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Werner Wintersteiner

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2015-01-30

Die Paris Anschläge

Einschätzung und bildungspolitische Konsequenzen

Die Attentate von Paris haben buchstäblich die Welt erschüttert, nicht nur die westliche Welt, und auch nicht nur die politische Klasse. So einmütig die Betroffenheit der Betroffenen aber auch sein mag, damit ist noch in keiner Weise Einigkeit darüber hergestellt, welche Bedeutung man den Attentaten beimisst, auf welche Ursachen man sie zurückführt und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Stattdessen gibt es harsche und eindeutige Stellungnahmen, die einen Aspekt, der für den/die jeweilige Kommentator/in besonders wichtig erscheint, hervorheben und verabsolutieren. Das ruft Gegenpositionen auf den Plan, die ebenso eindeutig und einseitig sind. Und da die Angst vor weiteren Terrorakten umgeht, also „Gefahr im Verzug“ ist, entsteht ein diffuser Handlungsdruck, der einer gründlichen Reflexion abträglich ist.

Im Gegensatz dazu versuche ich, die Lage nicht einfach, sondern in ihrer Komplexität darzustellen, möglichst viele Dimensionen einzubeziehen. Vielleicht ist es dafür auch noch zu früh, aber wenigstens ein paar Umrisse möchte ich andeuten.

(1) Keine Angst vor Komplexität

Die Attentate haben viele bestehende Spannungen verschärft, das war ja auch eines ihrer Ziele. Jede radikalisierte Situation führt aber dazu, dass zunächst auf die großen Vereinfacher gehört wird. Sie bieten klare Lösungen an, wo alle nach klaren Lösungen schreien, und werden daher gehört. Die Crux dabei ist aber, dass damit die Probleme verschärft statt gelöst werden. Die wichtigsten Ideologeme, die sich allerdings als Erklärungen gebärden, möchte ich hier anführen:

  • Der Islam ist schuld! Jeder Islam ist politisch! Die haben die Aufklärung nicht mitgemacht! Heute bedroht der Islam, sein Angriff auf die Demokratie und sein Anti-Semitismus ganz Europa!
  • Die Attentate haben mit der Religion überhaupt nichts zu tun! Schließlich sind auch Muslime umgekommen. Das waren einfach Verbrecher, die die Religion missbrauchen, um ihre Taten zu rechtfertigen!
  • Wir sind zu liberal! Stärkere polizeiliche Überwachung, schnelles Abschieben, verschärfte Kontrolle der Grenzen!
  • Der Westen ist selbst schuld! Man kann nicht ungestraft auf die Dauer die Gefühle von Millionen Gläubigen mit den Füßen treten! Letztlich haben sich die Karikaturisten ihr Schicksal selbst zuzuschreiben!
In jeder dieser Behauptungen steckt ein wahrer Kern, und doch sind alle in ihrer Einseitigkeit meiner Meinung nach falsch. Sie erfassen nur einen Teil der Problematik und versperren damit den Blick auf den Gesamtkomplex.

Ein weiteres typisches Merkmal der hysterischen Lage ist die Tatsache, dass Stellvertreterdiskussionen geführt werden, statt die echten Probleme anzugehen. In Österreich diskutiert man zum Beispiel jetzt heftig über das König-Abdullah Zentrum und lenkt sich damit selbst davon ab, die Spannungen im Land genau zu analysieren. Gegen das Zentrum zu sein, ist ein billiger Ausweis für Progressivität, und die politischen Parteien sind offenbar zu einem demagogischen Wettlauf angetreten – würden nicht ausgerechnet der Bundespräsident und der Wiener Erzbischof sie ein bisschen bremsen.

Schließlich dürfen wir auch die TrittbrettfahrerInnen nicht vergessen, die das, was sie immer schon sagen oder fordern wollten, nun aus Opportunitätsgründen mit der gefährdeten Sicherheit begründen. Bestes Beispiel ist die Innenministerin, die nun Panzerfahrzeuge und Hubschrauber „braucht“, um uns vor dem Terror zu schützen.

(2) Gewalt nicht nur verurteilen, sondern auch lesen[1]

„Im Terrorismus geht es maßgeblich um Symbol und Kommunikation. Terrorismus ist ein kommunikativer Akt,“ sagt François Heisbourg völlig zurecht. [2] Also müssen wir diese Gewalt zu lesen versuchen.

Die Botschaft des Attentats

Das Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo wurde von den Tätern ja eindeutig begründet: als Rache für den Propheten, der von den Karikaturisten permanent verunglimpft und beleidigt wurde, und mit ihm die gesamte muslimische Religionsgemeinschaft. Also Respekt vor Religion versus Meinungs- und Pressefreiheit. In allen Demonstrationen und in vielen Karikaturen und Bildern wurde diese so verstandene Konstellation symbolisiert – Bleistifte gegen Kalaschnikows: (Paris, Place de la République, Herkunft ?, Raffael Mantesso)

Wie mehrdeutig allerdings auch dieses scheinbar friedliche Symbol ist, zeigt schon ein Vergleich dieser beiden Versionen (die linke aus der Südddeutschen, die Rechte in News gefunden, Quelle nicht bekannt). Der Bleistift wird entweder zum Licht der Aufklärung hochstilisiert oder als tödliche Waffe imaginiert:

Es geht also nicht einfach, wie wir es gerne hätten, um die friedliche Ausübung des Menschenrechts auf Meinungsfreiheit, die von der terroristischen und muslimischen Gewalt bedroht wird. In den (graphisch dargestellten) Reaktionen der Verteidiger der Meinungsfreiheit schwingt ebenfalls sehr viel Gewalt mit. Damit wird indirekt zugegeben, dass diejenigen, die in den Karikaturen, die den Islam und den Propheten thematisieren, eine Beleidigung und damit symbolische Gewalt erblicken, ebenfalls eine Legitimität haben. Das ergibt bereits ein viel zwiespältigeres Bild als die bloße Verurteilung der Attentate, die allerdings deswegen auf keinen Fall relativiert werden darf.

Die Demonstrationen in Paris, Frankreich und vielen anderen Staaten am 11. 1. 2014 haben ebenfalls eine bestimmte Wahrnehmung des Attentats (der Attentate) zum Ausdruck gebracht. Zur Demonstration in Paris hat die französische Regierung aufgerufen, als Repräsentation der gesamten Nation – hier wurde das Menschenrecht auf Meinungs- und Medienfreiheit, als konkretes Recht, aber auch als Symbol für die Menschenrechte in ihrer Gesamtheit – symbolisch verteidigt. Damit aber wurde der Kern des Franzosentums hochgehalten, das sich auf die Französische Revolution und ihre Menschenrechtserklärung beruft. Und die Anwesenheit zahlreicher Staatsoberhäupter aus Europa, aber auch aus Afrika und anderen Erdteilen, hat die Idee der grande nation wiederbelebt, als der Speerspitze der Menschenrechte, des Fortschritts und der Demokratie.

Das war eine deutliche Antwort auf die Gewalt, so wie sie von der Masse der Franzosen und ihrer Regierung bzw. von der westlichen Welt insgesamt gelesen wurde – Meinungsfreiheit versus (muslimische) Gewalt. „Je suis Charlie.“ > „I am Charlie.“

Es geht nicht nur um Meinungsfreiheit

Nun ist es allerdings so, dass niemand diese Attentate in dieser abstrakten Form und als isolierte Ereignisse wahrgenommen hat. Nicht nur deswegen nicht, weil die Täter beider Attentate mit einander verwandt waren, also ein sinnfälliger Konnex besteht, sondern weil sie auch selbst einen größeren Kontext – Rache für den Propheten! – hergestellt haben. Ein Blick auf Charlie Hebdo zeigt einen Teil dieses größeren Zusammenhangs:

Das Titelblatt der ersten Ausgabe von Charlie Hebdo nach dem Attentat zeigt wieder ein Bild des Propheten, was für viele Gläubige an sich schon ein Affront ist, da weder Gott noch der Prophet Mohammed bildlich dargestellt werden sollen. Doch im Gegensatz zu früheren Karikaturen verunglimpft es ihn – nach westlichen Maßstäben – nicht. Der Prophet weint, er solidarisiert sich mit den Opfern, er distanziert sich damit deutlich von den Attentätern, sie ist nicht in seinem Sinne. Der Satz „Tout est pardonné“ ist hingegen mehrdeutig: Verzeiht der Prophet auch den Attentätern? Oder den Karikaturisten nachträglich ihre Blasphemie?

Dahinter steckt ein Dilemma, das man wohl weniger mit der Begrifflichkeit Kultur und Religion und eher mit der Begrifflichkeit von Politik und Citizenship verstehen kann. Chloe Patton hat deutlich herausgearbeitet, dass dem Karikaturenstreit – und das bereits schon seit dem dänischen Streit von 2005 (Tageszeitung Jyllands-Posten) – sehr unterschiedliche Auffassungen von Citizenship und den Aufgaben des Politischen zugrunde liegen.[3]

The White French majority overwhelmingly experience it as yet another chapter in an ongoing national historical struggle with clericalism, in which key moments of the accepted narrative of nation-building involved wrestling power away from the Catholic Church. In this view, the satirical depictions of Muslims and Islam, however distasteful they may be, are not merely defensible because they are manifestations of free speech, they must be defended because the tempering of religious power through blasphemy is fundamental to liberty of expression in the French experience.”

Ganz anders sieht dies allerdings für die MigrantInnen aus:

“Within an alternative history of French nationhood, however, the images came as yet another assault on Muslims’ right to citizenship in its fullest sense, to be of France rather than merely just in it. The Prophet metonymically represents the community as a whole, just as the schoolgirl’s headscarf has since the late 1980s. The images thus compound a sense of alienation felt by Muslims across Europe, generated by ethnic profiling, police harassment, physical assaults, discrimination in the labour and housing markets, attacks on mosques and general incivility. They reinforce the perception that the legislative limits to free speech are selectively applied, as demonstrated by the swift banning of a fashion advertisement which stylistically referenced the last supper, and the protracted legal case brought against a prominent Muslim anti-racism activist for her alleged racial vilification of whites. And they continue a long history of using the pursuit of republican values to justify the humiliation of colonial subjects and their contemporary descendants, from brutal public ‘de-veiling’ ceremonies in colonial Algeria, to the cruel pettiness of today’s public school officials refusing to provide alternatives to pork in children’s school dinners.”[4]

Ohne diese Seite der Problematik zu beachten, hat man Wesentliches nicht verstanden: „I am not Charlie“. [5] Darum sind auch gutgemeinte Karikaturen, die die einmütigen Widerstand aller Religionen gegen Gewalt mit dem Slogan „Je suis Charlie“ führen möchten, nicht sehr überzeugend. Da ist der Slogan „Je suis Ahmed“ (nach dem von den Terroristen getöteten Polizisten) viel weitreichender.

Erste Schlussfolgerung: Solange die Meinungsfreiheit, die immer auch für bestimmte Menschen oder Gruppen verletzend sein kann, nicht akzeptiert, sondern mit Gewalt beantwortet wird, kann es keinen sozialen Frieden geben. Aber solange unter Berufung auf das Recht auf Meinungsfreiheit, eine Gruppe von Menschen (vorsätzlich) beleidigt und verletzt wird, kann es ebenfalls keinen sozialen Frieden geben. Die Karikaturisten von Charlie Hebdo, die in ihrer Imagination offenbar die Französische Revolution fortsetzen, und den Kampf gegen die (damals) sehr engstirnige und autoritäre (christliche) Religion führen bzw. in globalisiert auf die anderen Weltreligion ausdehnen, sehen nicht, dass sie damit diejenigen treffen, die innerhalb der französischen (und europäischen) Gesellschaft als Immigranten zu den Schwächsten der Gesellschaft gehören. Sie verfehlen damit ihr selbstgesetztes Ziel, zu einer größeren Autonomie der StaatsbürgerInnen gegenüber den Trägern der Macht beizutragen.

Unterschiedliche Kontexte und „Rahmungen“

Damit ist bereits gesagt, dass die Attentate sehr unterschiedlich wahrgenommen wurden und werden, allerdings nicht nur nach dem einfachen Schema europäische Christen versus arabische Muslime. Auch bei uns wurden die folgenden Kontexte in unterschiedlicher Weise „mitgedacht“:

Migrationssituation in den europäischen Metropolen: Sie wird je nach politischem Standpunkt als die eigentliche Bedrohung wahrgenommen oder als sozialpsychologische Begründung (und beinahe Rechtfertigung) des Terrors verstanden. Die nationalen und konservativen Kräfte betrachten den Terror nur als die Spitze der Weigerung der nach Europa migrierten Muslime gegen eine Integration in demokratische Staaten; die Befürchtungen reichen bis hin zur angeblich drohenden Gefahr der Machtübernahme dieser Muslime in Europa (Sarrazins Deutschland schafft sich ab; PEGIDA oder Houellebecqs Soumission, die ja in der Charlie Hebdo Nummer am Tag des Attentats thematisiert wurde). Dem ist zurecht entgegengehalten worden, dass ein Großteil der Muslime sich sehr deutlich und aus Überzeugung von den Attentätern distanziert und man Verbrecher nicht nach ihrer Religionszugehörigkeit kategorisieren darf.

Die Linken hingegen betrachten die Marginalisierung und Ausgrenzung der migrantischen Jugend durch den neoliberal verschärften Kapitalismus der europäischen Metropolen als die eigentliche Quelle der Gewalt. Diese Position wiederum ist mit dem Argument kritisiert worden, dass gerade in Frankreich die banlieues großteils sozial und nicht ethnisch definiert sind und dass außerdem unterprivilegiert zu sein kein Grund sein kann, Karikaturisten zu killen.

„Kampf der Kulturen“ : Das Attentat wurde als weitere Erscheinungsform des angeblichen Kampfs der Kulturen verstanden und in eine Linie mit dem September 11 in New York gestellt. Die nebenstehende Karikatur bringt dies deutlich zum Ausdruck. Der internationale Kontext ist mehrfach präsent: Die Attentate werden mit dem Vormarsch des Islamischen Staats (IS) im Mittleren Osten assoziiert, und IS hat tatsächlich die Tat für sich reklamiert, ebenso wie sein Konkurrent Al-Qaida. Die Attentäter hatten sich explizit zu Al- Qaida im Jemen bekannt. Darüber hinaus werden die beiden Attentate insgesamt als Ausdruck eines zunehmenden Antisemitismus in Europa und in der arabischen Welt gesehen. Die Vorstellung des Kampfs der Kulturen erhielt eine weitere Plausibilität, auch wenn bereits ein Blick auf den Anschlag auf Charlie Hebdo zeigt, dass Muslime ebenso Opfer geworden sind.

Diese Ideologie bringt die (europäischen) Muslime in eine Zwickmühle. Sie werden vom liberalen Westen ständig aufgefordert, sich vom Terrorismus zu distanzieren und stehen damit unter permanentem Generalverdacht. Zugleich werden sie dafür von anderen islamischen Vertretern als Verräter an der eigenen Religion verdächtigt. Dies hat ein sudanesischer Karikaturist sehr gut auf den Punkt gebracht. Er hat damit zugleich das Zusammenspiel zwischen westlichen Nationalisten und Islamisten aufgedeckt.

Cartoon by Sudanese artist Khalid Albaih, from Aljazeera.com - See more at: http://mondoweiss.net/

Zweite Schlussfolgerung: Die terroristische Gewalt hat sehr wohl etwas mit dem Islam zu tun, und zugleich kann man den Islam nicht für diese Gewalt verantwortlich machen. Die These, dass der Islam keine Rolle spielt und es sich einfach um Verbrecher handle, hat zwar einen wahren Kern und richtet sich zurecht gegen eine pauschale Verurteilung einer Religion bzw. aller Muslime, aber sie ist einseitig, sobald sie die religiöse Dimension leugnet. Der Islam spielt eine mehrfache Rolle – als die Religion derer, die sich von Charlie Hebdo verletzt fühlen, die zugleich diejenigen sind, die in Europa im Allgemeinen die Unterprivilegierten sind, als auch derer, die im arabischen Raum, aber auch außerhalb, nach dem Ende einer marxistischen Phase in den 1960er und 1970er Jahren sich angewöhnt haben, soziale Konflikte kulturell-religiös zu interpretieren und daher den Konflikt in einem größeren Zusammenhang der Armen gegen die Reichen der Welt interpretieren.

Und offensichtlich wird der Islam auch zu politischen Zwecken funktionalisiert, nicht nur von den Attentätern selbst, sondern von politischen Gruppierungen, egal ob sie sich in Opposition befinden oder an der Macht sind, wie etwa die von Tschetscheniens Präsidenten, Ramsan Kadyrow, organisierte Großkundgebung vom 19. 1. 2015, einem Diktator, der aus durchsichtigen Gründen verletzte Gefühle konstatiert und damit oft erst hervorruft, um seine Macht zu stärken.

(3) Globale Dimensionen

Dies führt schon zu einem weiteren Punkt – der tatsächlich globalen Dimension der Pariser Attentate. Beobachter außerhalb Europas relativieren sie teilweise, indem sie sie an anderen Gewaltakten messen: Uri Avnery etwa bezeichnet sie kühl „quite ordinary ones by Israeli standards“.[6]Das übersieht natürlich den symbolischen Gehalt der Anschläge. Dennoch ist es wichtig, uns von unserer eurozentristischen Sichtweise zu befreien. Im globalen Kontext spielen die Anschläge in Europa nur eine untergeordnete Rolle. Ein französischer Beobachter, François Heisbourg, sagt dazu, mit speziellem Blick auf den IS:

„Was wir sehen, ist ein Konflikt innerhalb des Islam, die Attentate im Westen sind eher Ausreißer. Das Hauptkampfgebiet liegt in den muslimischen Ländern selbst, im Irak, in Syrien, Pakistan, Afghanistan, da gibt es auch am meisten Opfer. Die Muslime müssen das selber lösen. Die Situation ist zu komplex, als dass wir sie mit unserem Feindbild vom mittelalterlichen Islam erfassen könnten. Der IS lässt die Stammesgesellschaft hinter sich, er ist international und integrativ. Er ist eine hochmoderne Organisation, hinter der teilweise brillante Hochschulabgänger stecken. Der IS ist auch nicht einfach eine Terrororganisation, sondern so etwas wie ein Protostaat. Man muss ihn anders bekämpfen.“[7]

Wichtig ist sein Hinweis darauf, dass das Bild vom Wiederaufleben des Mittelalters, das ebenfalls gerne bemüht wird, uns den Blick auf die Modernität der Auseinandersetzungen, in die Europa heute sehr wohl ebenfalls verwickelt ist, verstellt.

Naheliegend, aber irreführend: Wahrnehmung des Konflikts als Neuauflage der Konflikte von „gestern“.

Tatsächlich erleben wir – wie etwa am 16-/17. 1. 2015 in Niger – ähnlich wie im Zuge des dänischen Karikaturenstreits 2005 weltweite Proteste „gegen die Karikaturen“ und „zur Verteidigung der Ehre des Propheten“, die wir wohl besser als teils irregeleitete, teils verdreht ausgedrückte soziale Kämpfe interpretieren sollten. Sie zur Kenntnis zu nehmen wäre allemal besser, als uns im Hochgefühl zu sonnen, dass wir wieder einmal bewiesen haben, dass wir der Hort der Menschenrechte und der Demokratie sind.

Edgar Morin hat daran erinnert, dass mit dem Attentat die Kriege des Nahen Ostens in Europa auftauchen – Kriege, die sowohl Bürgerkriege wie auch internationale Kriege sind, an denen auch Frankreich Anteil hat. Daher müsse es auch darum gehen, diese Krisenherde zu befrieden – was nur möglich sei, wenn dafür neue kreative Lösungen, unter Schutzgarantien der UNO, gefunden werden.[8] Dies ist sicher im Augenblick unmöglich, aber eine langfristige Orientierung auf diese Lösungen ist wohl das einzige Mittel, die Ausbreitung des Kalifats des IS zu verhindern als auch zu ermöglichen, dass der Brandherd Naher Osten ständig auf Europa überzugreifen droht.

Dritte Schlussfolgerung: Die internationale Dimension der Attentate steht außer Frage, aber ihre Interpretation ist umstritten. Wir tun gut daran, die Kritik am Eurozentrismus und an der ökonomisch- politischen Dominanz des Westens, die in vielen Reaktionen vor allem außerhalb Europas zum Ausdruck kommt, nicht zu überhören. Umgekehrt darf diese Kritik nicht dazu führen, die Verurteilung der politischen Gewalt und des Terrors zu relativieren und abzuschwächen.

(4) Entschärfung der Widersprüche statt absoluter Schutz vor Terrorismus

Dieser Teil ist nicht ausgearbeitet, hier nur einige wichtige Stichworte:

  • Es ist eine Illusion, sich vor Terror wirklich schützen zu können, aber das heißt nicht, dass es nicht sinnvoll ist, alle Maßnahmen zu ergreifen, die es TerroristInnen schwerer machen.
  • Die innenpolitische Dimension: Zusammenleben von MigrantInnen und Einheimischen unter 
dem Gesichtspunkt von Global Citizenship neu gestalten. Das ist eine umfassende Aufgabe, die sich an beide Bevölkerungsgruppen wenden muss.
  • Die außenpolitischen Dimension: Europa ist gefordert, eine aktive Außenpolitik zu entwickeln, die dazu beiträgt, Krisenherde und Kriege in der Nachbarschaft zu entschärfen
  • Wir brauchen eine politische Bildung, die diesen Namen verdient, bereits
  • in den Schulen, aber nicht nur dort.
  • Wir brauchen eine differenziertere Medien- und Diskussionskultur. 

(5) BildungspolitischeMaßnahmen


 Als eine Reaktion auf die Pariser Anschläge hat Außenminister Kurz ein verpflichtendes Schulfach Politische Bildung gefordert. Die Unterrichtsministerin Heinisch-Hosek hat eingewandt, dass dafür derzeit nicht genug Geld zur Verfügung steht. Beide haben Recht. 


Es wäre ein großer Fehler, jetzt bloß Anti-Terror-Schulungsmaßnahmen oder sonst eine anlassbezogene Pädagogik zu fördern. Solche Maßnahmen haben auch ihre Berechtigung, aber sie können nur wirksam werden, wenn sie auf einer breiten Basis systematischer Politischer Bildung aufbauen können. Gerade die oben dargelegte Komplexität der Materie zeigt, dass hier mit Schnellschüssen nichts zu holen ist. Aber dieses Fundament einer ausgebauten Politischen Bildung ist derzeit in Österreich nicht gegeben – trotz zahlreicher sehr qualitätsvoller Initiativen. Hier die wichtigsten Argumente, die aus meiner Sicht unbedingt für ein eigenes Fach sprechen.

Warum ein eigenes Unterrichtsfach unabdingbar ist


Ein eigenes Unterrichtsfach Politische Bildung ab der Sekundarstufe für alle
  • würde den ohnehin in den letzten Jahren auf problematische Weise gekürzten Geschichtsunterricht entlasten.
  • Vor allem aber hätte Politische Bildung ein organisierendes Zentrum, das in der Lage wäre, je nach aktuellem Anlass Akzente zu setzen, wie etwa Umgang mit religiös begründeter Gewalt oder mit Terrorismus, und Aspekte wie soziales Lernen, Friedenserziehung, gewaltfreie Kommunikation, interkulturelles Lernen, Global Citizenship Education zu bearbeiten.
  • Schließlich ist ein eigenes Fach Politische Bildung auch ein Trägerfach, von dem Impulse ausgehen, wie das Unterrichtsprinzip in allen anderen Fächern umgesetzt werden kann. 


Am dringendsten ist die Ausbildung der Lehrkräfte


Das sind die unmittelbaren Vorteile. Doch wir müssen die Thematik systemisch betrachten. Ohne ein eigenes Unterrichtsfach wird sich auch bei der Ausbildung der Lehrkräfte nichts tun, d.h., es werden sich nur die Interessiertesten qualifizieren, aber es wird keine flächendeckende Politische Bildung für alle Lehrkräfte geben. Der Mangel an einer entsprechenden Ausbildung der Lehrkräfte selbst ist in meinen Augen derzeit das größte Problem der Politischen Bildung in Österreich. Ich würde für eine systematische Politische Bildung für alle Lehrkräfte auch dann plädieren, wenn man aus finanziellen Gründen derzeit nicht in der Lage ist, ein Pflichtfach einzuführen.


 Leider hat man versäumt zu verlangen, dass im Zuge der neuen LehrerInnenbildung alle Lehrkräfte, die ja das UnterrichtsprinzipPolitische Bildung umzusetzen haben, dafür auch verpflichtend qualifiziert werden. Vielleicht ist da – unter dem Eindruck der Pariser Ereignisse – noch ein Umschwenken in letzter Minute möglich?


Systematische begleitende und Grundlagen-Forschung 


Ein weiteres Argument: Erst wenn ein Pflichtfach gegeben ist, wird es eine systematische LehrerInnenbildung geben, und mit ihre eine forschungsgeleitete Lehre. Bislang gibt es auch sehr wenig Forschung zur Politischen Bildung, von einigen löblichen Ausnahmen abgesehen. Sobald Politische Bildung zum Pflichtfach wird, sind eigene Institute an den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen eine unabweisbare Notwendigkeit. Natürlich ist das nicht billig, aber es ist hoch an der Zeit, diesen bislang stark vernachlässigten Bereich endlich zu entwickeln.

Die Raucherregelung als Warnung

Im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten hat sich Österreich lange Zeit nicht entschließen können, eine konsequente Nichtraucherregelung im öffentlichen Bereich zu erlassen. Das hat viel Unmut auf allen Seiten hervorgerufen, und überdies die Restaurationsbetriebe viel Geld gekostet. Nun sieht es so aus, als hätte man endlich begriffen, dass an einer klaren Regelung nach europäischem Muster kein Weg mehr vorbeiführt.

Es steht zu hoffen, dass der Politischen Bildung ein solches Schicksal des zögerlichen, schrittweisen Handelns, ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, erspart bleibt. Es wäre wirklich sehr unklug, den jetzigen Anlassfall nicht zu nutzen, um eine „große Lösung“ – und das heißt eben verpflichtende Politische Bildung für die gesamte Sekundarstufe und in der LehrerInnenbildung – endlich durchzubringen.

Univ.-Prof. Dr. Werner Wintersteiner ist Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedenspädagogik an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

[1] Auffällig ist natürlich, dass es keinerlei Karikatur (vielleicht im neuen Charlie Hebdo?) oder graphische Darstellung des zweiten Attentats, im jüdischen Supermarkt, gibt. Das liegt nicht daran, dass das Verbrechen weniger verdammenswert wäre oder dass es Juden getroffen hat (wie manche bereits mutmaßen), sondern dass die politische Botschaft des Attentats eine andere war – keine die Frankreich als Nation bzw. die Menschenrechte (in den westlichen Ländern) infrage gestellt hat. zurück zum Text

[2]www.nzz.ch/ zurück zum Text

[3] http://mondoweiss.net/ zurück zum Text

[4]Ebda. zurück zum Text

[5] Zahlreiche Statements, z.B.: http://mondoweiss.net/ zurück zum Text

[6] Uri Avnery: Waving in the first Row, January 17, 2015. zurück zum Text

[7] www.nzz.ch/ zurück zum Text

[8] www.lemonde.fr/ zurück zum Text

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