2009-07-06
Nebelkappen
Der Zusammenhang war mir nicht klar. Ich könnte jetzt sagen: Zusammenhänge sieht man immer erst im Nachhinein, nur der Allmächtige sieht sie schon im Vorhinein, aber ich bin ja Arzt und Agnostiker, verstehen Sie, Hochwürden? Es ist übrigens sehr nett von Ihnen, dass Sie mir jetzt zuhören. Wir haben ansonsten ja fast immer nur aneinander vorbeigehört.
Ich habe Sie oft hier sitzen sehen, in Ihrer Ecke, Handl gegenüber, der in der anderen Ecke saß und sein viertes Viertel Alsegger Riesling trank, und „Prost Hochwürden“ sagen mochte, und „wie geht das Gottsgeschäft?“ Ein Ungläubiger auch er. Heute denke ich, er hätte sich tatsächlich an Sie wenden sollen, nicht an mich. Als Stellvertreter Gottes kennen Sie wahrscheinlich die ewigen Zusammenhänge, ich kenne allenfalls solche, die sich auf das Zeitliche beziehen, und ich sehe sie eben erst im Nachhinein, wenn das Leben, das ihnen unterliegt, bereits verloren ist. Sie arbeiten apriorisch, ich aposteriorisch.
Sie entschuldigen: das ist schon mein dritter Alsegger. Ich halte es heute wie Handl. Sie wissen ja: Handl war ein Mensch mit äußerst regelmäßigem Lebenswandel. Stand um vier Uhr morgens auf, begab sich – je nach Jahreszeit – sofort in die Branntweinstube oder in den Wald zum Pilzesuchen, trank dann hier beim Schwarzenbergwirt seine ersten vier Viertel Alsegger, ging zum „König von Ungarn“ in die Andergasse mittagessen, trank nachmittags hier seine zweiten vier Viertel Alsegger, tappte nach Hause auf die Alszeile (gegenüber dem Himmelmutterweg hat er gewohnt), und schlief dort gegen neun beim Fernsehen ein. Und wachte ergo schon um vier Uhr früh wieder auf, schaltete den Fernsehapparat aus und ging – je nach Jahreszeit – zum Branntweiner frühstücken oder in den Schwarzenbergwald Schwammerln suchen. Und so fort.
Sie wissen, was für ein Pilzexperte Handl war. Er hat Ihnen ja auch zuweilen etwas angeboten von seinen Schätzen, hat das karierte Kopftuch seiner Frau aufgeknotet und die ganze Pracht auf ihren Tisch hingebreitet: die Morcheln im Mai, die Birkenpilze und Wiesenchampignons im Juni, die Anisegerlinge und Mönchsköpfe im Juli, die Goldröhrlinge im August, die Eichhasen, Steinpilze und Parasole im September; im Oktober Espenrotkappen und die Semmelstoppelpilze, und knapp vor Weihnachten die Seitlinge vom Alsufer. Von Jänner bis April war für Handl Branntweinstubenzeit, und – es fällt mir erst jetzt auf – Handl war dann noch viel schweigsamer als in der Pilzsaison. Und wenn er sprach, nach dem zweiten, dritten Viertel allenfalls, dann lästerte er Gott und den Himmel, sofern auch Sie hier saßen, Hochwürden. In ruhigem Tonfall vor sich hinredend, behauptete er, der Schöpfer sei seiner Schöpfung überdrüssig, sei seiner Schöpfung nicht gewachsen, und Jesus wäre ein unehelicher Balg, den man dem armen Joseph untergeschoben hätte, und Ähnliches mehr. Und da haben Sie ihn eben nie beachtet, Hochwürden, und wenn er Ihnen dann im Frühjahr wieder von seinen Pilzen anbot, beachteten Sie ihn auch nicht.
Sie müssen wissen, dass ich Handl alles verdanke, was ich über Pilze weiß. Er war der begnadetste Schwammerlsucher, den man sich vorstellen kann. Darum glaube ich nicht, dass er die Nebelkappen mit den Riesenrötlingen verwechselt hat. Das kann einem so erfahrenen Pilzsammler gar nicht passieren. Der Schirm der Riesenrötlinge schimmert rostbraun bis purpurfarben, seine Lamellen verfärben sich, wenn man ihn brockt und außerdem riecht er deutlich nach nassem Mehl und das Sporenpulver ist rötlich. Nein, Handl hat den Riesenrötling nicht für die Nebelkappe gehalten, und auch nicht einen weißen oder einen keulenfüßigen Trichterling als Nebelkappe angesehen, ebensowenig, wie er einen Knollenblätterpilz statt eines Parasols genommen hätte.
Am Telefon sagte Handl deutlich hörbar: Ich hab Nebelkappen für Sie, Herr Doktor, ein ganzes Kopftuch voll.
Das Kopftuch hat er immer als Schwammerlbehälter verwendet, seit seine Frau gestorben war. Das muss drei Jahre her sein. Sie werden das genauer wissen, Hochwürden, Begräbnisse sind ja eine Ihrer Domänen und im Gegensatz zu Handl war seine Frau eine gläubige Katholikin, die sich ganz bestimmt ein christliches Begräbnis verdient hatte. Davor war Handl – wie Sie sich vielleicht erinnern werden – mit einem schäbigen Leinensack Pilze suchen gegangen, den er seinen „Hamstersack“ nannte, weil er damit angeblich nach dem Krieg so oft ins Marchfeld gewandert war, um sich von den Bauern Brot und ein paar Erdäpfel zu erbetteln oder gegen irgendetwas einzutauschen. Handl war ein großzügiger Mensch. Er hat alle Gäste dieses Wirtshauses mit Pilzen beschenkt, sofern diese sie annehmen wollten. An besonders guten Tagen, wenn Handl wieder einmal mehr gefunden hatte, als in seinem Hamstersack Platz fand, sodass er auch seinen Hut und seine Rocktaschen mit Pilzen vollstopfen musste, dann wurden hier beim Schwarzenbergwirt am Abend Schwammerlgulasch oder gebackene Herrenpilze serviert. Und der alte Wirt zeigte auf den in seiner Ecke sitzenden Handl und sagte zu seinen anderen Gästen: Die Schwammerln sind vom Handl, schaut nur: er hat auch selber davon gegessen und es geht ihm noch immer gut. Der neue Wirt hält nichts von Schwammerlmenüs. Sie sehen es ja selbst: diese Speisekarte könnte genausogut die eines Fast-Food-Ladens sein. Man sieht ihr die Jahreszeit nicht an. Hamburger, Cevapcici und Grillsteak gibt es von Jänner bis Dezember, aber Nebelkappen nur zur Zeit der Weinlese. Man muss sie übrigens abbrühen und das Wasser weggießen, bevor man sie verarbeitet. Eine höchst schmackhafte Sauce kann man aus den Nebelkappen zubereiten, aber auch gebraten oder gebacken sind sie nicht zu verachten. Nein, Handl hat ganz sicher keine Riesenrötlinge gebrockt und sie für Nebelkappen gehalten. Das ist absurd, Hochwürden. Ich soll mir keine Vorwürfe machen? Das tu ich ja gar nicht, Hochwürden. Ich konstatiere Zusammenhänge, ich beurteile meine eigene Rolle im Spiel dieser Zusammenhänge. Menschen, die sich etwas vorwerfen, sind mir nicht geheuer. Das sind diejenigen, die ohnedies schon immer eine Ahnung gehabt haben wollen, und nun soll man sie bedauern oder sie ob ihrer Empfindsamkeit bewundern, weil sie sich jetzt Vorwürfe machen, ihrer Ahnung keine Beachtung geschenkt zu haben. Ich habe ja gar keine Ahnung gehabt, Hochwürden. Man hat keine Ahnung in meinem Beruf, man kann sich eine Ahnung gar nicht leisten, weil man – ähnlich wie Sie, Hochwürden – für eine Autorität gehalten wird, die keine Ahnung hat, sondern im Besitz von Wissen ist. Dazu aber müsste man Zusammenhänge sehen, und das habe ich eben nicht getan. Sie nennen das eine wirre Logik? Ein Schwammerlsucher wie Handl würde das ganz leicht erklären können. Dass zwischen drei Regentagen und zwei Tagen Sonne ein Zusammenhang besteht. Dass man früh aufgestanden sein muss, um ein Hexenei zu finden, weil man – hat man verschlafen – nur noch Stinkmorcheln vorfinden wird. Dass man den Geruch von nassem Mehl kennen muss, um eine Nebelkappe von einem Riesenrötling unterscheiden zu können. Handl hat mir das alles ja erklärt, aber wirklich begriffen habe ich es offenbar doch nicht.
Wissen Sie, Hochwürden, ich glaube, dass er Ihnen die Parasole und die Eierschwämme anbot, weil er von Ihnen Trost, Lossprechung, Hoffnung oder sonst irgendetwas mit der Ewigkeit Zusammenhängendes wollte. Und er wollte es nicht für nichts. Aber Sie haben ja die Pilze nicht angenommen.
Und ich glaube, dass Handl dem neuen Wirt die Rotkappen und die Steinpilze angeboten hat, weil er wollte, dass auch der neue Wirt auf ihn zeigen und zu den anderen Gästen sagen würde: Die Schwammerln hat der Handl hier gebrockt, und er hat auch selber davon gegessen, und seht, es geht ihm noch immer gut. Aber der neue Wirt hat die Schwammerln ja nicht angenommen.
Und ich glaube, dass Handl mir die Seitlinge und die krausen Glucken angeboten hat, weil er von mir das Einzige wollte, was ein Arzt geben kann, ohne jegliche Gefahr eines Kunstfehlers: Verständnis. Ich habe die Seitlinge und die Parasole bald angenommen, bald nicht, und jedenfalls nichts verstanden. Und auch die anderen Gäste hier beim Schwarzenbergwirt haben von Handls Schwammerln nichts mehr wissen wollen. Handl hat mir am Telefon Nebelkappen angeboten und ich habe sie nicht angenommen und nichts verstanden und er hat endlich verstanden, dass ich nichts verstand und lediglich etwas annahm: dass er, Handl, ein versoffener Sonderling sei, der sich Sympathien erkaufen wollte, indem er Schwammerln verschenkte. Wissen Sie, Hochwürden, es ist mir nicht einmal aufgefallen, dass es das erste Mal war, dass Handl mich jemals angerufen hatte. Ansonsten trafen wir uns eben hier in diesem Wirtshaus – ich nach der Vormittagsordination und Handl nach dem Schwammerlsuchen, oder ich nach der Nachmittagsordination und Handl nach dem zweiten der zweiten vier Viertel Alsegger, wenn er mir seine Pilze anbot.
Handl hat mich in die Kunst des Schwammerlsuchens eingeführt. Nein, nicht, indem er mich an der Hand in den Wald geführt und mir die Pilze benannt und sie charakterisiert hätte. Handl hat mir die gebrockten Pilze gezeigt und mir erzählt, wo er sie gefunden hatte und wie es dort aussah. Und ich bin dann selbst hinaufgestiegen vor der Vormittagsordination oder am Sonntagmorgen und ich habe alles so vorgefunden, wie Handl es beschrieben hatte. Ein erfolgreicher Schwammerlsucher ist aus mir geworden, dank Handl. Und da kam es dann immer häufiger vor, dass auch ich Handls Schwammerlgeschenke ablehnte, der Pilze bereits überdrüssig, weil ich von meinen selbstgebrockten Pfifferlingen und Parasolen und Rotkappen schon tagelang gegessen hatte und nun eigentlich den jahreszeitenlosen Fast-Food-Fraß des neuen Wirten vorzog. Ich merkte, dass Handl das wehtat und so nahm ich die Seitlinge und die krausen Glucken doch wieder an und warf sie zu Hause in den Mist.
Ich habe die Zusammenhänge nicht verstanden. Handl bot mir von seinen Steinpilzen an und sagte beiläufig, er habe manchmal „Herzweh“, seit seine Frau gestorben sei und seine Nachbarin am Himmelmutterweg einen neuen Freund habe. Und ich sagte: Wenn Sieetwas brauchen, Herr Handl, dann kommen Sie doch in meine Ordination, Montag bis Freitag acht bis zehn und drei bis fünf, alle Kassen. Das nächste Mal waren es Parasole, die Handl mir anbot, und er sagte auf meine Floskel, wie es ihm gehe: Na, schlafen tu ich halt schlecht, seit meine Frau gestorben ist und seitdem meine Nachbarin einen neuen Freund hat. Und ich sagte: Kommen Sie doch in meine Ordination. Und das übernächste Mal kam Handl mit Birkenpilzen daher und klagte über Ohrensausen und Magendrücken seit dem Tod seiner Frau und seitdem die Nachbarin den neuen Freund habe und ich bot ihm meine Ordinationsdienste an und er mir die Pilze und ich nahm nicht an, weil mir die Pilze bereits auf die Nerven gingen oder ich nahm sie an und warf sie zu Hause in den Mist. Und Handl nahm mein Angebot nicht an, denn er kam niemals in meine Ordination.
Sein Leben verlief nun so regelmäßig, dass man die Uhr danach stellen konnte. Um vier Uhr früh aufstehen und den Fernseher abschalten, dann Branntweinfrühstück oder Schwammerlsuchen, und dann zweimal vier Viertel Alsegger hier in diesem Wirtshaus, dazwischen das Mittagessen beim „König von Ungarn“ und abends um neun das Einschlafen vor dem Fernsehapparat und das Nicht-mehr- Schlafen-Können, nachdem er sich vom Fauteuil ins Bett geschleppt hatte.
Ich habe nichts geahnt und nichts verstanden, Hochwürden. Auch nicht, dass ein ordentlicher Arzt auch zu seinem Patienten gehen muss und nicht nur der Patient zu seinem Arzt. Und dass vielleicht – Sie entschuldigen, Hochwürden – ein ordentlicher Seelsorger auch zu seinen Seelen gehen muss und nicht nur die Seelen zu ihm.
Er ist ja zu uns gekommen, Hochwürden. Hat seinen Hut in der einen und das prallgefüllte Kopftuch in der anderen Hand getragen und hat seine Schätze ausgebreitet auf Ihrem Tisch und auf dem meinen und auf dem Stammtisch und auf dem Tresen, und keiner hat mehr etwas davon haben wollen. Nur ich, ich habe von den Pilzen etwas angenommen und es dann in den Mist geworfen, weil ich mich dank Handl auf das Schwammerlsuchen nun genauso gut wie Handl verstand.
Ich mache mir keine Vorwürfe, Hochwürden. Ich habe mich wohl ganz normal verhalten, so wie Sie und wie der neue Wirt und wie die anderen Gäste hier in diesem Wirtshaus. Wir haben Handl als eine Institution, als eine Kuriosität, als ein Faktotum gehandelt. Ein Säufer, der Schwammerln sucht und Schwammerln findet und Schwammerln schenken will, und der uns damit ein bisschen amüsiert und vor allem auf die Nerven geht. Das ist alles völlig normal. Handl hat wie ein völlig normaler Trinker gewirkt: allein in seiner Ecke, vor dem ersten ersten oder auch dem zweiten ersten Alsegger Riesling. Wenn er uns seine Schätze angeboten hat, haben wir dies für das kuriose Pläsier eines Alkoholikers gehalten, den man gewähren lässt, weil man ihn ohnedies längst abgeschrieben hat. Sie haben seine Seele verloren gegeben, weil er ein Ungläubiger war, aus der Kirche ausgetreten und im Rausch ein Gotteslästerer. Ich habe seinen Leib verloren gegeben, weil er ein Trinker war, den man von seinen Gewohnheiten nicht abbringen konnte. Handl hat mich angerufen und gesagt, er habe Nebelkappen für mich. Ein ganzes Tuch voller Nebelkappen. Und ich habe diesen Anruf nicht als überraschend oder beunruhigend angesehen und behauptet, das Wartezimmer meiner Ordination sei voll und wir könnten uns ja Nebelkappen-halber hier beim Schwarzenbergwirt treffen, obwohl ich eigentlich eine Unmenge von Parasolen im Hause habe und nicht wisse, was ich mit den zusätzlichen Nebelkappen anfangen solle. Und Handl sagte noch am Telefon, man könne Nebelkappen leicht mit Riesenrötlingen verwechseln und ich sagte, das wisse ich natürlich, übrigens habe er, Handl, mich seinerzeit darauf hingewiesen. Ich hatte Mühe, ihn aus der Leitung zu bringen, weil man einen Anrufer, der nichts mehr sagt, eben nicht so leicht aus der Leitung bringt. Letztlich habe ich gesagt: Na dann, beim Schwarzenbergwirt, mit den Nebelkappen, und habe aufgelegt und gedacht, angesichts der noch im Wartezimmer sitzenden Patienten Wichtigeres zu tun zu haben, als mit Handl über Nebelkappen und Riesenrötlinge zu reden. Ich denke, ich hielt mich in jenem Moment für einen guten und verantwortungsvollen Arzt.
Zu Mittag ist dann Handl erstmals, seit ich ihn kenne und dieses Wirtshaus besuche, nicht hier erschienen. Ich habe mir nichts weiter gedacht, mein Fast-Food-Schnitzel verzehrt und bin nach dem Kaffee nach Hause gegangen, um nachzusehen, um welche Präparate ich meine Ordinationsapotheke ergänzen musste. Als die Nachmittagsordination beendet war und ich zum Schwarzenbergwirt aufbrechen wollte, kam der Anruf von Handls Nachbarin. Ich bin zum Himmelmutterweg gefahren, um Erste Hilfe zu leisten. Handl hat noch gelebt. Er lag in seinem Bett, über und über mit Erbrochenem bedeckt. In der Küche roch es nach nassem Mehl. Auf der Anrichte fand ich in seinem Kopftuch je einen Riesenrötling und eine Nebelkappe.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors:
Ludwig Roman Fleischer: „Das Buch der Käuze“, Sisyphus und Ludwig Roman Fleischer, 2009
ISBN: 978-3-901960-48-2
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