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2010-01-11 Soziale Sicherheit und die globale Krise Einleitung der Tagung → „Wege aus der Krise? Rezession, Ressourcenknappheit & ökonomisch-ökologische Alternativen im regionalen Kontext" . Nur wenige ahnten 2007, welch gravierende Folgen die Turbulenzen im US-amerikanischen Immobilienmarkt für die Weltwirtschaft zeitigen würden. Noch weniger ahnte man das finanzielle 9/11, wie man den Bankrott der Lehmann Brothers 2008 später nannte. Und kaum jemand hätte gedacht, dass der Kapitalismus mit Hochgeschwindigkeit in eine systemische Krise gerät, die ihn erschüttert wie es die Welt seit der Krisenperiode der Zwischenkriegszeit nicht mehr gesehen hat. Dennoch gab es solche Leute, und ihre Analysen helfen uns. Kapitalismus Ich will hier einige Gedanken zu den Herausforderungen, die sich der sozialen Sicherheit in Zeiten einer globalen Krise stellen, entwickeln. Diese Aufgabe beinhaltet dreierlei: (1) welchen Charakter hat die Krise, (2) welche Rolle spielt die soziale Sicherheit, (3) wie beeinflusst die Krise soziale Sicherheit? Alle drei Aspekte haben mit der einen Frage zu tun, in welcher Art von Gesellschaft wir eigentlich leben. Bevor wir ein bisschen ins Detail gehen, sollten wir einen kurzen Stop machen und uns daran erinnern: der Diskurs der Krise ist alles andere als neu. Sicherlich, die Herausforderungen, der Charakter der jetzt aufgebrochenen Krise mögen neu oder teilweise neu sein. Die Krisendiagnose aber ist dies nicht. In der Tat war der Diskurs der Krise ein ständiger Begleiter der weltweiten ökonomischen, politischen und sozialen Entwicklungen seit Beginn der 1970er Jahre. Ich mache an dieser Stelle noch einen zweiten Einschub, und zwar: Reden wir über den Kapitalismus, wenn es darum geht zu begreifen, worin die Misere, in die wir seit 2007 geraten sind, eigentlich besteht und warum all dies passiert ist. Der Kapitalismus ist eine komplexe Gesellschaftsformation und seine Analyse entsprechend kompliziert. Seine Kernmechanismen sind jedoch nicht schwer zu verstehen. Wir können sie klar erkennen, wenn wir – mit einer gewissen Intelligenz – unsere Lebens- und Produktionsweise mit früheren Epochen vergleichen. Der große Soziologe Immanuel Wallerstein hat immer wieder betont, dass der Kapitalismus in seiner offensichtlichsten Gestalt ein System ist, in dem für Profit produziert und der Profit in die Produktion von noch mehr Profit investiert wird. Dieser Prozess der fortwährenden „Verwertung des Werts“, wie Karl Marx das nannte, ist der Prozess der Akkumulation des Kapitals. Das Hauptziel der Produktion in diesem System ist der Profit. Jeder Akteur – ob Haushalt, Unternehmen oder Staat – der versucht in einer Weise zu handeln, die der Profitproduktion im Weg steht, wird darin bestraft. Jeder Akteur, der die Profitproduktion fördert, wird belohnt. Auf diese Weise kreiert das System seine eigenen psychologischen und institutionellen Voraussetzungen, die ihrerseits das Profitmotiv verstärken. Krise heißt unter den Vorzeichen des Systems: Fall der Rate des Profits, das heißt dass der Profit im Vergleich zum Kapitalvorschuss immer geringer wird; und sie heißt Fall der Profitmasse, der Gesamtsumme des Geldüberschusses, der die Systemexpansion letztendlich speist. Krise Eine solche Situation hat die Weltwirtschaft Ende der 1960er Jahre und im Großteil der 1970er Jahre erlebt: Die Profitraten fielen; Unternehmen hatten mit reduzierten cash flows zu kämpfen und verringerten im Gegenzug ihre Investitionen, weil der fordistische Modus der Produktivitätssteigerung auf Barrieren traf. Tatsächlich war dies allerdings kein rein ökonomischer Prozess, sondern zugleich ein sozialer: Erstens waren dafür nicht allein technische Parameter verantwortlich, sondern es waren auch die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Produktivitätsfortschritte unterminierten, etwa indem sie der Beschleunigung der Fließbänder Widerstand entgegen setzten. Zweitens kämpften sie, durch die Phase der Vollbeschäftigung gestärkt, recht erfolgreich für Lohnerhöhungen und eine Ausweitung sozialer Sicherheiten. Drittens erodierte der soziale Konsens des fordistischen Wachstumsmodells, wofür 1968 die Chiffre liefert. So entstand Anfang der 1970er auch eine neue Art ökologischen Bewusstseins: eine Minderheit erkannte den Klimawandel als das kommende Problem der Menschheit, und Ressourcenverknappungen wurden seit 1973 von vielen als eine mögliche Bedrohung angesehen. Kurz gesagt bestimmte die zwei folgenden Dekaden, die man die Periode des Neoliberalismus taufte, der Versuch, die Profitraten wieder zu erhöhen: indem man die Organisationen der Arbeiterschaft zurückschlug, neue Formen sozialer Kontrolle durch eine Ausweitung von Marktprinzipien schuf, subversive Wünsche nach Freiheit durch Umorganisation der Unternehmen und der Arbeitsverhältnisse für die Kapitalakkumulation funktional gestaltete, und die Gefahr der Ressourcenverknappung durch eine Attacke auf die Drittweltstaaten und eine Erhöhung der Ressourceneffizienz parierte. Dieser Versuch, war, wie eine Minderheit sozialer Bewegungen und einige Beobachterinnen und Beobachter zutreffend analysierten, langfristig zum Scheitern verurteilt: ökonomisch, da die Profite im Rahmen einer wachsenden Verschuldung, insbesondere in den USA, gesteigert wurden; sozial, weil man die Ausbeutung der Arbeitskraft intensivierte; ökologisch, weil das Wachstumsparadigma eine Re-Legitimisierung erfuhr, wie die Phrasen vom „qualitativen“ oder „nachhaltigen“ Wachstum anzeigten. Die Profite erholten sich, das ökonomische Wachstum im Sinn der Kapitalexpansion blieb aber vergleichsweise schwach. Tatsächlich stiegen die Kapitalkosten fortwährend, während die Produktivität der Arbeit nicht im selben Maße zunahm. Damit waren die fordistischen Krisentendenzen nach wie vor in Kraft – vor diesem Hintergrund erscheint der Neoliberalismus wie ein kurzes Intermezzo auf einem langen Weg nach unten. Seit 2007 kann es sich dank der Kämpfe sozialer Bewegungen politisch niemand mehr leisten, die Klimakrise zu ignorieren. Ressourcenverknappungen wurden vor dem ökonomischen Einbruch 2008 in Gestalt noch nie da gewesener Preissteigerungen sichtbar. Die Debatte um Peak Oil, der Höhepunkt der globalen Erdölproduktion und das Ende des billigen Öls, hat den Mainstream erreicht. Keine Lösung für die weltweit fallende Rate des Profits ist in Sicht, abgesehen von Illusionen einer schnellen Erholung, die auf dem kurzfristigen Effekt schuldenfinanzierter öffentlicher Konjunkturprogramme gründen. All diese Probleme wurzeln in der kapitalistischen Produktionsweise. Die abstrakte Verwertung des Werts benötigt konkrete physische Ressourcen, und die sind begrenzt; sie hängt ab vom Konsens der Menschen, kontrolliert und für die Verwertung instrumentalisiert zu werden, und dieser Konsens ist limitiert; schließlich benötigt sie wachsende Abfallhalden und Menschen, die Verschmutzung akzeptieren, was ebenfalls offensichtliche Grenzen hat. Die Grenzen des Wachstums sind die Limits der physischen und menschlichen Welt im Verhältnis zu einem grenzenlosen Expansionsprinzip, der positiven Rückkoppelungsschleife des abstrakten ökonomischen Wachstums. Die Grenzen des Wachstums treten als Krise in Erscheinung. Weil diese Grenzen auf verschiedenen Ebenen erreicht werden, hat mit der gegenwärtigen Krise eine allgemeine Krise des Kapitalismus eingesetzt. Soziale Sicherheit Was heißt all das für soziale Sicherheit? Lassen Sie mich zu allererst betonen: Soziale Sicherheit ist, anders als ökonomisches Wachstum, keine inhärente Eigenschaft des Kapitalismus. Sie ist immer und in jedem Aspekt das Ergebnis populärer Kämpfe, die der kapitalistischen Expansion Grenzen setzen. Allerdings konnten diese Kämpfe bis dato in die Kapitalverwertung inkorporiert werden und hatten mitunter den indirekten Effekt, die Verwertung noch zu befördern. So etwa ersetzten öffentliche Dienstleistungen teilweise die Familie als soziales Sicherungsnetz und erlaubten damit im Gegenzug eine fortschreitende Ausweitung von Lohnarbeit und Kapital. Moderne soziale Sicherheit im Sinn öffentlicher Dienstleistungen ist eine Funktion der Kapitalakkumulation: Erstens wird sie aus Steuern auf den Verwertungsprozess finanziert, seien es Steuern auf Löhne, Waren oder Profite; zweitens treibt sie indirekt die Kapitalexpansion voran, indem familiäre und andere nicht-warenförmige Beziehungen durch öffentliche Sicherungsstrukturen ersetzt werden; drittens ist soziale Sicherheit notwendig, um die Kapitalexpansion selbst zu sichern, indem man auf diese Art den Konsens der Lohnarbeitenden zu ihrer Kontrolle durch das Kapital erhält. Die Kapitalexpansion ist nun in einer tiefen Krise. Der Staat ist eingesprungen, um das Kapital zu retten und verhält sich als „lender of last resort“ für das System. Das exzessive Wachstum der Verschuldung wird die Krisentendenzen des Neoliberalismus noch verschärfen. Früher oder später schlägt die Staatsverschuldung auf das System zurück – mögliche Szenarien reichen von Staatsbankrotten über Inflation zu Deflation. Noch viel wichtiger aber ist, dass das Wachstum und seine Krise uns mit einem gravierenden ökologischen Dilemma konfrontieren: Die notwendige Restrukturierung in Richtung erneuerbarer Energien erfordert Wirtschaftswachstum; allerdings würden im Fall eines ökonomischen Aufschwungs die Verknappungen rasch wieder auf der Tagesordnung stehen und die Wirtschaft in die nächste Krise stürzen. Freilich verknappen sich Ressourcen auch in der Krise weiter, was den Shift zu den Erneuerbaren immer schwieriger machen wird. Erreicht die Kapitalexpansion ihre Grenzen, so gerät die soziale Sicherheit fortschreitend unter Beschuss. Der einzige Weg aus dieser Sackgasse der historischen Entwicklung besteht darin, die kapitalistische Produktionsweise hinter uns zu lassen. Eine Solidarische Ökonomie, die sich auf die Bedürfnisbefriedigung orientiert anstatt auf die Produktion von Profit ist ein notwendiger Anfangspunkt, ein bedingungsloses Grundeinkommen, und, noch viel wichtiger, eine soziale Infrastruktur für alle ein weiterer. Eine neue Produktionsweise und eine neue Weise sozialer Sicherheit sind beide nötig, um die unausweichliche Schrumpfung der kapitalistischen Ökonomie zu ermöglichen und Prosperität neu zu definieren.
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