2004-03-29
DER BAUMEISTER
Florian war für den Betrieb vorgesehen. Er sollte ihn vom Vater übernehmen, der ihn durch Jahrzehnte hindurch aufgebaut hatte. Gemessen an der Enge des Tals war es ein stattlicher Betrieb. Es gab kaum eine Baustelle in der Gegend, wo nicht das Firmenschild mit dem Namen Muratori geprangt hätte.
Schon im Kleinkindalter wurde Florian auf das Übernehmen des Betriebes vorbereitet. Wenn ihm der Vater Holzklötze schenkte, dann war dies eine Vorbereitung auf die Übernahme, wenn Tante, Onkel, Großvater oder eine der beiden Großmütter ihm Legosteine, Knetmasse oder Matador-Baukästen mitbrachten, dann war es eine Vorbereitung auf die Betriebsübernahme, und wenn ihn Frau Muratori – die betulich-resolute Ehegefährtin und Buchhalterin des Vaters – von seinen eigentlichen Interessen – dem Singen, dem Flötenspiel und dem sich Verkleiden – abzulenken suchte, dann war es eine Vorbereitung auf die Übernahme.
Da Florian weder Bruder noch Schwester hatte, konnte ihn niemand von der Übernahmelast befreien, diese erleichtern oder mit ihm teilen. Der Bub wird übernehmen, hieß es, und damit hat er im Gegensatz zu anderen Kindern schon jetzt eine Lebensgrundlage, eine Basis für Glück, Wohlstand und Zufriedenheit.
Und so baute der kleine Florian – um die Gunst der Eltern und Verwandten besorgt – Häuser, Kirchen, Bahnhöfe und Hotels aus seinen Bauklötzen, wenn er auch lieber gesungen oder sich verkleidet hätte. In der Volksschule bemühte er sich redlich, ein guter Rechner und Zeichner zu werden, und es gelang ihm auch. Am Gymnasium blieb er ebenso brav – gemäß den Worten des Klassenvorstandes - „mathematisch-technisch orientiert“.
Der Betrieb expandierte, wie man das nun nannte, expandierte in jenem engen Rahmen, den das Tal und die Enge eines Familienunternehmens vorgab. Vater Muratori war eindeutig der Platzhirsch in der Gegend, an dem sich die Konkurrenten aus den Nebentälern die Zähne ausbissen. Nicht, dass die Familie deshalb im Reichtum geschwommen wäre. Ein Baumeister muss viel Geld aufwenden, um gutes Personal, funktionstüchtige Maschinen, einen entsprechenden Fuhrpark zu haben, und viele Kunde zahlen verspätet, auf Raten, oder – im ungünstigsten Fall – gar nicht, und dann ist das Baumaterial bereits beschafft und liegt oder steht auf dem Firmengelände herum, ohne dem Betrieb etwas einzubringen. Zehn Tonnen Zement werden nicht besser, wenn sie längere Zeit gelagert werden und haben sie einmal Feuchtigkeit angenommen, sind sie kaum noch zu verarbeiten. Der Reichtum der Familie Muratori bestand vorwiegend in Aufträgen, Hoffnungen auf eingehende Zahlungen und Bilanzen, die – so günstig sie aussehen mochten – in der Wirklichkeit wenig Gewicht hatten.
Als Florian fünfzehn Jahre alt war, rebellierte er erstmals gegen die baumeisterliche Berufung, die man ihm in die Wiege gelegt hatte. Von seinem Taschengeld kaufte er sich eine Gitarre und gründete eine Band. Zudem verliebte er sich in deren Leadsängerin. Am Gymnasium fiel er durch. Nicht in jenen Gegenständen, bei denen man das familienseits eventuell hätte begreifen und verzeihen können (in Latein, Englisch oder Geschichte etwa), nein, Florian versagte in Mathematik, Physik und Chemie.
Eltern und Verwandtschaft waren enttäuscht, fanden sich jedoch bald mit Florians Fehlleistung ab und trachteten, einer solchen in Hinkunft vorzubeugen. Der Sohn sollte einen tüchtigen Nachhilfelehrer bekommen, der ihn auf den vorbestimmten Weg zurückführen würde. Vater Muratori, ein graziler Mensch mit grauen Haaren und großen, verträumt wirkenden blauen Augen, war das gerade Gegenteil eines zürnenden Patriarchen. Mit milder, beinah zärtlicher Beharrlichkeit redete er auf den Sohn ein, entwarf für ihn das künftige Paradies der Selbständigkeit, des Wohlstandes und der Zufriedenheit, und erklärte sich überzeugt, der Sohn würde es nun besser machen. Niemand in der Familie und der Verwandtschaft stellte die für Florian erwählte Sendung in Frage. Und der Sohn schien sich zu fügen. Der Bandleaderleidenschaft wurde weniger oft gefrönt, der mathematisch-technischen Fortbildung verstärktes Augenmerk geschenkt. Florian kam wieder auf mathematisch-technische Touren und bestand die Matura auf Anhieb. Brav inskribierte und studierte er an der technischen Hochschule, Familie und Verwandtschaft waren wieder zuversichtlich.
Ohne glanzvolle Leistungen zu bieten, brachte es Florian im Alter von sechsundzwanzig Jahren zum Titel eines Diplomingenieurs. Der Vater, mittlerweile über sechzig Jahre alt, konnte an Ruhestand und Betriebsübernahme durch den Sohn denken. Er hatte ja offenbar alles doch richtig gemacht, und die steinernen Zeugen dieses richtig Machens konnte man in der ganzen Gegend sehen: Die Kirche von Obfritz, die von der Firma Muratori renoviert worden war, das Gemeindezentrum von Wald am See, das Rathaus von Obertschern, das Grand Hotel Garni am See und zahllose Einfamilienhäuser und Garagen im Tal und darüber hinaus legten Zeugnis ab von der Leistungsfähigkeit des Betriebes, den der Sohn nun demnächst übernehmen sollte.
Der Sohn übernahm früher als vom Vater geplant. Florian Muratori senior wurde von einem schweren Bandscheibenleiden und danach von einem noch schwereren Herzinfarkt heimgesucht. Die Ärzte empfahlen ihm, sich aus der Berufswelt zurückzuziehen. Florian junior übernahm. Übernahm zahlreiche Aufträge, Hoffnungen auf Eingänge von Zahlungen, unbezahlte Rechnungen und eine glänzende Bilanz. Übernahm das baumeisterliche Platzhirschentum im Tal, übernahm einen stattlichen Fuhr- und Maschinenpark, sechsunddreißig Arbeiter und drei Angestellte. Er übernahm die Vaterrolle, fuhr von Baustelle zu Baustelle, beaufsichtigte, plante, bilanzierte, beauftragte und beriet und beruhigte Kunden. Florian spielte die Vaterrolle recht gut wie es schien, doch spielte er sie mit anderem Habitus, in anderer Kostümierung als der Vater. Dieser war stets in dunklem Anzug und mit Krawatte unterwegs gewesen, und bei aller Milde und Höflichkeit hatte ihn eine bemerkenswerte Beharrlichkeit ausgezeichnet. Er hatte schlampige, unverlässliche oder versoffene Arbeiter auf Vordermann gebracht und notfalls gekündigt, unangenehme Kunden gezwungen, statt des Möglichen das Wirkliche zu sehen, alles mit der Geduld und Beharrlichkeit eines Missionars.
Florian trug Jeans, T-Shirts und eine flapsige Fröhlichkeit, eine spaßige Nonchalance zur Schau. Unverlässliche Arbeiter pardonierte er, mit versoffenen trank er, unangenehmen Kunden versprach er das Blaue vom Himmel. Nebenbei verliebte er sich in eine Schauspielerin des Kreisstadttheaters, eine exaltierte und demonstrativ kunstsinnige Person mit Hang zu Alkoholismus und Medikamentenmissbrauch, die für das Baugeschäft ihres Liebhabers nur Verachtung übrig hatte. Sie hielt den labilen Jungbaumeister zudem mit erfundenen, eingebildeten und tatsächlichen Nebenliebesaffären auf Trab. Dieser erklärte sich diese Affären damit, dass er baugeschäftsbedingt für die Geliebte einfach zu wenig Zeit hatte, nahm also alle Schuld für ihre Eskapaden auf sich.
Als die Geliebte mit einem Schauspielerkollegen nach Deutschland durchbrannte, hatte Florian endgültig die Nase voll vom Bauwesen. Er erklärte dem vom zweiten Herzinfarkt gerade rehabilitierten Vater, den Betrieb auflösen, den Fuhr- und Maschinenpark verkaufen und die sechsunddreißig Arbeiter und die drei Angestellten in die Wüste schicken zu wollen. Unter Tränen beschwor der Alte den Sohn, doch nicht sein – des Alten – Lebenswerk und die eigene Zukunft zu zerstören. Es fruchtete nichts. Florian löste auf, verkaufte, schickte in die Wüste. Unbezahlte Rechnungen, unerfüllte Zahlungseingangs-Erwartungen, Rechtsstreitigkeiten mit frustrierten Kunden und chaotische Bilanzen verfolgten ihn noch eine Zeitlang. Sie reduzierten das Vermögen der Firma Muratori auf einen noch immer nicht ganz unansehnlichen Betrag, der den gescheiterten Juniorchef einige Jahre durchbringen mochte, so er ihn nicht vorzeitig durchbrachte.
Florian versuchte alles, seine Schauspielerin wiederzugewinnen und warf dabei das Geld mit beiden Händen aus dem Fenster. Dreimal kehrte sie zurück, viermal verließ sie ihn wieder. Florian begann zu saufen und sich Heroin zu spritzen. Eine Drogenkarriere im Alter von dreißig Jahren darf auf kein Verständnis hoffen. Einem Zwanzigjährigen ließe man sie durchgehen, würde sie mit Empfindsamkeit, schlechtem Freundeseinfluss, altersbedingter Weltfremdheit erklären. Als Florian wegen Drogendealerei angeklagt wurde, hatte die Richterin für ihn keinerlei Sympathie. Sie verurteilte ihn zu drei Jahren Gefängnis. Florian, trotzig und einsilbig geworden, nahm das Urteil an. Das Angebot, statt der Haftstrafe eine Entziehungskur mit anschließender Therapie anzutreten, lehnte er ab. Nach zwei Jahren wurde er wegen guter Führung entlassen. Im Gefängnis hatte er sich viel mit Bastelarbeiten beschäftigt. Unter der Anleitung einer handwerklich versierten Betreuerin hatte er aus Brotteig Krippen hergestellt, aus Holzklötzen Kirchen, Rathäuser und Hotels, aus Ton hatte er Miniaturen des Louvre, der Peterskirche und des Taj Mahal angefertigt, die auf Wohltätigkeitsbasaren Höchstpreise erzielten.
Florian nahm diese neue und diesmal echte Liebe zum Bauen aus dem Gefängnis mit ins zivile Leben. Vater und Mutter waren inzwischen gestorben, an Herzeleid, wie man im Tal sagte. Florian verkaufte das Haus in Obfritz, das letzte Stück des Familienbetriebs Muratori, für dessen Übernahme er seit seiner Geburt vorgesehen gewesen war. Um den Erlös erstand er eine kleine, aufgelassene Mühle in den Wäldern oberhalb des Ortes. Die Mühle gestaltete er zu einer bescheidenen Behausung um. Ein Bett, einen Schrank, Tisch und Sessel gab es darin, nebst einer Werkbank, an der Florian seine kleinen Handwerksarbeiten herstellte, wenn er nicht gerade Gitarre oder Flöte spielte. Wundersame Dinge entstanden da aus Ton, Holz, Salz- und Brotteig. Die renovierte Kirche von Obfritz musste Florian einundsechzig Mal bauen, so gut verkaufte sie sich in Kunsthandlungen, Heimatmuseen oder direkt ab Mühle an Touristen. Rat-, Schul- und Einfamilienhäuser baute er in der Mühle, Hotels und Gemeindezentren, und sämtliche Kirchen, Burgen und Schlösschen der Gegend. Er ließ alle Bauwerke, die der Vater geschaffen, als Miniaturen wieder auferstehen. Neben dem Geschäft mit den Touristen blühte vor allem jenes mit den Anwohnern der Gegend. Florians Kunst stand in solch hohem Ruf, dass fast alle Bewohner der Gegend ihre eigenen Häuser ein zweites Mal – in Miniaturform – gewissermaßen zu Hause haben wollten. Und weil diese Häuserminiaturen sich auch vorzüglich als Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke eigneten, hat Florian die Bausubstanz, ja auch (aus Moos und Geäst) die Fauna und Flora des Tales viele Male wiedererstehen lassen. Nur Menschenminiaturen fertigte er keine an. Reich ist er mit seinen Arbeiten nicht geworden, aber Not hat er keine leiden müssen. Freilich, er wurde ein wenig sonderbar durch sein Leben in der kleinen Mühle. Kaum, dass er sich noch hinausbewegte, kaum, dass man ihn noch irgendwo in der Gegend zu Gesicht bekommen hätte. Ess- und Trinkwaren wurden ihm von einem Boten des Obfritzer SPAR-Marktes zur Mühle geliefert, Kleider bestellte er aus dem Versandhauskatalog. Es gab für ihn eigentlich keinen Grund mehr, sich in der Vorlage jener Welt zu zeigen, die er an seiner Werkbank in der Mühle abbildete.
Jedenfalls: Das Tal mit der umliegenden Gegend erstand ein zweites, ein drittes, ein zehntes und noch öfteres Mal wieder, und lag oder stand auf dem Kornboden der Mühle, sich andauernd verändernd und doch im Ganzen gleich bleibend. Florian unternahm Augenspaziergänge in seinem Tal, wie er dies bei sich nannte, und er genügte sich dabei, froh, keine Auftrags-, Bilanz- und Schuldenbücher führen zu müssen, bezahlte man ihn doch prompt oder gar nicht. Er hat an seiner Werkbank auch versucht, ein anderes Tal zu erschaffen, mit anderer Bausubstanz, anderen Sehenswürdigkeiten. Mit dieser Arbeit ist er nicht recht vorangekommen. Es gab zu viele Aufträge aus dem einen, aus seinem Tal, dessen Kind er war.
Bei der Gestaltung dieses anderen, baumäßig niemals vollendeten oder auch nur einigermaßen fortgeschrittenen Tales (welches Florian in dem der Mühle angeschlossenen Geräteschuppen angeordnet hatte) dürfte er sich den Tod geholt haben. Wegen alkohol- und nikotinbedingten Herzversagens, sagen manche im Tal. Andere behaupten, Florian habe sich – betrunken und eine Zigarette nach der anderen rauchend – nach mehr als einem Jahr des Mühlenexils doch wieder einmal zu Tal begeben. Dort angekommen, sei er vor der Bausubstanz des wirklichen Ortes Obfritz und der an der Bausubstanz abzulesenden Lebensart entsetzt zurückgeprallt und eilig wieder hochgestiegen zu seiner Mühle. Ja, er sei – betrunken und eine Zigarette nach der anderen rauchend – geradezu zurückgestürmt zu seiner Mühle und habe sein ohnedies bereits krank gesoffenes und krank gerauchtes Herz mit diesem Aufwand überfordert. Gerade noch bis zum Geräteschuppen schaffte er es. Dort brach er tot zusammen, sein unvollendetes anderes Tal vor Augen.
Feld am See, Dezember 02/Jänner 03.