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Heike Schiebeck

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2004-06-11

Ernährungssouveränität* ins Herz der Europäischen Verfassung

Statt der Festschreibung von Produktivitätswahn eine andere Landwirtschaftspolitik

Die französische Kleinbauerngewerkschaft Confédération Paysanne (CP)*) hielt am 7. und 8. April ihren Kongress in Straßburg ab. Der Ort war bewusst gewählt: Thema des Kongresses war nämlich die Forderung der CP, Ernährungssouveränität in der Europäischen Verfassung zu verankern. Zum ersten Mal tagte eine Gewerkschaft im Amphitheater, dem großen Sitzungssaal des Europa-Parlaments. Das riesige Gebäude ist eine Demonstration von Macht, Reichtum und Verschwendung. „Pharaonesque!“ sagte der südfranzösische Schäfer Antoine zu mir als wir uns in den dunkelblauen Fauteuils des Sitzungssaales niederließen. Mit uns fragten sich 500 Bauern und Bäuerinnen: Ist das unser Europa? Welches Europa wollen wir?

Was wissen wir über die Europäische Verfassung? Abgesehen von institutionellen Fragen, wie die Zahl der Kommissäre oder das Stimmengewicht der einzelnen Mitgliedsstaaten drang fast nichts an die Öffentlichkeit. Man wartet noch darauf, dass Polen und Spanien zustimmen, um die Verfassung zu verabschieden. Nun ergreifen kritische Stimmen das Wort. Handelt es sich überhaupt um eine Verfassung? Die Rechtsprofessorin Dominique Rousseau, Universität Montpellier, bezeichnet den Verfassungsentwurf als gefährlichen Hybriden, eine Mischung aus Vertrag und Verfassung, der die Europäer zwingt, ihre Gesetze der Marktwirtschaft unter-zuordnen. (Campagne Solidaire 183, März 2004) Soll Europa nur ein Wirtschaftsraum sein, genügen Verträge. Eine Verfassung ist nicht notwendig. Soll Europa zu einem sozialen Modell werden, so muss eine Verfassungsgebende Versammlung, deren Delegierte die europäische Bevölkerung wählt, die Verfassung erarbeiten. Dem geht eine Wahlkampagne mit Diskussionen über unterschiedliche Konzepte und Wertvorstellungen, die in dieser Verfassung verankert sein sollen, voraus. Beides war beim vorliegenden Verfassungsentwurf nicht der Fall, denn das Vertragswerk wurde hinter verschlossenen Türen ausgehandelt.

Neoliberalismus als Kern des Verfassungsentwurfs

In Artikel III des Verfassungsentwurfs wird der Binnenmarkt als oberster Politikbereich festgeschrieben. Nicht das soziale und öffentliche sondern das private Interesse steht darin an erster Stelle. Staatliche Beihilfen für öffentliche Unternehmen, wie etwa Subventionen für das staatliche Bildungswesen oder öffentliche Medien sind wettbewerbsverzerrend und können verboten werden (Artikel III-55 bis III-58). Die Wirtschafts- und Währungspolitik ist nur einem einzigen Grundsatz verpflichtet, nämlich dem der offenen Markwirtschaft mit freiem Wettbewerb (III-69). Die Beschäftigungs- und Sozialpolitik (III-97) darf die Wettbewerbsfähigkeit der Union nicht beeinträchtigen. Lohndumping ist somit rechtmäßig. Unter Berufung auf diesen Artikel könnten beispielsweise Unternehmer die Zahlung ihres Anteils zur Sozialversicherung einstellen. Welthandel und Auslandsinvestitionen hingegen gelten als öffentliches Interesse und dürfen nicht behindert werden. In der Verfassung wird das neoliberale Dogma als oberster Wert verewigt. Einmal verabschiedet, sind Änderungen kaum möglich, da sie die Einstimmigkeit der 25 Mitgliedsstaaten erfordern.

Welche Bedeutung kommt in diesem Verfassungsentwurf der Landwirtschaft zu? Wortwörtlich wurde der Text aus den Verträgen von Rom übernommen, die 1957 unterzeichnet wurden als in Europa die Lebensmittelkarten noch in lebhafter Erinnerung waren. Im Artikel III-123 heißt es: „Ziel der gemeinsamen Agrarpolitik ist es, die Produktivität der Landwirtschaft durch Förderung des technischen Fortschritts, Rationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und den bestmöglichen Einsatz der Produktionsfaktoren … zu steigern.“ Seit Beginn der 1970er Jahre ist Europa bei der Versorgung mit Lebensmitteln autonom. Die Ausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) wurde jedoch nicht geändert. Man hielt am Produktivismus fest, mit den bekannten Folgen: Überproduktion, BSE, nitratverseuchte Böden und Entvölkerung der Berggebiete haben für die Autoren des Verfassungsentwurfs offensichtlich kein Gewicht. Sie haben keine Sekunde darüber nachgedacht, wie eine andere europäische Landwirtschaftspolitik aussehen könnte.

Was bedeutet Ernährungssouveränität **) für Europa?

Subventionierte Landwirtschaftsexporte aus der EU und den USA vernichten in ärmeren Län-dern Kleinbauern und lokale Märkte. Das Recht, sich zu ernähren und die Art der Landwirtschaft, die die Lebensmittel hervorbringt, selbst zu bestimmen, ist ein fundamentales Recht, das Recht auf Leben schlechthin. Via Campesina hat das Konzept der Ernährungssouveränität auf dem Welternährungsgipfel 1996 erstmals vorgestellt. Die CP fordert nun, Ernährungssouveränität in der Europäischen Verfassung zu verankern. Sie hat zum vorliegenden Verfassungsentwurf ein Gegenmodell erarbeitet, das der Erhaltung der Bauernhöfe und den Erwartungen der Verbraucher in Europa gerecht wird. Hier einige Auszüge: „Die gemeinsame Agrarpolitik muss die Versorgung der gesamten europäischen Bevölkerung mit gesunden Lebensmitteln sicherstellen. Dabei sollen die lokalen und kulturellen Besonderheiten respektiert werden. … Landwirtschaft und Ernährung sind vitale Notwendigkeiten, deren Regelung nicht allein dem Markt unterworfen werden darf.“ Die CP fordert:

- bäuerliche Landwirtschaft zur Versorgung des europäischen Marktes,
- Beschränkung der landwirtschaftlichen Produktion und Vermeidung von Überschüssen,
- Anerkennung der bäuerlichen Arbeit durch Preise, die die Produktionskosten decken und auch die Arbeit entlohnen,
- Unterstützung für Neueinsteiger in die Landwirtschaft,
- Förderung umwelt- und sozialverträglicher Anbaumethoden,
- Förderung regionaler Verarbeitung und Vermarktung,
- Erhaltung eines lebendigen ländlichen Raumes, der sich auf zahlreiche kleine und mittel-große Höfe stützt,
- Solidarität statt Konkurrenz als wirtschaftliche und soziale Grundlage für das erweiterte Europa,
- Verhandlungen für eine Neuregelung des Welthandels ohne Dumping.

Die CP fordert alle europäischen Organisationen auf, während des EU-Wahlkampfes gegenüber Politikern für eine Änderung des Verfassungsentwurfs zu intervenieren. In Frankreich berichteten Fernsehsender, Rundfunk und Presse vom Kongress der CP in Strassburg. Noch ist alles offen: Mehrere Länder kündigten Referenden zum europäischen Verfassungsentwurf an. Es hängt von uns ab, ob die Diskussion über ein Europa, wie wir es uns vorstellen, in Gang kommt.

Heike Schiebeck, Longo maї

____________

Anmerkung:
*) Confédération Paysanne: Die französische Kleinbauerngewerkschaft ist 1987 aus einem Zusammenschluss mehrerer Bauernorganisationen hervorgegangen. Sie tritt für bäuerliche Landwirtschaft und die Vertei-digung ihrer Arbeitskräfte ein. Bei den Landwirtschaftskammerwahlen im Januar 2001 errang die CP 26,5 % der Stimmen. Ein großer Erfolg, wenn man bedenkt, dass von den ca. 600.000 in der Landwirtschaft Beschäftigten Frankreichs nur 10.000, also etwa 1,6 %, Mitglieder der CP sind. Die Gewerkschaft zeichnet sich durch eine Mischung beharrlicher Verbandsarbeit und medienwirksamer Protestaktionen gegen Gentechnik und Agroindustrie aus. Über Frank-reich hinaus bekannt wurde sie im August 1999 durch die friedliche Demontage einer im Bau befindlichen McDonald-Filiale im südfranzösischen Kleinstädtchen Millau. Einigen Aktivisten der CP, darunter José Bové, brachte diese Aktion mehrere Monate Gefängnis und eine enorme Sympathie- und Solidarisierungswelle im Kampf gegen den Drecksfraß (Malbouffe) und für die Anliegen der bäuerlichen Landwirtschaft ein. Als Sprecher der CP verabschiedete sich José am Kongress in Straßburg, da sein Mandat abgelaufen ist. Er wird nun vermehrt für Via Campesina tätig sein.

**) * Ernährungssouveränität bezeichnet das Recht der Bevölkerung eines Landes oder einer Union, die Landwirtschafts- und Verbraucherpolitik selbst zu bestimmen, ohne Preis-Dumping gegenüber anderen Ländern.

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Günther Baumgartner, 2004-06-11, Nr. 1224

Das ist ja ein Hammer, was die sich da ausgebrütet haben! Wo bleibt denn da der Aufschrei der Grünen?

Alois Dvorak, 2004-06-11, Nr. 1225

Sehr geehrter Herr Baumgartner, anscheinend ist es ihrer geschätzen Aufmerksamkeit entgangen, dass alle 4 Parlamentsparteien: ÖVP, FPÖ, Grüne und SPÖ FÜR DIESE Verfassung sind. Einzig die nicht im Parlament vertretene "LINKE - Opposition für ein solidarisches Europa" tritt dagegen auf!
Ich will ja keine Wahlwerbung machen, aber diesmal fällt mir die Wahl sehr leicht!!!

A.D.

Peter Aigner, 2004-06-14, Nr. 1227

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,

zur Ernährungssouveränität in die Europ. Verfassung!

Prima! Endlich! Dachte ich mir.
Doch in der Aufzählung der löblichen Argumente - die gegen die derzeit Marktmächtigen erwiesenermaßen keine Chance haben! - fehlt das entscheidende:
Die Darstellung der Importabhängigkeit zur Erhaltung der - unnatürlich hohen = Raubbau betreibenden - derzeitigen Produktivität der europ. Landwirtschaft und die daraus folgende Krisenanfälligkeit der Nahrungsmittelversorgung für die europ. Bevölkerung!

Weiters die Darstellung, wie - finanziert über von uns allen abgenommenen Steuergeldern - Weltmarktpreise für Lebensmittel gestaltet werden, die für jede bodenständige Landwirtschaft letal sind.

Und die Darstellung des Umkehrschlusses, wie sich die - derzeit! - "billigen" Supermarktangebote darstellen, wenn wir sie um unsere mißbräuchlich verwendeten Steuergelder erhöhen.

Daraus ergäbe sich vermutlich der Schluß, daß unsere Landwirtschaft durchaus in der Lage wäre, konkurrenzfähig zu poduzieren - und krisensicher dazu!

Bitte, warum baut man nicht diese Argumentationslinie auf, die jedem - auch dem oberflächlichsten - Bürger einleuchtet, weils um seinen Geldbeutel geht und - mit ganz wenig Nachdenken - um seinen gedeckten Tisch morgen?!
Ich hoffe auf eine Antwort.

Es grüßt euch

Peter Aigner, 9813 Möllbrücke

Heike Schiebeck, 2004-06-14, Nr. 1229

Lieber Peter Aigner,

vielen Dank für deine Reaktion auf meinen Artikel 'Ernährungssouveränität in die EU-Verfassung'. Mit der Argumentationslinie bin ich vollkommen einverstanden. Sie wurde von Organisationen wie der ÖBV (Österreichische Bergbauern- und Bergbäuerinnenvereinigung) und der CPE (Coordination Paysanne Européenne), beide Mitglied von Via Campesina, erarbeitet und immer wieder publiziert. Ich bin in beiden Organisationen seit neuestem im Vorstand. Für eine Verbreitung dieser Argumente (erzwungene Abhängigkeit Europas von Futtermittelimporten - Überproduktion - subventionierte LW-Exporte - künstlich niedrig gehaltene Weltmarktpreise - Zerstörung der bäuerlichen Landwirtschaft im Süden und bei uns) in einer verständlichen Sprache bin ich dankbar.
Meinen Artikel habe ich für die 'Bäuerliche Zukunft' (ÖBV) geschrieben, in deren Leserkreis diese Zusammenhänge bekannt sind. Ich hatte zwei Seiten zur Verfügung. Man kann nicht immer alles in einen Artikel stopfen.

Liebe Grüße
Heike Schiebeck

Peter Aigner, 2004-06-23, Nr. 1240

Liebe Heike Schiebeck,

danke für die Rückmeldung.
Redaktionelle Zwänge habe ich im Laufe meines Lebens kennengelernt.
Mir geht es - längerfristig, ich spreche für meine Enkel - um Ernährungssicherheit.
Irgendwann las ich, Europa sei bis in vor etwa 40 Jahre nie ein Nahrungsmittelexporteur gewesen.
Immer hätte es regionale - gelegentlich dramatische, siehe Irland vor 150 Jahren - Engpässe gegeben.
Von einem Franzosen, der einen geschichtlichen Überblick über die Kulturen im mediterranen Raum schrieb, behielt ich mir, die Macht der jeweiligen Kultur begründete sich auf die Fähigkeit, ausreichend Nahrungsmittel zur Verfügung zu haben.
Ebenso las ich einmal, wir hätten bis vor zwei Generationen humusbildende Landwirtschaft betrieben, seither humusverzehrende.
Hier höre ich von alten Bauern, eine gute Kuh hätte seinerzeit 12 - 15 Liter Milch gegeben, aber 15 Kälber zur Welt gebracht, eine heutige bringe das Mehrfache, sei aber nach drei Kälbern "fertig", als Ergebnis der "Kraft"-Fütterung.
Gleiches gelte für die enorme Ertragssteigerung je Hektar Ackerfläche.
Beides, Böden wie Tiere werden ausgebeutet. Im Bergbau nennt man das Raubbau.

Den Menschen klar zu machen, daß es um ihre Existenz geht, wäre wohl redaktionelle Priorität, oder?
Z.B. nach welchen unumstößlichen Gesetzen Landwirtschaft funktioniert und nur mit welchen - räuberischen ebenso wie selbstmörderischen Methoden - die heutige Überproduktion zusammengebracht wird.
Würde die Auflage steigern und zu Einfluß in der Öffentlichkeit führen.
Anstatt nur zu lamentieren über die Ungerechtigkeit der heutigen Systeme. Damit bleibt man eine Randerscheinung im politischen Spiel.

In diesem Sinne alles Gute und schöne Grüße auf den Hof Stopar

Peter Aigner

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