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Andreas Exner

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2013-07-27

Befreiungen ohne Kämpfe?

Mythen der Kapitalismuskritik, Teil 2

[Nachlese des ersten Teils dieser Serie hier]

Prolog:

„Sämtliche Arbeiter drum herum starrten mich an, und ich sagte zu ihnen: Ihr Scheißtypen, ihr Arschlöcher, ihr seid doch Sklaven. Diese Aufpasser hier, diese Faschisten, muss man doch windelweich prügeln. Was ist denn das für ein Scheiß, diese Insekten da, in die Fresse rotzen sollte man sie, und dann machen wir, was uns passt, wir sind doch nicht beim Militär hier. Draußen dürfen wir zahlen, zahlen, wenn wir an die Bar gehen, in der Straßenbahn, zahlen, für die Pension zahlen, alles müssen wir bezahlen. Und dann wollen sie uns hier drin auch noch rumkommandieren. Für drei Groschen, von denen wir einen Dreck haben, und für eine Arbeit, an der man krepiert und weiter nichts. Sind wir denn verrückt geworden? Das ist doch ein Hundeleben, was wir führen müssen, da sind sie im Gefängnis ja noch freier als wir. An diese Scheißautos gekettet, so dass wir uns nicht bewegen können, und ums herum Gefängnisaufseher. Fehlt nur, dass sie uns auspeitschen.“

(Aus: Wir wollen alles. Roman der Fiatkämpfe, Nanni Balestrini)

Traditionell und an zentraler Stelle bezogen sich linke Bewegungen, Gewerkschaften und Parteien auf den sozialen Kampf als Begriff und Praxis. Die Rolle der gesellschaftlichen Umstände entlang der Wege zu mehr sozialer Freiheit wurde unterschiedlich eingeschätzt. Die einen betonten die politischen und ökonomischen Konjunkturen oder „Eigengesetzlichkeiten“ des Kapitalismus, die anderen hoben das Moment der selbstbestimmten Aktion hervor. Doch bestand weitgehende Einigkeit in der Frage, ob sich eine Transformation auf friedlich-schiedliche Art oder aber durch Formen sozialer Auseinandersetzung zwischen widerstreitenden Gruppen ergeben würde. Denn dass der soziale Kampf eine große Rolle für die Transformation spielt, galt meist als selbstverständlich.

Im klassischen Sinn wurde der soziale Kampf auf die Ebene gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen bezogen, die sich um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne drehten, oder aber auf revolutionäre Bestrebungen kommunistischer Parteien, die den Staat unter ihre Kontrolle bringen wollten. Beide Ebenen des sozialen Kampfes verloren im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre an Bedeutung, ja, gerieten sogar in die offene Kritik: die Gewerkschaften aufgrund ihrer Nähe zum Staat und ihrer manchmal stillen, manchmal offenen Kooperation mit dem Management; die revolutionären Parteien, weil dort, wo sie die Staatsmacht tatsächlich erobert hatten, die erhofften Befreiungen in weiten Teilen auf der Strecke geblieben waren.

Innerhalb der in dieser Periode wachsenden, verzweigten Strömungen der neuen, auf Befreiungen hin orientierten Bewegungen, die Autonomie praktizierten und sich gegen die Institutionen des Staates und der Zivilgesellschaft stellten, entwickelten sich zwei Stränge. Der eine versuchte das Paradigma des sozialen Kampfes erneut mit der praktischen Entwicklung anderer Lebensweisen zu verbinden, wie dies etwa in Kommunen und einer allgemeinen Gegenkultur zum Ausdruck kam. Der andere begann sich vom sozialen Kampf zu verabschieden, entweder weil er als Teil des Systems interpretiert wurde, das eigentlich überwunden werden sollte, oder weil man sich in dieses System als reformistische Kraft, die es von innen verändern sollte, wiedereingliedern wollte.

Die reformistischen Kräfte kamen letztlich in Gestalt der grünen Parteien und NGOs, die in etwa zeitgleich aus dem Boden sprossen, bei jener Art von sozialem Konflikt an, den das System integrieren konnte. Der Wettstreit um die Gunst des Wahlvolks etwa inszeniert Konflikte, die letztlich systemkonform im Regierungshandeln bearbeitet werden können oder greift selektiv die systemkonformen Komponenten sozialer Konflikte auf, und stärkt diese. Dabei dreht es sich niemals um die Frage, ob man Kaufen und Verkaufen oder das Regiertwerden grundsätzlich ablehnt oder nicht. Insbesondere im Fall von Parteien ist der Konflikt im Kern meist ein Konkurrenzkonflikt um die Partizipation an der Staatsmacht, der Klassenkonflikte in der Regel bloß inszeniert, wenn überhaupt.

Kampflose Transformation?

Auf Parteien und NGOs soll hier nicht weiter eingegangen werden. Wichtiger für unsere Fragestellung ist die zuvor genannte Position, wonach der Kampf selbst ein integraler Bestandteil des Kapitalismus sei und aus diesem Grund zumindest kritisch zu betrachten ist oder gar überhaupt der Kritik verfällt. Diese Position findet sich in zwei recht verschiedenen sozialen Milieus.

Das erste Milieu könnte man als das der schlechten Esoterik bezeichnen, einer Vermarktung von Bedürfnissen, die der Kapitalismus aufgrund der Isolation und Konflikte entstehen lässt, die er in wachsendem Maße produziert. Die verständliche Suche nach Harmonie und Geborgenheit wird hierbei in eine Ware transformiert, zum Beispiel in den marktförmigen Konsum von Selbstmanagementliteratur, Workshops und Religionen. Dabei werden die Entwicklung von Friedfertigkeit und die Notwendigkeit, die eigenen Aggressionen zu „bewältigen“, stark betont. Häufig führt das, unter Verhältnissen, die so friedfertig nicht sind und daher Aggression erzeugen müssen, zu eher heuchlerischen Haltungen, die Herrschaftsverhältnisse stabilisieren.

Das zweite Milieu, das kritische Positionen zu sozialen Kämpfen entwickelt hat, möchte ich als das der kampflosen Transformation beschreiben. Dieses Milieu könnte man über bestimmte Texte näher umreißen, doch taucht die damit verbundene Position in Diskussionszusammenhängen sozialer Bewegungen auch unabhängig von solchen Referenzen auf. Sie soll hier daher ohne diese konkreten Bezugspunkte diskutiert werden. An dieser Stelle interessiert die Position weniger als eine theoretisch ausformulierte Sichtweise, sondern als eine der grundsätzlich möglichen Perspektiven auf Gesellschaft und sozialen Wandel.

Das Hauptargument der kampflosen Transformation besteht darin, auf die jetzige Gesellschaft zu verweisen, die von Kampf bestimmt sei und zugunsten eines friedlichen Zusammenlebens abzulösen ist. Weil der Weg das Ziel bestimme, könne man eine solche Form des Zusammenlebens nicht mit den in der bisherigen Gesellschaft vorfindlichen Mitteln der sozialen Auseinandersetzung realisieren.

Das Ziel einer friedfertigen, nicht von strukturellen Interessensgegensätzen zerrissenen Gesellschaft hat jede emanzipatorisch orientierte Position vor Augen. Eine solche Gesellschaft kann sicher nicht konfliktfrei sein, aber sie hätte im optimalen Fall keine strukturell vorgegebenen Konflikte mehr auszutragen, wie das zwischen Kapital und Arbeit oder Gesellschaft und Staat der Fall ist; und sie würde ihre Entscheidungen nicht mehr entlang der damit verbundenen sozialen Formen wie den abstrakten ökonomischen Wert und davon abgeleitete „Sachzwänge“ wie Wachstum ausrichten.

Die Problematik der kampflosen Transformation liegt daher nicht im Ziel begründet, sondern in der Vorstellung der Funktionsweise der gegenwärtigen Gesellschaft einerseits, und andererseits in den Auswegen, die man auf dieser Basis zu konzipieren trachtet.

Was Klassenkampf ist

Zuerst einmal ist zu fragen, was überhaupt unter Kampf verstanden wird. In der Linken meint man mit sozialem Kampf traditionell vor allem den Klassenkampf zwischen Kapitalisten und Lohnabhängigen. Der Klassenkampf gilt als die entscheidende soziale Auseinandersetzung in der Transformationsbewegung. Eine Kritik dieser Vorstellung besteht darin, den Klassenkampf als einen rein innerkapitalistischen Kampf zwischen zwei Interessensgruppen zu interpretieren, die erst das kapitalistische System konstitutiere. Keine der beiden Gruppen könne, solange Menschen nach Maßgabe der sie konstituierenden Interessen agieren, einen Beitrag zur Transformation leisten.

Ähnlich wie zwei Kapitalisten einen Preiskampf austragen, kämpfen in dieser Sicht die beiden Klassen der Kapitalisten und der Lohnabhängigen gegeneinander. Die Lohnabhängigen wollten ihre Ware Arbeitskraft demnach möglichst teuer verkaufen, der Kapitalist sie möglichst billig kaufen. Da es keine Möglichkeit gibt, den Preis der Ware Arbeitskraft objektiv festzustellen, regelt dies die Gewalt, so bereits Marx. Und tatsächlich bestimmt den Preis der Ware Arbeitskraft, also das Einkommen der Lohnabhängigen, in erheblichem Maß der Klassenkampf.

Kann, ja muss man den Klassenkampf aber wirklich als systemkonform verstehen und verwerfen?

Eher scheint sich eine solche Kritik am Klassenkampf, die ihn mit der Konkurrenz gleichsetzt, an einem bestimmten Verständnis von Klassenkampf zu orientieren, das vor allem die staatlich anerkannten organisierten Gewerkschaften und die revolutionären Parteien prägten. Hierbei liegt, neben der Verwechslung von Konkurrenz und sozialem Kampf, zweierlei im Argen: erstens wird Klassenkampf ökonomistisch enggeführt (wie auch der Begriff der Klasse), zweitens wird er auf den Antagonismus zwischen Lohnabhängigen und Kapitalisten reduziert.

Tatsächlich bilden jedoch mehrere Klassen die soziale Struktur einer Gesellschaft im kapitalistischen Weltsystem, wenn man die Klassenlage an der Stellung einer sozialen Gruppe im Verhältnis zu den Produktionsmitteln festmacht. Ein offensichtlicher Fall sind, neben Kapitalisten und Lohnabhängigen, die nicht kapitalistisch produzierenden Kleinbäuerinnen und -bauern, die weltweit betrachtet den überwiegenden Teil der Nahrung erzeugen und zahlenmäßig äußerst bedeutend sind.

Die ökonomistische Auffassung des Klassenkampfs zwischen Kapitalisten und Lohnabhängigen beruht auf der Bestimmung der menschlichen Arbeitskraft als einer Ware. Diese ist sehr zu hinterfragen. Das Motiv von Marx, eine so genannte Ware Arbeitskraft zu konzipieren, bestand vermutlich darin, die Annahmen der bürgerlichen Ökonomie einmal als Gedankenexperiment für bare Münze zu nehmen und zu zeigen, dass selbst unter diesen Annahmen nicht die Schlüsse bürgerlicher Ökonomen gezogen werden können, wonach der Kapitalismus ohne Ausbeutung, krisenfrei und letztlich zum Wohle aller funktionieren müsste.

Wenn man jedoch dieses spezifische erkenntnisleitende Interesse Außen vor lässt und daher die Annahmen der bürgerlichen Ökonomie selbst hinterfragt, kann man die Rede von der Ware Arbeitskraft schwerlich ernst nehmen, sondern muss sie vielmehr als ideologischen Begriff kritisieren. Menschliche Arbeitskraft ist, wie Karl Polanyi betonte, lediglich eine fiktive Ware, tatsächlich aber ein nicht abtrennbarer Teil lebendiger Wesen, die als Menschen gezeugt, geboren und aufgezogen und nicht als Waren hergestellt werden; die als Menschen den Produktionsprozess vollziehen und sich nicht als Waren „gegen Kapital austauschen“, und sich auch als Menschen gegen Fremdbestimmung, eine Einschränkung ihres Freiraums, sträuben.

Das primäre Motiv der Lohnarbeit ist nicht eine systemkonforme Unterordnung und das systemimmanente Reüssieren in der kapitalistischen Konkurrenzdynamik, sondern ganz einfach der Zugang zu den lebensnotwendigen Gütern und Diensten und der ebenfalls notwendigen sozialen Anerkennung, die im Kapitalismus an Geldeinkommen gebunden ist. Es gibt wohl eine „Leidenschaft“ sich unterzuordnen, und zwar im Sinn von Erich Fromm als eine tief verwurzelte, einen bestimmten Sozialcharakter charakterisierende Strebung. Solche Leidenschaften bilden die historisch und sozial spezifischen Reaktionen von Subjekten auf den Widerspruch zwischen der psychischen Überlebensnotwendigkeit einer Verbindung des Individuums mit der (sozialen) Welt auf der einen Seite und den objektiven, strukturellen Erfordernissen der Produktionsweise auf der anderen.

Die Leidenschaft der Unterordnung charakterisiert wahrscheinlich weite Teile der Lohnabhängigen, ist jedoch ein sekundäres Produkt einer langen kollektiven Unterjochung, die oftmals blutig erfolgte, und die sich, zumeist in viel milderen Formen, in jeder individuellen Biographie wiederholt.

Der Klassenkampf der Lohnabhängigen gegen Kapitalistenklasse sowie Unternehmerschaft, einer dritten Klasse, ist daher primär auch nicht als Kampf um bessere Bedingungen der Unterjochung zu begreifen. Die beste Unterjochung ist auch subjektiv betrachtet für die meisten Lohnabhängigen eine, die gar nicht ist, solange man nicht eine schwerwiegende sadomasochistische Psychopathologie im klinischen Sinn diagnostizieren kann, was auch bei den am meisten angepassten, am stärksten autoritären Teilen der Lohnabhängigen wohl nur selten der Fall ist.

Der Klassenkampf zwischen Lohnabhängigen auf der einen Seite – wobei hier einmal die bedeutende Differenzierung der Einkommen innerhalb der Lohnabhängigen außer Acht gelassen werden soll, deren besser bezahlte Schichten schon dem Kleinbürgertum zuzurechnen sind – und den Kapitalisten und Unternehmern auf der anderen dreht sich also vielmehr um bessere Lebensbedingungen, und diese sind nur durch eine Zurückdrängung des Zwangs zur Lohnarbeit zu erreichen. Dies kann auf drei Wegen erreicht werden, wie ähnlich Harry Cleaver ausführt[1]. Zuerst einmal durch eine Verkürzung der Arbeitszeit bzw. eine Produktionsweise, die Lohnarbeit überhaupt unnötig macht oder die ausgeübten Tätigkeiten der Eigenschaften der Lohnarbeit entledigt, zweitens durch eine Erhöhung des Lohnes und drittens durch eine Verbilligung der Waren, die zum Leben erforderlich sind. Welche dieser Formen des Klassenkampfes in einer Periode, Schicht und Region überwiegt, ergibt sich aus vielen verschiedenen Faktoren. Aus emanzipatorischer Sicht ist die erste Form von großer Bedeutung, weil sie am unmittelbarsten auf eine andere, nicht-kapitalistische Produktionsweise zielt. Darunter fallen eher selten die Bildung von Kooperativen, häufig jedoch sind der aktive Widerstand gegen die Betriebsdisziplin, von Krankfeiern, Sabotage bis zu den alltäglichen Betrügereien zum Schaden des Managements und insgeheime Verstöße gegen den Arbeitsvertrag. Aber auch die zweite und dritte Form sind relevant, indem sie Druck auf die Profitrate ausüben (dem das Kapital mit wechselndem, von den sozialen Kräfteverhältnissen abhängigen Erfolg kontert).

Diese Formen des Klassenkampfes sind nicht auf ökonomische Forderungen in Formen der kapitalistischen Produktionsweise, namentlich nach mehr Lohn, engzuführen, weil ihr eigentliches Motiv ein ganz anderes ist. Viele historische und kontemporäre Formen des Klassenkampfes haben daher solche Forderungen entweder nicht erhoben oder nicht ins alleinige Zentrum gerückt. Der Klassenkampf von unten, also zum Beispiel seitens der Lohnabhängigen (der kleinbürgerliche Teil hat allerdings eine eigene Charakteristik), drückt nicht die systemkonformen, und in diesem Sinne präformierten Interessen dieser Klasse aus, sondern speist sich aus dem Motiv der Autonomie. Systemkonforme Interessen verfolgen lediglich die Kapitalistenklasse und die Unternehmer. In der Tat könnte der Kapitalismus in heutiger Form auf längere Sicht gar nicht ohne die mit dem System nicht konformen Strebungen existieren, zum Beispiel weil er die Arbeitskraft systematisch zersetzen würde, während er zugleich in hohem Maße die Möglichkeiten nicht-kapitalistischer Produktion einschränkt. Der systemkonforme Arbeiter ist für das einzelne Kapital schließlich jener, der gar keinen Lohn verlangt. Auch gesamtgesellschaftlich bedeutet weniger Lohn mehr Profit. „Irgendwie“ freilich müssen sich die Lohnabhängigen selbst erhalten können, daher benötigen sie einen gewissen Lohn, dessen absolute Untergrenze kaum exakt bestimmt werden könnte; genauso müssen Sklaven „irgendwie“ ernährt werden. Daraus kann man aber schwerlich folgern, dass der Bedarf an etwa Nahrungsmitteln eines kapitalistisch ausgebeuteten Sklaven systemkonform sei[2] und er mit seinem Leben ja doch nur das System seiner Ausbeutung aufrecht erhalte.

Manchmal wird behauptet, die Endnachfrage sei funktional für das Kapital, weil sich daraus angeblich sein Profit speisen würde – die Kapitalisten seien nur zu dumm, das zu erkennen. Doch nicht die Endnachfrage der Lohnabhängigen, sondern die Erwartung eines Profits initiiert die Produktion im Kapitalismus; und der Profit steht in umgekehrtem Verhältnis zur Endnachfrage. Je mehr vom gesellschaftlichen Gesamtprodukt die Lohnabhängigen erhalten, desto geringer der Teil, der sich als monetärer Überschuss im Profit ausdrückt. Deshalb würde theoretisch auch schon allein die Nachfrage nach Produktionsmitteln und die Luxusnachfrage der Kapitalisten die Akkumulation von Kapital ermöglichen, neben der Nachfrage nach kapitalistisch produzierten Waren seitens subsistent Produzierender und der oben genannten absoluten Mindestkonsumtion der Lohnabhängigen. Der frühindustrielle Kapitalismus als Weltsystem entsprach diesem Modell weitgehend.

Ob ein solcher nur im Gedankenexperiment darstellbarer „Minimallohn-Kapitalismus“ nicht auch schon sehr kurzfristig hochgradig krisengefährdet wäre (und allein aus diesem Grunde unrealistisch), wäre übrigens noch kein gundsätzlicher Einwand gegen diese Überlegung. Denn krisenhaft ist der Kapitalismus so oder so. Auch der Umstand, dass ein solches fiktives Kapitalismusmodell wohl keine starke Akkumulation von Kapital begründen könnte, ist kein Einwand. Schließlich hat sich der Kapitalismus über durchaus lange Zeit als eine global betrachtet minoritäre Veranstaltung in einem weltweiten Meer nicht-kapitalistischer Produktionsweisen entwickelt. Die bloß auf Handel beruhende, lange Jahrhunderte existierende Vorform des Kapitalismus als einer Produktionsweise, wie sie erst seit etwa 150 Jahren besteht, liegt ja bekanntlich überhaupt nur in der Abschöpfung und Versilberung nicht-kapitalistisch produzierter Güter, vor allem zur Deckung von Luxusnachfrage.

Das überspitzte Modell eines „Minimallohn-Kapitalismus“ illustriert, dass der Kapitalismus immer schon auf seinem eigenen Gegenteil, einer nicht-kapitalistischen Produktionsweise beruht, den sozialen Beziehungen im Haushalt im Besonderen und sozialen Netzwerken ohne Marktcharakter im Allgemeinen, aber auch von Subsistenzproduktion im globalen Süden. Der fordistische und post-fordistische Kapitalismus konnte sich zudem nur auf der Basis wirkmächtiger nicht-kapitalistischer Strebungen entwickeln, zuerst in klassisch gewerkschaftlicher Form, dann in den vielfältigen Formen der Integration von Forderungen und Bedürfnissen der Bewegungen nach 1968.

Die Fiktion des „Minimallohn-Kapitalismus“ zeigt damit zugleich, dass die nicht mit dem System konformen Strebungen, Produktionsweisen und Beziehungen eben gerade nicht Teil dieses Systems sind. Etwas anderes anzunehmen wäre ein logischer Fehlschluss, der auf der nicht begründbaren, sondern nur als Dogma zu setzenden Annahme beruht, dass der Kapitalismus ein geschlossenes System ohne Außen darstellt, und dass folglich alles, was existiert, in irgendeiner Weise Teil des Kapitalismus sein müsse und für ihn funktional. Aus dem Umstand, dass sich das Kapital mit den ihm nicht konformen Strebungen arrangieren kann und sie zu seiner eigenen Weiterentwicklung nützt, kann man nicht schließen, dass diese dann auch nichts anderes als ein Teil des Kapitals wären. Ein anderes Beispiel: Der Umstand, dass Ausbrüche aus Gefängnissen zur Effektivierung ihres Überwachungssystems führen, bedeutet nicht, dass diese Ausbrüche Teil des Systems „Gefängnis“ sind. Wäre dies der Fall, so wären Gefängnis und Ausbruch ein- und dasselbe, was eine offensichtlich unsinnige Aussage ist.

Das dem Klassenkampf von unten zugrundeliegende Motiv der Autonomie kann auch Ausdrucksformen zeigen, die nicht dem klischeehaften Bild des gewerkschaftlich organisierten Massenstreiks entsprechen. Ein wichtiges Beispiel ist die Flucht in das Bildungssystem, die selbst in Zeiten des Neoliberalismus fortwirkt und sich in Österreich etwa in der wachsenden Inanspruchnahme von Bildungskarenzierungen ausdrückt (die ergo auch prompt ins Visier von Kapital und Staat kommen). Weil es keine „Ware Arbeitskraft“ gibt, sondern nur lebendige Wesen, die ausgebeutet werden, kann man den Klassenkampf von unten auch nicht auf den Bereich von Betrieb und Ausbildung reduzieren, sondern muss den Haushalt und die Reproduktionsarbeit mit einbeziehen. Die „Ware Arbeitskraft“ wird – wie schon betont – eben nicht als Ware „hergestellt“.

Damit ist nicht gesagt, dass alle Formen des Klassenkampfes schon (gleichermaßen) emanzipatorisch sind, und es ist nicht gesagt, dass es Staat und Kapital nicht gelingen kann, sie unter Kontrolle zu bringen. Ebenso wenig gilt, dass der Klassenkampf schon eine zureichende Bedingung für eine emanzipatorische Transformation darstellt. Auch ist nicht gesagt, dass der Kapitalismus ohne den Klassenkampf von unten überhaupt gedacht werden kann. Und schließlich darf man nicht vergessen, dass es auch Kämpfe innerhalb der herrschenden Klassen gibt, die für die Emanzipation mittelbar relevant sind, indem sie die Intensität von Herrschaft schwächen können (aber nicht müssen). Kämpfe zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse sind allerdings keine Klassenkämpfe, ebenso wenig wie Auseinandersetzungen entlang ethnifizierter Grenzziehungen innerhalb der Lohnabhängigen oder innerhalb der bäuerlich Produzierenden. Dies sind Konkurrenzkämpfe, die, wenn sie zwischen dominierten oder ausgebeuteten Klassen stattfinden, den Klassenkampf von unten schwächen.

Wie schon erwähnt speist sich die Produktivität der Arbeit grundlegend aus der Autonomie der Arbeitenden, die das Kapital bei Strafe seines Untergangs nicht abtöten kann, sondern zu kontrollieren versuchen muss. Dies gilt übrigens auch auf ähnliche Weise für die Gewerkschaften, die häufig mit dem Klassenkampf von unten identifziert werden, wo sie doch in Wirklichkeit zumeist Teil des Klassenkampfes von oben sind. Ihre vermittelnde, das Kapital daher in der Regel stützende Rolle beruht auf ihrer parziellen Kontrolle der Lohnabhängigen. Wird die Kontrolle der „Arbeitskraft“ durch die Gewerkschaften zu stark, sodass deren Eigeninitiative verloren geht, die für einen Streik unabdingbar ist, hat auch die Gewerkschaft keine Funktion mehr für das Kapital. Ebensowenig ist eine Gewerkschaft für das Kapital funktional, wenn sie keine Kontrolle über die Lohnabhängigen ausübt. Der Drahtseilakt zwischen Autonomie und Kontrolle, den Kapital und Gewerkschaft zu bewältigen haben, ähnelt sich im Grunde.

Der argumentative Punkt also ist: Klassenkampf ist für die Emanzipation nicht zureichend, doch ohne Klassenkampf von unten kann Emanzipation nicht gedacht werden.

Kampf, Konkurrenz und Befreiung

Neben einer irreführenden, einseitigen Interpretion des Klassenkampfes vermischt die Position der kampflosen Transformation – wie oben angedeutet worden ist – häufig auch den Begriff des Klassenkampfes mit dem der kapitalistischen Konkurrenz. Konkurrenz und Klassenkampf sind allerdings zwei grundverschiedene Konfliktformen. Das war schon Thema im ersten Teil der „Mythen der Kapitalismuskritik“, soll hier aber nochmals angesprochen werden. Die Konkurrenz ist ein horizontales Konfliktverhältnis, das heißt zwischen Akteuren der annähernd gleichen sozialen Statusposition (was im Großen und Ganzen mit ihrer Stellung im Verhältnis zu den Produktionsmitteln korreliert). Der Klassenkampf jedoch bezeichnet ein vertikales Konfliktverhältnis, also von „unten“ gegen „oben“. Wenn man Emanzipation als eine Bewegung hin zu mehr sozialer Gleichheit begreift, dann können Konkurrenzkonflikte ersichtlich keinen Beitrag zu einer solchen Bewegung leisten, auch nicht wenn sie zwischen „solidarischen“ Einheiten wie Betrieben, Nationen und so fort ausgetragen werden. (Im Gegenteil verschärft sich damit die Gewalt der Konkurrenz.)

Nach diesen Begriffsklärungen ist nun die Frage zu diskutieren, welche Rolle der Klassenkampf in der Transformation tatsächlich spielt. Die Antwort der kampflosen Transformation ist eindeutig negativ.

Ein des öfteren zu hörendes Argument für die kampflose Transformation lautet in etwa so: „Die zu erstrebende Gesellschaftsordnung friedlicher menschlicher Beziehungen fällt nicht vom Himmel, sondern muss im Prozess der Transformation selbst erst geschaffen werden. Der Klassenkampf steht solchen friedlichen Beziehungen entgegen, auch oder vor allem, weil er die darin involvierten Menschen selbst als Kämpferinnen und Kämpfer prägt und nicht als friedfertige Wesen entwickeln hilft, die eine andere, bessere Gesellschaft aufbauen und bilden könnten.“

Historisch betrachtet sind diesem Argument zwei Einwände entgegen zu bringen. Zum Ersten gab es immer wieder bedeutsame Bewegungen sozialer Alternativen, die jedoch vom Staat zerschlagen wurden, das heißt gerade daran scheiterten, dass sie auf der Ebene der Auseinandersetzung, die Staat und Kapital gemäß ist, keine wirksamen Strategien anwenden wollten oder konnten. Zum Zweiten sind bedeutsame Ansätze zu sozialen Alternativen entwickelt worden, die sich gerade als eine Integration von sozialem Kampf und neuer Lebensweise verstanden. Zu nennen wäre etwa die Kibbutzbewegung, die übrigens auch die einzigen bewaffneten Widerstände der jüdischen Bevölkerung gegen den Naziterror in Europa initiierte, und den angesichts der restriktiven Einwanderungspolitik der Alliierten alleinigen, einigermaßen „sicheren Hafen“ für Jüdinnen und Juden in Palästina erschlossen (übrigens ohne je die Enteignung der zumindest teilweise mit den Nazis kollaborierenden arabischen Bevölkerung widerspruchslos befürwortet zu haben oder die jüngeren Siedlungsprojekte unter den neoliberal-konservativen Regierungen mitzutragen).

Zu nennen ist weiters zum Beispiel die Bewegung der Zapatistas in Mexiko, die eine zentrale Inspiration für die globalisierungskritischen Bewegungen an der Wende zum 21. Jahrhundert darstellten, oder die Transformation in Venezuela. In diesen drei Fällen handelt es sich um eine besondere Form des sozialen Kampfes, nämlich jene, die auch den bewaffneten Kampf für legitim erachtet, und dabei wiederum auch Formen, die auf Menschen und nicht nur auf Objekte zielen.

Drittens wäre zu fragen, ob die einfache Gleichsetzung der Subjekte des Klassenkampfes mit denen eines herkömmlichen Krieges trägt. Ziel eines herkömmlichen Krieges ist die Unterjochung eines Gegners, oder seine Auslöschung. Das ist definitiv nicht das Ziel des Klassenkampfes von unten. Die ihm zugrundeliegenden Strebungen zielen nicht nach Sieg und Unterwerfung, sondern im Abschütteln, Ausschalten und Ausweichen dessen, was Autonomie und gutes Leben behindert.

Freilich können dessen grundlegende Strebungen unter bestimmten Bedingungen in solche Formen abgelenkt werden (die dann aber kein Klassenkampf mehr sind). Wie leicht einzusehen ist, geschieht dies auf Initiative der herrschenden Klassen bzw. die sie stützenden Klassen (namentlich das Kleinbürgertum) und die politische Klasse (historisch namentlich die Sozialdemokratie). Eine geschichtlich ausgesprochen bedeutsame Möglichkeit zur Ablenkung des Klassenkampfes von unten in systemkonforme Konflikte, die dem Modus der Konkurrenz oder dem Raub entsprechen, besteht gerade im Krieg, wie auch historisch gut argumentiert werden kann. So zeigt der Klassenkampf gemessen an ArbeiterInnenunruhen weltweit eine eindeutige Korrelation mit den beiden Weltkriegen. Unruhen steigen davor an, fallen während der Kriege zwangsweise ab, um danach einen erneuten Höhepunkt zu erreichen – eine Dynamik, die Beverly Silver analysiert hat.

Viertens ist daran zu erinnern, dass in dem oben umrissenen Verständnis eines Klassenkampfes von unten, der nicht ökonomistisch enggeführt werden kann, und der sozial vielfältig ist, auch Ansätze zu alternativen Lebens- und Produktionsweisen als Moment sozialen Kampfes, als Widerstand bestimmt werden müssen. Das ist dann offensichtlich, wenn schon die Etablierung solcher Initiativen Anfeindungen und Hindernisse aller Art aktiv überwinden muss; gilt aber auch in dem Sinn, dass solche Alternativen dem Kapital Widerstand entgegensetzen, der, insoweit das Kapital ihn in der Regel bekämpft, selbst eine Art sozialen Kampfes ist. Während also die Begriffe Kampf und Konkurrenz getrennt werden müssen, rückt diese Betrachtungsweise die Begriffe von Widerstand, Aufstand, Widersetzlichkeit, Gegenwehr, Verteidigung und sozialem Kampf eng zusammen.

Bei weitem nicht jeder Kampf ist Konkurrenz, auch wenn alle Konkurrenz eine Form des Kampfes ist. Der soziale Kampf ist nicht-konkurrenzistisch. Die Konkurrenz ist eine Teilmenge des Kampfes, der soziale Kampf liegt außerhalb dieser Teilmenge. Auf der anderen Seite ist jeder soziale Kampf nicht nur Widerstand, sondern es ist auch jeder Widerstand eine Form des sozialen Kampfes.

Die Option Exodus

Der Verweis auf die entscheidende Bedeutung der Entwicklung alternativer Lebens- und Produktionsweisen in Hinblick auf Befreiungen führt unsere Diskussion zum Abschluss noch zur Option Exodus aus dem System. Gibt es nicht doch Möglichkeiten einer kampflosen Transformation, wenn man nur Nischen auffinden und erweitern würde, die das System nicht restlos erfasst?

Dies wäre in der Tat ein glücklicher Fall, jedoch gibt es dafür heute kaum Ansatzpunkte. Selbst historisch, als etwa in weitläufigen Berggebieten in vielen Teilen der Welt solche Zonen der Autonomie und relativer sozialer Gleichheit bestanden, was unter anderem James Scott in seinem Buch „The Art Of Not Being Governed“ herausgearbeitet hat, war der Exodus dorthin nicht kampflos. Eine der größten dieser Zonen ist die Region „Zomia“ in Südostasien, die von den angrenzenden vormodernen Staaten regelmäßig in Form riesiger Kriegszüge zur Erbeutung von Sklaven heimgesucht wurde, oder zur versuchten Unterjochung der dort lebenden Gesellschaften. (Heute sind die nationalstaatlich aufgeteilten Regionen von Zomia Objekt staatlicher bewaffneter Unterdrückung der dort lebenden ethnifizierten Minoritäten, die sich zum Teil bewaffnet wehren.)

Auch die Flucht aus den vormodernen Staaten nach Zomia war offenbar kaum je kampflos. Große Fluchtbewegungen in diesen relativ autonomen Raum gab es den historischen Aufzeichnungen nach häufig im Gefolge fehlgeschlagener Rebellionen – und diese schlugen vermutlich praktisch immer fehl. Sehr erfolgreich aber waren die anschließenden Bewegungen des Exodus in den Raum Zomia.

Ein ausgesprochen interessantes, weiteres Beispiel ist die geschlechtsegalitäre und in der Tat weitgehend friedfertige Gesellschaftsform der Minangkabau auf der indonesischen Insel Sumatra. Diese Gesellschaft scheint das Kunststück fertiggebracht zu haben, sich allen Versuchen der Einführung einer Geschlechterhierarchie bis heute widersetzt zu haben. Der historisch wohl folgenschwerste, jedoch am bewaffneten Widerstand dieser friedliebenden Kultur gescheiterte Versuch bestand in der Durchsetzung eines patriarchal interpretierten Islam. Die Minangkabau sind heute ein Musterbeispiel islamischer Frömmigkeit und dennoch geschlechtsegalitär geblieben.

Diese gegenwärtig paradox erscheinende (allerdings auch in anderen Kulturen ansatzweise vorfindliche) Synthese aus Islam und Geschlechtsegalität verdankt sich blutigen (und von den Minangkabau keineswegs glorifizierten) bewaffneten Kämpfen, einem regelrechte Krieg zwischen patriarchal orientierten Islamisierern und jenen Kräften, darunter vielen Männern, die sich dieser Art der Islamisierung widersetzten und zwar den Islam übernahmen, aber in einer egalitären Interpretation. Die historische Wurzel der heutigen islamisch-frauenfreundlichen Kultur der Minangkabau erscheint insofern umso bemerkenswerter, als die Minangkabau politische Macht im westlichen Sinn, und auf dem Konflikt beruhende Lösungen gesellschaftlicher Probleme traditionell zumindest im Rahmen ihrer dörflichen und supra-dörflichen sozialen Zusammenhänge ablehnen.

Sie haben stattdessen harmonie- und konsensorientierte Bearbeitungsformen von Konflikten entwickelt ohne Konflikte zu unterdrücken. Man kann, wie Peggy Sanday darstellt, diese frauenfreundliche Kultur auch als eine Kultur der Anpassung an feindliche Umwelten interpretieren, die sich gerade durch eine Flucht vor dem (offenen) sozialen Kampf, als Strategie der Vermeidung, des Selbsterhalts durch Adaptation und Integration neuer kultureller Elemente als dauerhaft erwiesen hat. Historisch kam jedoch auch diese Kultur nicht ohne sozialen Kampf aus.

Die Strategien des Exodus beinhalten nicht nur physische Flucht, die gegenwärtig in einem fundamentalen Sinn unmöglich ist, denn die Welt ist in die Herrschaftsgebiete von Staaten restlos aufgeteilt. Sie inkludieren auch Strategien, das soziale Leben für die Apparaturen der Herrschaft unlesbar zu machen, das heißt sich der staatliche Kontrolle zu entziehen, der Disziplinierung über die digitalen Medien und so fort. Auch diese Strategien finden jedoch von Haus aus kaum Ansatzpunkte vor. Wenngleich der Exodus ein wichtiges potenzielles Moment der Transformation ist, kann er doch kaum entkoppelt von sozialen Kämpfen gedacht werden.

Schlussbemerkung

Wenn man eine bestimmte argumentative Position kritisch beleuchtet, so sind auch ihre intellektuellen, sozialen und emotionalen Motive oder Ursprünge interessant. Kontroversen kann man damit manchmal auf eine produktivere Ebene bringen als es argumentative Schlagabtausche erlauben. Im Fall der Position der kampflosen Transformation könnte man verschiedene Faktoren vermuten. Lassen wir einmal eine bestimmte allzu optimistisch getönte Weltsicht außen vor, die sich selbst schon oft einer Klassenlage verdankt, die man nach wie vor ganz zutreffend als kleinbürgerlich bezeichnen kann, also einem eher abgeschotteten sozialen Dasein und relativer Prosperität.

Relevanter scheint der Faktor einer Bearbeitung von Erfahrungen mit linken Gruppen in den 1970er Jahren und diversen Parteiprojekten und theoretischen Zirkeln danach. In der Tat spielte hier die Konkurrenz eine entscheidende und äußerst problematische Rolle. Die Rhetorik des Klassenkampfes oder auch des Kampfes zwischen verschiedenen theoretischen oder allgemein inhaltlichen Positionen wurde in diesen Fällen oft mit den Weihen des wirklichen Klassenkampfes versehen.

Doch statt diese Ideologie schon für Wahrheit zu halten, sollte man die Rolle von Intellektuellen, die sich hier inszenieren und ihre Konkurrenzkämpfe emanzipatorisch deuten wollen, relativieren. Intellektuelle Erzeugnisse sind im besten Fall ein Element des Klassenkampfes, und zwar dann, wenn soziale Bewegungen (darunter solche, die die Betriebe in Form von Streikwellen erfassen) sich darauf beziehen. Das war historisch wohl nicht allzu oft der Fall und scheint immer weniger von Bedeutung; am ehesten noch in Bewegungen wie La Via Campesina, der weltweiten Bäuerinnen- und Bauernbewegung, die auch über Manifeste hinaus eine recht erhebliche intellektuelle Tätigkeit entfaltet. Texte spielen in den wachsenden globalen Protestdynamiken eine große Rolle, doch entspricht die wortgebundene Kommunikation in sozialen Netzwerken nicht dem Profil theoretischer Werke. Der digitalen Technologie gemäß sind Texte auch nur mehr eingeschränkt als Wort-Text zu verstehen, Bilder dürften eine immer größere textuelle Rolle spielen und es muss ihnen nicht an Gehalt und Tiefgang fehlen. So ist zum Beispiel das Foto einer von der türkischen Polizei abgefeuerten Tränengaspatrone mit den Worten „Made in Brazil“ funktional durchaus das Bewegungsäquivalent einer langen theoretischen Abhandlung über die Globalisierung von Protest.

Eine weitere Wurzel der Idee kampfloser Transformation könnte ein ganz verständliches Gefühl der Erschöpfung sein. Man will nicht mehr kämpfen, oft nach gewichtigen biographischen Erfahrungen oder kollektiven Enttäuschungen. Dies gilt vor allem für die radikaleren Strömungen, das heißt für jene, die Lohnarbeit grundsätzlich und mit Bezug auf das eigene Leben ablehnen – wer wollte dann nicht am liebsten einfach „diesen ganzen Krempel hinschmeißen“ und von Erspartem leben, sofern das möglich ist, oder in eine Kommune ziehen, wenn man das für eine attraktive Lebensweise hält. Diese Strömungen äußerten sich etwa in der Hippiebewegung, doch ließ sich eine solche Lebensweise nicht lange „friedlich“ durchhalten, in der Realität nämlich mangels Subsistenzmöglichkeiten für wenige relativ Privilegierte, und auch da nur in kleinen Experimenten. Das „Drop Out“ setzt voraus, dass der Ausstieg möglich ist und möglich gemacht wird.

Die Bewegungen der Autonomia in Italien strebten nach einer Flucht aus der Arbeit, der Sieg war ihr Anliegen nicht. Der Kampf gegen den Maschinentakt, der Exodus aus der Arbeit, wann immer er möglich war, werden als ihre Kernanliegen beschrieben, die Sabotage der Produktion, Einebnung aller Lohndifferenzen, das Aus, der Stopp einer als sinnlos erachteten Produktion, an der man nur wegen des Geldbedürfnisses, das die kapitalistische Gesellschaft erzeugt, teilnahm, und ergo auch das „proletarische Einkaufen“, das Nicht-Bezahlen von Miete, Strom- und Gasrechnung propagierte und soziale Zentren in besetzten Gebäuden aufbaute. Nachdem die Kapitalisten den Maschinentakt aufzwangen und die Arbeit verteidigten bis hinab zu den Vorarbeitern, zielte der soziale Kampf darauf, die Verfügungsmacht dieser Gruppen über das eigene Leben zu schwächen. Nachdem der Staat sein Schlechtestes dazu tat, die Kapitalisten und ihre Vorarbeiter zu unterstützen, musste man sich zwangsläufig auch mit seinen Apparaturen auseinandersetzen und mit der italienischen KP, die zu Disziplin und Ruhe aufrief, die Notstandsgesetze mitbeschloss und von Staatsmacht träumte.

Einzig die bewaffneten Gruppen nach dem Modell der Roten Brigaden verfolgten die Strategie der Übernahme der Staatsmacht, wobei die Frage wäre, wie ernsthaft die AktivistInnen selbst dies je geglaubt haben, und mithin des klassisch konzipierten Sieges. Man kann diskutieren, ob Aktionen in der Art der von den Brigaden durchgeführten die Bewegungen stärkten oder schwächten – anfangs waren sie wohl funktional im Klassenkampf, etwa durch Kidnapping von Managern. Auch beschreiben AktivistInnen selbst, dass sie im Verlauf ihrer viele Jahre andauernden Aktionen sich dem anzuverwandeln begannen, gegen das ihre Aktionen sich eigentlich richten sollten; es war, wie Primo Moroni und Nanni Balestrini bemerken, nicht immer ganz klar, wo ihre Manifeste und Erklärungen die Staatsmacht nur ironisch imitierten, und wo darin nicht eben auch eine Staatshaftigkeit zum Ausdruck kam. Doch ist diese staatsförmige Selbstveränderung durch den bewaffneten Kampf allerdings wohl auch kein Naturgesetz, wie der Vergleich mit der Geschichte der US-amerikanischen Weather Underground illustriert, die stark mit der „friedlichen“ Hippiebewegung kommunizierten, sich nach Ende des Vietnamkrieges selbst auflösten, der Polizei stellten, und heute zu recht unterschiedlichen retrospektiven Einschätzungen ihres Engagements kommen.

Was jedoch kaum anzuzweifeln ist, besteht in der massiven Aggression von Kapital und Staat gegen die Versuche der Flucht, die sich in der breiten sozialen Bewegung etwa im Italien der 1960er und 1970er Jahre äußerten. Und ebenso wenig scheint bezweifelbar, dass dem mit „Frieden“ und „Sympathie“ für jene, die mit voller Überzeugung Kapital, Staat und Kirche vertraten, nicht nur nicht beizukommen war, sondern dass eben solche Haltungen Herrschaftsverhältnisse stabilisierten.

So sehr die Abneigung gegen den Kampf ihre wirkliche Berechtigung hat, so wenig sollte man sich auf sie als wahre theoretische Position versteifen oder die nüchterne Einschätzung jener unangenehmen Realitäten, die man doch gerade verändern will, dem Bild einer kampflosen Transformation opfern. Dies nämlich kann, so sympathisch es auch ist, durchaus zum praktischen Schaden von sozialen Bewegungen gereichen, hätten artikulierte theoretische Positionen wie auch diese hier dort jenen Einfluss, den sie selbst sich naturgemäß gern zuschreiben. Wenngleich der soziale Kampf auch keine Siege anzielt, so erleidet er doch Niederlagen, und historisch waren die bislang verheerend. Die geschichtlich ersten Herrschaftsformen etwa nach der zuerst von Marija Gimbutas beschriebenen, wahrscheinlich geschlechtsegalitären und von Statusunterschieden weitgehend freien Epoche des „Alten Europa“ oder der von Harald Haarmann so genannten Donauzivilisation konnten ja wohl gerade deshalb etabliert werden, weil der Widerstand gegen die durchzusetzende patriarchale und auf Statusdifferenzen beruhende neue Ordnung zu schwach war; man kann wohl nur spekulieren, welche Rolle dabei die Kooptierung von Männern der ursprünglich egalitären Kultur gespielt, oder welche Bedeutung Umweltveränderungen zugekommen sein mag. Andernfalls jedenfalls hätte das Verhängnis seinen Lauf nicht nehmen können. Die einzige von Silvia Federici in „Caliban and the Witch“ berichtete Gegenwehr gegen die Verbrennung von Frauen im Zuge der Inquisition war einfach und wirkungsvoll: Als die von ihren Fischzügen heimkehrenden Männer des baskischen Dorfes sahen, was vor sich ging, nahmen sie ihre Knüppel und schlugen die Angreifer in die Flucht.

Nachsätze:

„Und doch hatte ich diesen Wunsch zu leben und etwas anzustellen. Ich war noch jung und hatte einen ziemlichen Blutdruck. Einen enormen Schwung hatte ich, will ich sagen. Ich wollte was machen. Irgendeine beliebige Sache wollte ich machen. Andererseits ist ganz klar, dass für mich irgendeine Sache nicht bedeutete, weiter den Arbeiter zu spielen. Dieses Wort hatte für mich inzwischen einen unerträglichen Beigeschmack. Es bedeutete mir nichts. Es hieß lediglich, dieses Scheißleben weiterzuführen, das ich bis jetzt geführt hatte. Deshalb schiss ich auf die Arbeit, die ich sowieso niemals gemocht hatte und die mich nie interessiert hatte. Weil man damit noch nicht einmal genug verdiente, um anständig zu leben. Ich hatte alles begriffen und verschiedene Arten zu leben ausprobiert. Erst wollte ich mich einordnen und mitmachen und dann entdeckte ich, dass ich mein Leben lang hätte bezahlen müssen, wenn ich mich ins System eingeordnet hätte. Für jede Art von Leben musst du deinen Preis zahlen.

Egal, was du willst, ob du dir ein Auto oder einen neuen Anzug kaufen willst, du musst mehr arbeiten und Überstunden machen. Kaum ins Cafe oder Kino kannst du gehen, in dieser Welt, die nur den Zweck hat, zu arbeiten und Waren zu produzieren. Was immer du willst, in diesem System kannst du es sofort wieder aufgeben. Dir gelingt nichts. Das hatte ich begriffen. Die einzige Methode, alles zu erreichen und die Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen, ohne dabei draufzugehen, war, dieses System der Arbeit des Unternehmers zu zerstören.“

(Aus: Wir wollen alles. Roman der Fiatkämpfe, Nanni Balestrini)

Fußnoten:

[1] In seinen Worten geht es im Klassenkampf erstens um die Frage, ob Arbeit in die Warenform gepresst, also zu Lohnarbeit wird, zweitens, wenn ja, in welchem Ausmaß und drittens zu welchem Preis.zurück zum Text

[2] Man muss offenbar zwischen Sklaverei im Kapitalismus und Sklaverei in nicht kapitalistischer Produktionsweise unterscheiden, wenngleich das typisch kapitalistische Produktionsverhältnis nicht die Sklavenarbeit, sondern die „doppelt freie“ Lohnarbeit darstellt. zurück zum Text
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