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2008-04-08 Und so lautet denn das 11. Gebot: Du musst den Staat lieben ... ... mehr als dich selbst und deinen Nächsten, auf dass er deine Existenz als Arbeitskraft garantiere. Eva Glawischnig an Günter Hager-Madun von der Plattform Volxabstimmung am 12.3.08: Danke für Dein Schreiben ... [Die Expertenanhörungen zum Reformvertrag von Lissabon] ... haben mich darin bestärkt, dass die positive Haltung der Grünen letztlich richtig ist. Wir gehen deswegen keinen Millimeter von unserer Ablehnung des EURATOM-Vertrages ab und werden auch weiterhin jede Aufrüstung oder gar eine Militärisierung der EU mit allen Mitteln bekämpfen. ... Vor hundert Jahren lautete der Vorwurf gegenüber den Sozialdemokrat/innen, sie wären „vaterlandslosen Gesellen", sie wären mit ihrer internationalistischen, pazifistischen Haltung gegenüber dem eigenen Staat Staatsfeinde, Verräter. Am 4. August 1914, am Beginn des 1. Weltkrieges, dann der Dammbruch: Die deutsche Sozialdemokratie stimmt den Kriegsanleihen zu und legitimiert dadurch die Kriegstreiberei. Die II. Internationale ist damit zerbrochen, das große Sterben in Europas Schützengräben beginnt. Zwar wäre der Krieg auch ohne die Zustimmung der damaligen Sozialdemokratie vom Zaun gebrochen worden, dann hätte es halt einen Staatsstreich gegeben, aber bemerkenswert ist dennoch der Umschwung der sozialdemokratischen Führung, der ein verheerendes Signal gegenüber der eigenen, seit Jahrzehnten auf Pazifismus eingeschworenen Basis darstellt.[1] Die Frage stellt sich: Warum? Warum haben die „vaterlandslosen Gesellen" zugestimmt, warum sind sie in den staatstragenden Konsens eingeschwenkt, warum die „Burgfriedenspolitik"? 9 Jahrzehnte später haben wir eine Situation, die bei allen Unterschieden [2] doch gewisse Parallelen aufweist: Mit den Grünen stimmt wieder eine Gruppe, die sich in ihrer ganzen weltanschaulichen Herkunft als antimilitaristisch - friedlich - global orientiert versteht, einer Entwicklung zu, die ganz offensichtlich gegen ihre Grundsätze gerichtet ist: Erweitern wir die Fragestellung auf die sozialdemokratischen Gewerkschafter/innen: Im Beitrag Gewerkschaften: Aufwachen hat Gerald Oberansmayr beschrieben, welche Entwicklung die EU hinsichtlich Lohndumping und des Verbots von Streiks nimmt. Dies alles im Namen des zentralen EU-Paradigmas einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb", eine Formulierung, die durch den Reformvertrag noch einmal in „härtesten politischen Beton" gegossen wird, wie es Oberansmayr formuliert. Und auch hier: Kaum ein Widerspruch von Seiten der Gewerkschaften, kein Aufschrei ... Warum also unternehmen diese Großgruppen nicht nur nichts gegen die Festschreibungen des Gegenteils dessen, was sie wollen, sondern unterstützen diese Prozesse sogar noch? Sind Kategorien wie Anpassung, Verrat, ... passende Beschreibungen [3] oder liegt das Problem nicht doch tiefer? Die Grünen sind ja noch immer nicht für die Atomkraft, die Gewerkschaften nicht für Lohn- und Sozialdumping? Oder gibt es eine innere Logik? Meine These ist, dass die Erklärung in der Funktionsweise kapitalistischer Systeme und im damit verbundenen „STAATS-WESEN" selbst liegt, wobei die EU durchaus als ein solcher Staat zu sehen ist: Weil der Kapitalismus, also das System des Marktes bzw. der Akkumulation von Wert nicht aus sich selbst heraus funktionieren kann, bedarf er der ergänzenden Sphäre des Staates: Diese Sphäre muss den Kapitalismus durch ein Rechtssystem, das auch durchsetzungsfähig ist, garantieren (Gewaltmonopol!); der Staat muss dort, wo der Markt nicht dafür sorgt, Funktionen bereitstellen (Infrastruktur); um einen gewissen sozialen Zusammenhalt zu garantieren, bedarf es einer minimalen Umverteilung; es bedarf der Verteidigung von Einflusssphären gegenüber anderen Staaten (Militär) .... Und um all dies zu finanzieren, um handlungsfähig zu sein, muss eben ein Teil der Überschüsse aus der Sphäre des Marktes abgeschöpft werden (Steuern, Abgaben). Dies vor allem anderen für das Funktionieren der Sphäre des Kapitals, für sein maximales Wachstum. Wahrlich keine leichte Aufgabe, denn einerseits soll der Staat perfekt funktionieren, andererseits soll er – wer hätte sich's gedacht – möglichst nicht die Kapitalakkumulation beeinträchtigen, sprich: nichts kosten! Der Punkt nun ist, dass alle, die im Kapitalismus leben, ob es ihnen passt oder nicht, ob sie nun Fans des Systems, systemkonforme Opposition oder Fundamentalkritiker/innen sind, Teil des Systems und damit auf sein Funktionieren angewiesen sind. Ganz im perversen Sinn des Spruches: Es ist schlimm, ausgebeutet zu werden, aber es ist noch schlimmer, nicht ausgebeutet zu werden. Und daher gilt auch für die politische Herrschaft: Es ist schlimm, über sich die politische Herrschaft zu haben, aber es ist noch schlimmer, wenn niemand da ist, der die Sphäre der Ausbeutung reguliert und am laufen hält. Das hat auch für die Arbeiterklasse vor dem 1. Weltkrieg gegolten. Denn wie ja schon der Name sagt, sie besteht ja aus Arbeiter/innen, also Lohn-ABHÄNGIGEN ... Aus diesem Dilemma gibt es keinen einfachen Ausweg, vielmehr muss man mit der gesamten Logik brechen, muss gegen seine unmittelbaren Interessen handeln und statt die Maschinerie zu ölen Sand in ihr Getriebe streuen. Um aber mit der Logik BEWUSST brechen zu können, muss man sich vorher der Vertraktheit der Situation bewusst werden: Dass der Kapitalismus sich nicht reduzieren lässt auf die Ausbeutung durch etwas Anderes / Fremdes (der Kapitalistenklasse), sondern dass man als Verkäufer/in der Ware Arbeitskraft auch Teil des Systems ist, so wie die „bösen" Kapitalist/innen. Und dass man daher auch Teil des Staates mit all seinen militaristischen, repressiven Grundstrukturen ist: In diesem Sinne sind wir tatsächlich auch der Staat. Dies gilt umso mehr, als (verständlicherweise) die Sozialdemokratie begann, auch noch Sozialreformen vom Staat einzufordern: Umso geölter musste dieser funktionieren, auf eine umso größere und boomendere "VOLKS [!]-Wirtschaft" musste er zurückgreifen können. Heute in Zeiten der globalisierten Konkurrenz, in Zeiten, in denen der Nationalstaat für diese nicht mehr reicht, muss das Alte erweitert, fusioniert und neu geordnet werden: Die EU als neuer Staat muss her samt neuem ideologischen Überbau: Der neue Nationalismus heißt Europäertum. Und dieser neue Staat muss zuallererst einmal eines: Er muss funktionieren, er muss seine primären Verpflichtungen, nämlich die Kapitalakkumulation und damit in weiterer Folge das System der Erwerbsarbeit, der Steuern etc. zu garantieren, nachkommen können. Handlungsfähigkeit heißt das Zauberwort, zu dem die sozialdemokratischen Reste der Arbeiterbewegung wie die Grünen (sofern sie regierungsfähig sind) stehen wie selbstverständlich die rechte politische Hälfte. Demokratische Ansprüche, ökologische und soziale Reformen sind da hintanzuhalten. Das ist der kategorische Imperativ der politischen Logik. KRITIK statt masochistische Unterwerfung Die Gewalt der kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten und der damit verbundenen weltanschaulichen Verarbeitungen zeigt sich in geradezu laborhafter Klarheit am Beispiel der EU-Verfassung (auch wenn sie nur mehr EU-Reformvertrag heißt, aber als etwas, das über den Verfassungen der einzelnen Mitgliedsstaaten steht, ist sie eine Verfassung): Während üblicherweise Verfassungen nur die Prinzipien, wie in der politischen Sphäre des Systems Entscheidungen zustande kommen, festschreiben, legt die EU-Verfassung bereits die Inhalte fest:
Das alles ist nicht nur mit friedens-, umwelt- und sozialenpolitischen Grundsätzen unvereinbar, sondern auch mit den Grundsätzen jeder BÜRGERLICHEN Demokratie! Wer nicht für Aufrüstung ist, wer nicht für den Neoliberalismus eintritt, ist ab jetzt außerhalb des Verfassungsbogens! Und während die Grünen noch vor knapp eineineinhalb Jahrzehnten aus guten Gründen gegen den EU-Beitritt waren (auch wenn damals noch gar nicht alle Folgen so klar absehbar waren), so hat sie inzwischen die Systemlogik aufgesaugt. Resüme: Die mehr oder weniger (im Falle der EU weniger) demokratisch abgesegnete Herrschaft über sich als Notwendigkeit oder gar als Befreiung zu erleben, diese masochistische Liebe zum Staat ist nur möglich auf Basis eines Systems, das die Menschen und ihre Produkte als Waren gegeneinander antreten lässt. Wer das als unveränderbare oder gar natürliche Ordnung sieht, für den ist der Staat konsequenterweise ein zivilisatorischer Fortschritt. An diesem Punkt unterscheiden sich übrigens auch viele EU-Kritiker/innen nicht von den EU-Befürworter/innen, nur dass erstere sich halt auf den traditionellen Staatsrahmen beziehen. Diese prinzipielle Liebe zum Staat ist wie gesagt kein Verrat, hat gar nicht so viel mit Klasseninteressen zu tun (die spielen dann erst im Detail eine Rolle), ja diese Liebe zum Staat ist die richtige Konsequenz unter der Bedingung der Aufrechterhaltung des falschen Ganzen.[5] Diese ideologische Suppe hieß in Zeiten des 1. Weltkrieges Burgfriedenspolitik, heute nennt man sie Regierungsfähigkeit. Wie gesagt: Diese Konsequenz ist richtig nur unter der Bedingung, dass ausgeblendet wird, was sich schon seit Jahrzehnten abzeichnet: dass der Traum vom Interessensausgleich IM System ausgeträumt ist, dass ein unabdingbar auf Wachstum basierendes System bereits heute seine äußeren Grenzen überschritten hat, ... Wenn man aber diese grundsätzlichen Systemwidersprüche ernst nimmt, dann stellen sich einige Fragen und Aufgaben anders: Dann geht es als Voraussetzung für ein anderes Zusammenleben zunächst einmal um KRITIK: Damit ist kein Herumkritisieren im Sinne von Herumnörgeln gemeint, sondern ein Hinterfragen der Grundkategorien, in denen wir leben (Markt, Staat, Entwicklung, Konkurrenz, Bedürfnisse, Arbeit, ... bis hin zu Glück, Zeit ...). Das ist eine ziemliche Aufgabe, denn die sind uns so „in Fleisch und Blut übergegangen", dass wir ihre gesellschaftliche Bedingtheit gar nicht mehr so leicht erkennen können. Und weil man ja im Hier und Jetzt lebt und man immer Position bezieht, sollte man sich halt bei jeder Handlung die Frage stellen: Will ich „die große Maschine" am Laufen halten oder will ich Sand im Getriebe sein? . Zum Weiterlesen Allgemein zu den Funktionen des Staates: Der Staat - das unbekannte Wesen Speziell zum sogenannten EU-Reformertrag: Alter Brief im neuen Umschlag . Anmerkungen [1]FISCHER, Fritz: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Athenäum-Verlag (Königstein/Ts. 1979). Der Historiker Fritz Fischer hat bereits in den 60erJahren insbesondere die deutsche Seite untersucht und für diese die Sicht, dass man einfach in den Krieg hineingeschlittert sei, als Mär entlarvt. In Österreich-Ungarn war ohnehin seit März 1914 der Reichstag ausgeschaltet, weswegen der österreichischen Sozialdemokratie diese Form der offenen Zustimmung zum Kriegskurs erspart blieb. [2] Es ist angesichts der krisenhaften Entwicklung des Kapitalismus fraglich, ob es wieder so starke Staaten geben wird oder ob wir es nicht mit einer Erosion des Gesamtsystems zu tun haben. So überfordert bereits die Befriedung des Irak die USA ökonomisch. [3]Hautmann und Kropf etwa nennen für die österreichische Solzialdemokratie die Bürokratisierung der Partei, vgl. HAUTMANN, Hans / KROPF, Rudolf: Die österreichische Arbeiterbewegung vomVormärz bis 1945. Sozialökonomische Ursprünge ihrer Ideologie und Politik. (Wien, München, Zürich 1978, 3. Aufl.), S. 115ff [4]ATTAC-Stuttgart / ÖKUMENISCHES NETZ WÜRTTEMBERG: Alter Brief in neuem Umschlag. Broschüre, S.8
[5]Zu Ideologie und gesellschaftlichen Verhältnissen allgemein und zum Staatsfetisch im besonderen: GRIGAT, Stephan: Fetisch und Freiheit. ca-ira-Verlag, Freiburg 2007. ISBN 3-924627-89-4
Al.Dvo, 2011-12-12, Nr. 5438 UND nun Peter Pilz von den Grünen:
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