2004-01-23
SALZTAGE
oder: ich habe den Dom nicht gesehen
UND
der Herbst ist noch jung im Irgendwo der sich verlaufenden Wege. Um 16.53 wirft der verordnete Bahnhof mit Schreie um sich und Augen eilen zur Straße der Stummheit. Die Geburtsnummer 518/1956 steht erschreckt in einer Telefonzelle und sucht nach der haltversprechenden Zahl des damaligen Jugendscharführers.
Ich habe den Dom nicht gesehen.
Die Frau des abgesprungenen Priesters kocht vegetarisch. Im katholischen Sinn wäscht sich Nr. 518/1956 ihre Schweißfüße. Die sich zu erzählenden Erinnerungen sind neun Jahre alt.
Ich habe den Dom nicht gesehen.
Vor dem Bahnhof wartet der getarnte Lastenwagen. Sich ausweisen und die Geburtsnummer 518/1956 wird verladen und zu dem, für Monate endgültigen Bestimmungsort ihrer Tage transportiert. Die Reise verläuft stumm.
Ich habe den Dom nicht gesehen.
Der schon vom Haar Befreite entfernt die Geburtsnummer von der Geburtsnummer 518/1956 und verordnet ihr die Präsensnummer 09404.
Das der Nr. 09404 zugeordnete Schlafzimmer ist groß und hell. Sogar die sich zufällig zugeordneten 40 Präsensnummern können sich riechen. Im Einschlafen decken sich Träume mit Heimweh zu.
Ich habe den Dom nicht gesehen.
Das Gestern ist Heute,
das Morgen weckt der Befreite.
Im Gleichschritt gehen,
aus dem Takt kommen,
im Schritt reibt Schritt
und
zu Mittag verschlingt der Hunger das Sägedienergulasch in fünf Minuten.
Ich habe den Dom nicht gesehen.
Zwischendurch,
nachdem die beschützende Erde zum sinnlostenmal zugeschüttet wurde, geht Nr. 09404 ein Stiegenbier trinken und das Bosna schmeckt nach seiner verleugneten Heimat. Zeitbedingt kommen sich die zugeordneten Nummern in der Langatmigkeit der Tage näher.
Ich habe den Dom nicht gesehen
Zwischendurch,
darf Nr. 09404 die Provinz besuchen. Im schreienden Stechschritt schreitet sie ihre Einsamkeit vor den, zur Fremde gewordenen Freunden ab. Am Sonntag bügelt die Mutter grüne Hemden.
Ich habe den Dom nicht gesehen.
Zwischendurch,
im sechstündigen Zug treffen sich sechunddreißig Biergläser. Im Hintergrund des Lachens, im Zittern der Eisenbahn bebt die friulanische Erde. Die Toten findet Nr. 09404 morgen in der Zeitung.
Ich habe den Dom nicht gesehen.
Irgendwann,
während einer Rückreise zum Dorthin berührt Nr. 09404 die unter einer Jeans versteckten Oberschenkel einer sitzenbleibenden zukünftigen Krankenschwester. Das Europahotel ist hoch, die AugenNr. 09404 ist im Spiegelbild der Augen vertieft. Unter dem Tisch halten sich schüchterne Hände.
Ich habe den Dom nicht gesehen.
Irgendwann,
das Zimmer zwängt sich in die Dunkelheit des Sonntags. Die Augenblicke mit Handschuhe der Neugier überzogen werfen sich ins Bett und es gibt kein Klo für die gummigeschützte Liebe Nr. 09404.
Ich habe den Dom nicht gesehen.
Irgendwann,
quer durch die Stadt gehen, die Verhütung hindert die Blase nicht zu drücken. In die Seite der Büsche treten, den Schutz der Liebe abstreifen und Wasserfarben lassen. Der Weg im Bus ist weit.
Ich habe den Dom nicht gesehen.
Danach,
abends durch ein Gasthaus gehen, die Nummern singen ihre Lieder, Augen schwören sich handgestützte Treue
Und dann
durch ungeschützte Salzgassen gehen.
Aus den Fenstern fällt der Kübel Wasser,
und
das Lied
des Kärntners
erschreckt ganz leise.
Ich habe den Dom nicht gesehen.
Danach,
ist die Liebe, ein Ausflug zur Gewöhnlichkeit, sitzt in der Salzburg der Tränen, zahlt der Treue hängengebliebenen Träume einen Eiskaffee und lächelt dem Fotoapparat eingefangene Erinnerungen zu. Die Zähne der Tage sind noch unscharf entwickelt.
Ich habe den Dom nicht gesehen.
Irgendwo
in einer Reihe stehen, der Unsinn des Sinns predigt sich mit verpflichtenden Wörtern in müde Augen. Die Anerkennugsmedailie ist aus verkupferten Gedanken und muß einen Tag öffentlich getragen werden bevor der entlassene Befehl die Gesichter der Befreiten ins Blaue färbt. Abschiedswörter beenden das Geschrei.
Ich habe den Dom nicht gesehen
Der getarnte Lastenwagen steht im Irgendwann. Die versprochene Hoffnung - ein Krieg - ist die öffentlich genehmigte Fahrtberechtigung verordneter Salztage nach Hause. Nr. 09404 wartet auf den öffentlichen Bus. Einsteigen und ...
Und
jetzt kommt meine Tochter aus der Stadt zurück. Die Aufregung flüstert mir mit eisverschmierten Mund Augenblicke ins hinabgebeugte Ohr:
ICH HABE MEINEN SCHATTEN GESEHEN ...