Inhalt: | Texte von Daniil Charms, Alexander Vvedenskij, Konstantin Vaginov, Nikolaj Olejnikov, Nikolaj Zabolockij, Leonid Lipavskij, Jakov Druskin u.a.
mit Yulia Izmaylova und Felix Strasser
OBERIU – die VEREINIGUNG REALER KUNST – war die letzte linke literarische Avantgardevereinigung im Leningrad der 1920er Jahre. Die Werke der Oberiuten schließen als logische Konsequenz von Symbolismus und Futurismus die Entwicklung der experimentellen russischen Vorkriegsliteratur ab.
Ihre Poesie «schuf eine verkehrte Welt unsinniger Gaukeleien. Sie entfaltete sich als ein Anschlag auf den sogenannten gesunden Menschenverstand, auf die Welt des Mittelmaßes, der Langeweile und der aufgeblasenen Solidität. [...] Sie parodieren pseudophilosophischen Tiefsinn, Didaktik, leere Rhetorik, Streitigkeiten um nichts.» (Lola Debüser)
«Sie entdeckten das Absurde nicht nur vor Beckett und Ionesco, in einem gewissen Sinn waren sie auch radikaler. [...] Hinter dem Absurden eines Beckett oder Ionesco bleibt immer noch ein Sinn zu vermuten. Der Aufbruch der Oberiuten in den Unsinn war kompromisslos konsequent.» (Olga Martynova, NZZ)
Zu den Mitgliedern gehörten die Schriftsteller Igor Bachterev, Daniil Charms, Dojvber Levin, Nikolaj Olejnikov, Konstantin Vaginov, Jurij Vladimirov, Alexander Vvedenskij und Nikolaj Zabolockij, die Philosophen Jakov Druskin und Leonid Lipavskij sowie die Filmemacher Klimentij Minc und Alexander Razumovskij.
Die OBERIU geht 1927 aus Charms' und Vvedenskijs Bewegung «Linke Flanke» (später «Akademie der linken Klassiker») und der Gruppe der «Tschinari» hervor. 1928 erscheint ihr Manifest und in einem spektakulären wie skandalösen Abend mit dem Titel «Drei linke Stunden» tritt sie erstmals an eine breite Öffentlichkeit. Charms liest sein Traktat «Die Kunst ist ein Schrank», das Drama «Elizaveta Bam» wird uraufgeführt und der «Oberiu-Film No.1: Der Fleischwolf» wird gezeigt. Es hagelt Kritik, OBERIU wird als antisowjetisch deklariert. Charms, Vvedenskij und Bachterev werden 1931 verhaftet und anschließend verbannt. Nach ihrer Freilassung treffen sich die Freunde noch sporadisch zu privaten Rezitations- und Diskussionsabenden und nennen sich nun «Klub der halbanalphabetischen Dichter». Weiter geht es so:
- 1934 Vaginov stirbt kurz vor seiner Verhaftung an Tuberkulose
- 1937 Verhaftung Olejnikovs, in Haft erschossen
- 1938 Verhaftung und Verbannung Zabolockijs
- 1941 Verhaftung Vvedenskijs, stirbt in Haft
- 1941 Verhaftung Charms, verhungert in der Gefängnispsychiatrie
- Lipavskij und Levin fallen im Krieg
- Vladimirov ertrinkt
Märchen
Es war einmal ein Mann namens Semjonow.
Einmal machte Semjonow einen Spaziergang und verlor das Taschentuch.
Ging Semjonow das Taschentuch suchen und verlor die Mütze.
Ging Semjonow die Mütze suchen und verlor die Jacke.
Ging Semjonow die Jacke suchen und verlor die Stiefel.
«Ach», sagte Semjonow, «hier verliert man ja alles. Gehe ich lieber nach Hause.»
Ging Semjonow nach Hause und verirrte sich.
«Nein», sagte Semjonow, «setz ich mich lieber hin und ruhe mich aus.»
Semjonow setzte sich auf einen Stein und schlief ein. (Daniil Charms) |