2008-10-18
Mein erster Mörder
Eine Leseprobe
Am Dienstag liest der Autor Vladimir Vertlib im Parkcafe in Villach ... mehr.
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Vladimir VERTLIB
Mein erster Mörder
Lebensgeschichten
dtv-Verlag. München 2008, 256 S., ISBN: 978-3-423-13634-1
EURO 9,30 |
Vertlibs Buch „Mein erster Mörder" besteht aus drei spannenden Geschichten, drei verschlungene, erzählenswerte Lebensläufe: „Mein erster Mörder", „Ein schöner Bastard" und „Nach dem Endsieg".
In der ersten Geschichte geht es eigentlich um zwei Mörder, Leopold Ableitinger und seinen Vater. Leopold wächst nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Wiener Proletenfamilie auf. Die Wohnung ist eng, darum muss der Halbwüchsige mit der alten, kranken, keifenden Großtante ein Zimmer teilen. Leopold ist intelligent, darf als Arbeiterkind aufs Gymnasium, was ihm jedoch viele Bürden auflädt. Als er sich für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs interessiert, empfiehlt ihm der Direktor mit durchaus drohendem Unterton, doch lieber über die Türkenkriege und Prinz Eugen zu lesen. Leopold erfährt, dass sein schwacher, doch brutaler Vater in Kriegsverbrechen verwickelt war. Doch das war in einer Zeit, in der „das Verbrechen zur Pflichterfüllung erklärt worden ist." ( Peter Landerl)
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... Großtantes Schlaf war ein polyphones Musikstück. Wenn sie einatmete, gab sie einen lang anhaltenden Schnarchlaut von sich, der zum Schluss etwa eine Oktav höher war als am Anfang. Ihr Bauch hob sich dabei um zehn Zentimeter. Das Bettgitter quietschte und der Rahmen knackte. Das Ausatmen ging in einen kurzen, explosiven Schnarchlaut über. Das Bett gab einen kurzen Schmerzensschrei von sich und verstummte. Lang, lang, kurz, kurz, Pause. Jede Nacht derselbe Rhythmus.
Ich wartete eine der Pausen ab und zog Großtante die Decke weg. Das Schnarchen wurde zum Stakkato, das jäh abbrach, die Bettmusik zur Aufeinanderfolge sich überlagernder Dissonanzen. Der Rhythmus war gestört. Großtantes Ferse übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich aus. Einige Augenblicke hielt ich mich zurück. Dann konnte ich mich nicht mehr beherrschen und kitzelte den Fuß von der Ferse bis zu den Zehen.
„Aaah!"
„Tante?!"
„Spinnst du? Verdammter kleiner Hundesohn. Hast du heute nicht genug Schläge abbekommen? Glaub mir, ich kann auch noch..."
„Tut mir Leid, Tante, aber ich muss mit dir reden."
„Gib mir sofort meine Decke zurück, du Sohn eines versoffenen geilen Rüden und einer verblödeten läufigen Hündin."
Dieser Satz überraschte mich ein wenig. Großtantes Beschimpfungen fielen sonst knapper und phantasieloser aus. Dass sie meine Eltern nicht besonders mochte, wusste ich, aber dass ihre Abneigung sie zu solch poetischen Formulierungen inspirierte, war neu.
Einige Minuten später hatte sich Großtante mit meiner Hilfe aufgesetzt und den Rücken gegen die Wand gelehnt. Ich kniete neben ihr im Bett und massierte ihre Schultern.
„Fester, du Trottel", keuchte sie. „Das sind die Fettpolster einer Greisin und nicht die Schenkel einer Jungfrau."
„Ja, Tante."
„Was ich von dieser Geschichte halte, willst du also wissen?"
„Ja, Tante."
„Du willst wohl wissen, ob dein Vater immer schon einen miesen Charakter hatte, als Kind Katzen gequält und schwächeren Kindern ihre Wurstsemmeln weggenommen hat."
Ich nickte. „An Katzen habe ich nicht unbedingt gedacht", murmelte ich.
„Du weißt, dass dein Großvater deine Großmutter geschwängert hat und dann auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. Ich hoffe, der Sauhund ist irgendwo am Straßenrand krepiert. Dein Vater war ein Jahr alt, als deine Großmutter an TB gestorben ist. So kam das Kind zu mir und ich habe versucht, alles richtig zu machen, war sehr streng zu ihm, damit die Liederlichkeit seines Vaters in seinem Charakter nicht durchschlägt, habe ihm wenig zu trinken gegeben, damit er nicht zum Säufer wird, und ihn jeden Tag um sechs Uhr früh geweckt, damit er nicht zum Weichling und Hallodri verkommt. Hat alles nicht viel genützt. Brutal oder gemein ist er allerdings als Kind nie gewesen. Einen klugen Kopf hat er aber von seinen Vorfahren nicht geerbt. Von wem auch? Die Volksschule hat er mit Ach und Weh geschafft. Zweimal ist er sitzen geblieben. In der Fabrik hat er mit dem Biertrinken angefangen. Na ja, zumindest hat er nicht sein halbes Leben im Gefängnis verbringen müssen wie sein älterer Halbbruder. So gesehen ist es gut, dass sein krimineller Trieb sich zu einer Zeit gemeldet hat, als das Verbrechen zur Pflichterfüllung erklärt worden ist." ...
Leseprobe aus: Mein erster Mörder, S. 59ff