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Elisabeth Faller

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2003-05-15

Rede am Mahnmal

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Wir stehen hier vor einem Zeichen der Erinnerung. Der Erinnerung, die in ihrer Form, in ihrem Leid, in ihrer zum Teil beinahe unbegreiflichen Grausamkeit schwer nachvollzogen werden kann. Wenn wir an diesem Mahnmal, an der Seite dieser Namen ein Videoband ablaufen lassen würden mit allen Geschichten, die hinter den Namen stehen, dann würde uns übel werden, wahrscheinlich. Ich bin mir nicht sicher, ob wir diese geballten Bilder von Leid und Entsetzen überhaupt aushalten könnten. Es war teilweise für jeden Einzelnen in seiner eigenen Geschichte zu entsetzlich, dass diese Geschichten oft gar nicht weitererzählt wurden, wie Geschichten privater Natur in den Familien weitergegeben werden.

Im Krieg gefallen.

Das klingt neutral, beinahe steril. Doch was bedeutet es, nicht gefallen zu sein, nicht halb zerfetzt, durchlöchert, nach stundenlangem Röcheln qualvoll zu verenden, überlebt zu haben? Gefallen ist ein mildes Wort dafür. Es gibt viele unter uns, die davon erzählen könnten, die vielleicht in manchen Momenten die Bilder dieser Vergangenheit vor Augen sehen, ganz plötzlich, mitten in einem Spaziergang, beim Blick auf irgend Etwas, das die Erinnerung auslöst. Und es nicht mehr wagen, an dieses Trauma aus mehr Blut als Ehre zu denken.

Oder in einer ruhigen Stunde, an einem Abend, wenn eine vertraute Person zuhört, aufmerksam zuhört, stundenlang ist man schon beisammengesessen und plötzlich beginnt man zu erzählen, beginnt der Rückblick in eine Zeit, in welcher der Erzähler als junger Mensch schrecklichen Bildern der Zerstörung, der wahllosen Vernichtung von Menschenleben ausgesetzt war. Unbegreiflich heute, dass dies wirklich im eigenen Leben geschehen ist. Und es steigen Tränen auf, plötzlich, bei der Rückkehr in diese alten Bilder, die, in einen jungen Menschen gelegt sehr starke Bilder sind, zu stark für manche. Wie viele gibt es, gab es, die jahre- und jahrzehntelang mit ihren Kriegserlebnissen im Inneren ihren Nachkriegsalltag lebten, ihre Familien gründeten, ihrer täglichen Arbeit nachgingen und viel später erst, in der Pension, in Zeiten der Ruhe von diesem beklemmenden Wahnsinn verfolgt werden! Wie viele sind es, waren es, die nie davon gesprochen haben, weder ihren Frauen gegenüber, geschweige denn ihren Kindern, um niemanden zu belasten!

Erinnerung.

Wir denken an die Opfer des Nationalsozialismus, die systematisch ermordet wurden, deren Namen auf diesem Denkmal stehen. Ich denke auch an die lebenden Opfer unter uns, die als kleine Kinder die Kriegszeit erlebt haben, ohne ihre Väter zum Beispiel. Wie meine Mutter. Mit ihren vier Geschwistern hatte sie den Vater im Alter von sechs Jahren verloren. Ihre Mutter, meine Großmutter, musste in ärgster Armut die Kinder von Haus zu Haus schicken, um das zum Überleben Notwendigste zu bekommen.
Ich werde einen Satz meiner Mutter nie vergessen, den sie mir, als ich selbst noch ein Kind war, erzählte. Dieser Satz hat sich in mich eingegraben als ein Symbol des Krieges für die Daheimgebliebenen.

Die Brotlade war leer, erzählte meine Mutter. Sie hatten einen Küchentisch, mit einer Lade zum Herausziehen, wo das Brot aufbewahrt wurde. Es war kein Krümel mehr vorhanden, erzählte meine Mutter. Die Kinder standen da und weinten vor der leeren Brotlade. Dieses Bild werde ich nie im Leben vergessen. Es hat sich mir eingeprägt als Zeichen für die Frauen und Kinder im Krieg.

Erinnerung.

Über den Tod meines Großvaters habe ich als Kind den sterilen Satz ,,im Krieg gefallen“ gehört.
Ich hatte nie weiter nachgefragt. Es genügten mir die drei Worte. Ich konnte mir darunter kaum etwas vorstellen. Ein schnelles Verschwinden, eine kurze Begründung für einen Tod, der nicht unmittelbar mit mir zusammenhing. Doch unterbewusst musste in mir etwas durchgesickert sein.
Ich hatte als Kind ständig Alpträume. Träume von Verfolgungen. Ich wurde von Männern mit Waffen verfolgt, immer wieder. Immer wachte ich schweißgebadet auf knapp vor dem Erschossenwerden. Ich konnte mir diese Träume nicht erklären, die mich bis vor einigen Jahren in unregelmäßigen Zeitabständen verfolgten.
Dabei sehe ich weder spannende Filme, noch lese ich Krimis.

Vor einigen Jahren, als meine Großmutter starb, die Mutter meiner Mutter, erzählten mir die Verwandten, dass mein Großvater in Dachau umgekommen ist, am 27. April 1945. Und sie erzählten mir, was vorher passiert war. Bevor mein Großvater nach Dachau kam. Es ginge zu weit, hier die ganze Geschichte zu erzählen. Soviel jedoch, dass mein Großvater von den Nazischergen verfolgt wurde und mehrmals geflüchtet ist. Immer knapp vor dem Erschießen und in Todesängsten. Wie ich in meinen Träumen. Ich muss dazu erwähnen, ein Teil meiner Familie stammt aus Slowenien.

Ich hatte das Leben meines Großvaters, seine schlimmsten Stunden, geträumt. Es war eine Spur durch die Generationen gegangen, eine unsichtbare, unausgesprochene Fährte hatte sich gelegt, von der ich erst beim Begräbnis der Großmutter erfuhr.

Und ich erführ, dass mein Großvater misshandelt worden war. Zuerst im Lager Annabichl, dann in Dachau. Und ich erfuhr, dass auf seinen Händen keine Haut mehr war, als er starb. Einen Tag vor der Befreiung des Lagers Dachau durch die Amerikaner.

Ich stellte mir die Hände meines Großvaters vor. Und ich sprach mit ihm in die unsichtbare Welt hinein, dass es mir so leid täte, dass er so zu Tode geschunden wurde. Mit achtunddreißig Jahren. In meinen Gedanken küsste ich diese Hände. Und ich schrieb einen Text über sie.

Nach diesen Erzählungen, nach meinem eigenen Trauern über dieses elende Verrecken meines Großvaters hatte ich nie mehr diese Alpträume.

Erinnern.

Wir tragen alle Möglichkeiten in uns. Von größter Güte bis zur größten Grausamkeit. Wir alle. Gestern wie heute. Wir täuschen uns in uns selbst, wenn wir meinen, wir wären nur zum Guten fähig, wir wären zivilisiert. So etwas könnte nicht mehr passieren, meinen manche von uns. Wir tragen starke Schatten in uns. Es kann jederzeit wieder passieren. Eine Möglichkeit, die Vergangenheit nicht zu wiederholen ist, uns an sie zu erinnern. Mit allen ihren Grausamkeiten und Schönheiten. Mit allem, ob wir persönlich beteiligt waren oder auch nicht.
Erinnern bewahrt. Doch es fordert uns auch. Es fordert von uns ein Mittragen von Geschehnissen, die mit uns persönlich nichts oder nur mehr wenig zu tun. haben. Und es sind keine angenehmen Erinnerungen, wenn wir an die Opfer des Nationalsozialismus denken. Vielleicht noch das Zusammenhalten in der Nachbarschaft, im Ort, unter Kriegskameraden. Eine Solidarität, die wir heute vielfach vermissen.

Ich wünsche uns den Mut, manchmal zurückzublicken, in Respekt und Würdigung derjenigen, die Opfer geworden sind. Wie die Menschen aus dem Bezirk Villach, die hier auf dieser Tafel stehen. Und ich wünsche uns, dass wir Nachkommenden die Spuren in uns erkennen und achten, die diese Zeit hinterlassen hat. Auf dass wir mit Achtsamkeit zurückdenken und auch voraus. Ich wünsche uns die Aufmerksamkeit und Zivilcourage in unserem gegenwärtigen Leben, die allen Anfängen, die in eine solche Richtung führen könnten, wie die Zeit des Nationalsozialismus, mutig entgegentritt. Und die Zeichen sind nur erkennbar, wenn wir uns damit konfrontieren lassen, was vor uns war.

Ich will Ihnen noch den Text vorlesen, den ich für meinen Großvater geschrieben habe. In Erinnerung an seine Hände. Meine Art der Rückschau und Mittrauer.

Die Hände meines Großvaters
verstorben in Dachau, am 28. April 1945

Es waren Hände gewesen. Vor langer Zeit. Groß und klobig. Zum Holzhacken. Mit Pech daran und Schwielen. Nach der Arbeit mit Kernseife gewaschen. Mit der Bürste saubergerieben. Danach die Kinder im Arm. Fünf an der Zahl. Wie alt bin ich ? Fragt das Jüngste. Die Mutter sehnt sich nach der rauen Berührung. Aus der sie lebt. Nicht mehr lange. Denn sie werden ihr geraubt. Die Hände. Zu jung zum Sterben. Jedoch nicht zur Qual. Später Knochen mit anderen Knochen unentwirrbar vermischt. In die Grube geworfen. Damals. Wir sprechen nicht mehr darüber. Es wäre keine Haut mehr an ihnen gewesen. Vor dem Sterben. Nackt wären sie gewesen. Die Hände. So ohne Haut. Und dass es so besser gewesen wäre. Weil keine Haut mehr dran gewesen wäre. Aus diesem Grund. Wie es war. Auch wenn am nächsten Tag alles anders gewesen wäre.

Am 29. April 1945 wurde das Konzentrationslager Dachau von US-Truppen befreit.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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