2015-11-12
AUS DEM GEDÄCHTNIS IN DIE ERINNERUNG HOLEN
Emigranten: Gedicht von Tamar Radzyner
Vom langen Laufen betäubt,
keuchend
kommen wir an
und wollen für einen Moment
unsere schwarzen Koffer abstellen,
wie die anderen sein.
Doch man drückt uns
eine Erdkugel in die Hände,
eine bunte Erdkugel
aus echtem Plastik
und elektrisch beleuchtet.
Man fragt: „Wohin wollt ihr?
Wo gelb – da kommt ihr her,
Wo grün – herrscht Krieg,
Wo rosa – seid ihr unerwünscht“.
Gelb, grün, rosa ist die Erdkugel.
Habt ihr keine andere?
Eine mit einem winzigen Plätzchen,
Wo man eine Weile
Ruhe atmen darf,
Pfeife rauchen darf,
Augen schließen darf in der Sonne?
„Ein guter Witz“,
lachen die Beamten,
„eine andere Erdkugel“,
klopfen uns auf die Schultern
und schließen für die Mittagspause.
Die Jüdinnen und Juden, die Österreich nach dem Anschluss an Nazideutschland verließen, waren keine Emigranten. Es waren Flüchtlinge. Auf lokaler Ebene wurde die Politik der Vertreibung mit eiskaltem Kalkül durchgeführt. Erklärtes Ziel der Kärntner Nazis war die Umsetzung der Forderung Kärnten »judenfrei zu machen«. Kaum einer der Verfolgten wählte in freier Entscheidung ein anderes Land. Zermürbt von schikanösen Behördenläufen warteten sie verzweifelt auf Einreisegenehmigungen in bis dahin kaum wahrgenommene Staaten wie Uruguay, Venezuela, Kuba oder Shanghai. Oder sie hofften bloß, wie der Villacher Rechtsanwalt Marcell Glesinger in ein Land auswandern zu können, „wo eine Lebensmöglichkeit besteht“. Auch Heinrich Hirsch, Dentist aus Velden am Wörthersee, wünschte sich ein Land, welches ihm ermöglichte, seiner Familie „das tägliche Brot zu geben“. Jeder suchte nach einem Strohhalm. Manche verschafften sich Einblick in die Telefonbücher von New York oder London und schrieben an Menschen ähnlichen oder gleichen Namens. Man schrieb dann, dass man vermutlich ein Verwandter sei und bettelte um ein Affidavit, um ein Schutzversprechen. Manche bekamen auch eines. Kaum ein Land war an der Aufnahme mittelloser Juden interessiert. Angesichts zunehmender Flüchtlingsströme wurden die Grenzen gesperrt.
Bevor das NS-Regime zur systematischen Ermordung der Jüdinnen und Juden überging, trachtete es zunächst danach, die Judenfrage mittels Auswanderung zu lösen. Die planmäßige Entrechtung, Ausgrenzung, Enteignung und wirtschaftliche Beraubung sollte die jüdische Bevölkerung zum raschen Verlassen des Landes bringen. Mit der im August 1938 geschaffenen »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« in Wien, unter der Leitung von Adolf Eichmann, wurde die Vertreibung der Juden nun zentral gelenkt. Der Antrag auf Auswanderung durfte ab diesem Zeitpunkt nur noch an die Zentralstelle gerichtet werden, wo die Auswanderungswilligen unter Drohungen und Erpressungen ihrer letzten finanziellen Mitteln beraubt wurden. Eichmann verstand es, die systematische Judenvertreibung mit einem skrupellosen Beutezug zugunsten der deutschen Wirtschaft zu verbinden. In der Zentralstelle für jüdische Auswanderung bewährte sich auch der Wolfsberger Franz Novak. Im Frühjahr 1940 holte Eichmann seinen ehemaligen Mitarbeiter Franz Novak nach Berlin ins Reichssicherheitshauptamt. Als Transportoffizier im neu gegründeten Eichmannreferat für Juden- und Räumungsangelegenheiten koordinierte Franz Novak die Deportationszüge zu den Konzentrations- und Vernichtungslagern.
Die Fluchtwege der Familie Hirsch aus Velden am Wörthersee.
Wie Viele jüdische Familien wurde die Familie Hirsch aus Velden am Wörthersee während ihrer Flucht vor den Nazis getrennt und überlebte auf zwei Kontinenten verstreut. Heinrich Hirsch war kurz vor seiner Eheschließung im April 1922 mit der Wienerin Rosa Vater zum evangelischen Glauben übergetreten. Wenige Monate nach der Geburt ihren Sohnes Hans im September 1924 übersiedelte das Ehepaar nach Velden, wo Heinrich Hirsch eine Dentisten-Praxis eröffnete. Die Familie lebte sich rasch ein und beteiligte sich am gesellschaftlichen Leben der Gemeinde. Heinrich Hirsch war Mitglied des örtlichen Männergesangsvereins und gern gesehener Eiskunstläufer bei Veldens Winterfesten. Im August 1932 kam Tochter Dora zur Welt. Ihr Bruder Hans besuchte nach der Volksschule in Velden das Villacher Peraugymnasium.
Der Anschluss im März 1938 bedeutete eine drastische Veränderung für die Familie Hirsch. Der damals 14-jährige Hans wurde zum ersten Mal in seinem Leben mit seinen jüdischen Wurzeln konfrontiert – im Leben der evangelischen Familie hatte das bisher keine Rolle gespielt. Im Peraugymnasium, das Hans zu dieser Zeit besuchte, erteilte der evangelische Religionslehrer den Unterricht nun in SA-Uniform. Der Unterricht begann mit Heil Hitler. In seinen Lebenserinnerungen schildert Hans Hirsch auch die Bücherverbrennung im April 1938 im Hof des Peraugymnasiums: „We had a ceremonial bookburning. The director marched up and threw books in the burning heap before the assembled classes. There were constant celebrations about this or that and a lot of new songs had to be learned. I remember the Horst Wessel Lied and “Eine Fahne flattert uns voran”. Seinem Vater Heinrich Hirsch war es nicht mehr erlaubt, am Gedenken an die Opfer des 1. Weltkrieges teilzunehmen, obwohl man ihn für seinen Einsatz an der Ostfront mit einer Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet hatte. Seine Praxis musste geschlossen werden. Der Existenzgrundlage beraubt, übersiedelte die Familie im Juli 1938 nach Wien, um von dort die Flucht aus Nazideutschland zu organisieren. Nach dem Novemberpogrom erleichterten die Engländer die Einreise für Kinder. Im Juli 1939 verließ Hans Wien mit einem Kindertranstransport Richtung England, wo er in einer „Training School for Refugee Children“ Aufnahme fand. Ein paar Tage später brachte ein weiterer Kindertransport nach England die siebenjährige Dorli in Sicherheit.
Als letzte Fluchtmöglichkeit für Heinrich Hirsch blieb nur noch Shanghai. Als mit dem Eintritt Italiens in den Krieg auf der Seite des Deutschen Reiches im Juni 1940 der Seeweg nicht in Frage kam, verblieb nur noch der Landweg. Unter Aufbringung ihrer letzten Geldreserven besorgte Rosa Hirsch die erforderlichen Einreisegenehmigungen für ihren Mann. Im Februar 1941 verabschiedete er sich von seiner Frau Rosa. Es sollte ein Abschied für mehrere Jahre werden. Der Weg führte ihn mit der transsibirischen Eisenbahn in die Mandschurei und schließlich erreichte er per Schiff im März 1941den rettenden Hafen Shanghai. Die meisten der rund 18000 Flüchtlinge, darunter 4000 österreichische Jüdinnen und Juden lebten in Massenunterkünften in einem von den Japanern zerbombten Stadtteil, wo sie auf die täglichen Ausspeisungen jüdischer Hilfskomitees angewiesen waren. Neben Typhus, Malaria, und verschiedenen Durchfallerkrankungen machten den europäischen Flüchtlingen vor allem das dortige Klima zu schaffen: hohe Luftfeuchtigkeit, monatelange Regenzeiten und Temperaturen von 40 Grad Celsius im Sommer. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour im Dezember 1941 änderte sich die Situation dramatisch. Die Flüchtlinge mussten nun in ein von den Japanern errichtetes Ghetto übersiedeln, das sie nur mit Erlaubnis der Japaner verlassen durften. Das führte zu einer wesentlichen Verschlechterung der Lebensbedingungen.
Der Einzug amerikanischer Truppen im Spätsommer 1945 in Shanghai brachte nicht das sofortige Ende des Exils. Oft vergingen noch Jahre, ehe die Flüchtlinge die chinesische Hafenstadt verlassen konnten. Von Seiten der österreichischen Bundesregierung wurden den Flüchtlingen in Shanghai alle möglichen bürokratischen Hindernisse in den Weg gelegt. Staatsbürgerschaftsansuchen blieben monatelang unbeantwortet und über Unterbringungsmöglichkeiten wurde gefeilscht. Erst im Jänner 1947 glückte Heinrich Hirsch der Rücktransport nach Österreich. An Bord des italienischen Schiffes „Marine Falcone“, dem größten ausschließlich aus österreichischen Juden bestehenden Rücktransport, führte die Fahrt durch den Suezkanal nach Neapel und von dort mit dem Zug nach Wien. Nach sechs Jahren Trennung gab es nun ein Wiedersehen mit seiner Frau Rosa, die den Krieg bei ihren Eltern in Wien verbracht hatte. In Wien feierten sie ihre silberne Hochzeit. Das Ehepaar kehrte nach Velden zurück, wo Heinrich Hirsch wiederum eine Dentisten-Praxis eröffnete. Weihnachten 1948 besuchte Heinrich Hirsch erstmals seine beiden Kinder in England. Sein Sohn Hans, inzwischen ein junger Mann mit 24 Jahren, bereitete sich auf den Abschluss seines Chemiestudiums vor. Er hatte beschlossen, in England zu bleiben. Die inzwischen 15-jährige Dora hatte sich nach neun Jahren der Trennung von ihren Eltern stark entfremdet. Nach längerem Zögern kehrte sie dennoch mit ihren Eltern nach Kärnten zurück.
Im Zusammenhang mit der Rückkehr der Shanghai-Flüchtlinge 1947 gab es einen Filmbeitrag in der Wochenschau. In einem Wiener Kino, wo der Beitrag gezeigt wurde, kam es einem Bericht von Simon Wiesenthal zufolge zu einer bezeichnenden Szene: Als der Kommentator bemerkte, „es sind Juden, die nach Österreich zurückkehren, um am Wiederaufbau in der Heimat teilzunehmen“, habe man im Publikum wüstes Lachen gehört und die Rufe: „Vergasen“!
Hans Haider, November 2015
Quellen: Werner Koroschitz, Alexandra Schmidt, Im besten Einvernehmen, Antisemitismus und NS-Judenpolitik im Bezirk Villach, Klagenfurt 2015. Judith Aistleitner, Laurin Lorenz, Thomas Wallersberg, Grenzüberschreitungen: Didaktische Materialien zur Exilliteratur, Wien 2015.