Beteiligen, gibt es unter Anderem in Deutschland, Österreich, Frankreich Spanien, Portugal und – nach langem Zögern Berlusconis – auch in Italien. Dabei scheint es sich in vielen Fällen um rein symbolische Aktionen zu handeln, die dem anschwellenden Unmut über die ausartende soziale Spaltung in vielen Ländern Rechnung tragen. Die Besteuerung von Kapital- und Arbeitseinkommen über 500.000 Euro mit drei Prozent, die Frankreichs Präsident Sarkozy Ende August verkündete, wird dem französischen Fiskus gerade mal 200 Millionen Euro zusätzlich einbringen. Portugal wird die entsprechende „Reichensteuer“ zu Mehreinnahmen von gerade mal 100 Millionen Euro führen, während in Spanien, Deutschland und Österreich die entsprechenden Initiativen erst diskutiert werden.

Dabei könnte eine konsequente - und vor allem europaweit koordinierte! - Besteuerung von Reichtum wie Unternehmensgewinnen durchaus dazu beitragen, die teilweise verzweifelte Finanzlage der europäischen Staaten zumindest kurz- bis mittelfristig zu stabilisieren. Viele Staaten stoßen aufgrund der enormen Krisenkosten ja tatsächlich an die Grenzen ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit, die eben dann erreicht ist, wenn die Zinsen auf den Geldmarkt bei neuen Staatsanleihen in unerträgliche Regionen vorstoßen, wie es ja bei Griechenland, Irland und Portugal der Fall war – und derzeit bei Italien und Spanien latent droht. Es waren vor allem die globalen schuldenfinanzierten Konjunkturmaßnahmen im Umfang von rund drei Billionen US-Dollar (3000 Milliarden!), die hauptsächlich zur Konjunkturbelebung nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise führten. Dieser ab 2009 eingeleitete kreditfinanzierte Nachfrageschub erreichte somit die Ausmaße knapp von fünf Prozent der damaligen globalen Wirtschaftsleistung. Nachdem die meisten dieser Konjunkturprogramme ab Mitte oder Ende 2010 ausliefen, setzte auch die derzeitige globale Konjunkturflaute ein, die in eine globale Rezession überzugehen droht. Es ist somit kein Zufall, dass die Schuldenkrise mit einer Konjunkturabkühlung zusammenfällt: Die staatlichen Konjunkturprogramme waren im Rahmen ihrer Möglichkeiten sehr erfolgreich bei der Verhinderung einer globalen Rezession, doch kann eine erneute Auflage solch gigantischer Konjunkturspritzen auf globaler Ebene aufgrund der hohen Verschuldung nicht mehr realisiert werden. Eine konsequente Besteuerung von Reichtum und Kapitalgewinnen könnte die Finanzlage vieler Staaten tatsächlich verbessern, ohne die Massenkaufkraft zu schwächen.

Der defizitäre Kapitalismus

Offenbar wird an dem bisherigen Krisenverlauf aber auch, dass derzeit das globale kapitalistische System nicht mehr ohne Verschuldung funktionieren kann. Denn die schuldenfinanzierten staatlichen Konjunkturspritzen wurden ja erst erforderlich, nachdem im Zuge der US-Immobilienkrise die Verschuldungsdynamik auf den Finanzmärkten zusammenbrach. Die enorme private Verschuldung in den USA (aber auch in Großbritannien, Spanien, Irland, Osteuropa) bildete bis zum Zusammenbruch dieses Schuldenturms die wichtigste globale Konjunkturstütze, da die Vereinigten Staaten gigantische Handelsdefizite von bis zu 800 Milliarden US-Dollar jährlich ausbildeten, die vielen exportorientierten Volkswirtschaften zugute kamen. Sobald diese kreditfinanzierte Nachfrage weg bricht, droht eine ökonomische Abwärtsspirale, bei der die einbrechende Nachfrage zu Massenentlassungen führt, die wiederum weitere Nachfrageinbrüche mit sich bringen.

Der Kapitalismus schient gewissermaßen „defizitär“ geworden zu sein. Er kann nur noch mittels Kreditfinanzierung aufrecht erhalten werden, während die Schuldenmacherei langfristig in den Bankrott führen muss – und genau dies bildet den Kern der gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Krisenpolitik. Die europäische Politik befindet sich somit in einer Aporie, in einem unlösbaren Widerspruch, da sie zugleich weitere Konjunkturprogramme, als auch Sparmaßnahmen durchführen müsste. Hieraus resultiert die Verbissenheit, mit der die Auseinandersetzungen in Politik und Medien um die Ausgestaltung des weiteren Krisenkurses geführt werden.

Die Politische Klasse kann nur zwischen zwei unterschiedlichen Wegen in der Krise wählen: entweder es wird Verschuldung bis zum Staatsbanktrott betrieben, oder es wird der Weg harter Haushaltskonsolidierung beschritten, der in die Rezession mitsamt einsetzender Deflationsspirale führt. Die konsequente und international koordinierte Besteuerung von Reichtum könnte diese Krisendynamik zumindest verzögern, wie es zuvor auch die schuldenfinanzierten Konjunkturprogramme der Staaten taten, da die negativen volkswirtschaftlichen Auswirkungen einer breiten und umfassenden Besteuerung von Reichtum weitaus geringer ausfallen als bei der Anhebung von Massensteuern. Angesichts der weit fortgeschrittenen Krisendynamik bildet die ernsthafte Beteiligung von Reichtum und Kapital an den Krisenkosten eigentlich die letzte Option der Krisenpolitik, den drohenden heftigen Wirtschaftseinbruch zumindest zu verzögern.

Zuerst erschienen in “Gegenblende”, dem gewerkschaftlichen Debattenmagazin, Sept. 2011 bzw. im Netz unter r www.gegenblende.de

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Empfehlung
Von Tomasz Konicz, r Weltwirtschaftskrise. Wie sich die Krise der Eurozone in den allgemeinen globalen Krisenkontext einordnen lässt. Eine mit zahlreichen Grafiken und Statistiken unterlegte Analyse
derselbe, r Einstürzende Schuldentürme. Staatliche Politik gefangen zwischen Überschuldung und Schuldenabbau incl. Rezession. Ein innerhalb des Systems unaufhebbares Dilemma

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