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2007-08-16 Brasilien zwischen Agrarreform und Ethanolrausch
Im Juni 2007 nahm ich auf Einladung der brasilianischen Landlosenbewegung - MST – an deren V. Kongress in Brasilia teil. Bei der Gelegenheit informierte ich mich über aktuelle Entwicklungen im Zusammenhang mit Agrotreibstoffen (die bei uns FÄLSCHLICHERWEISE Biotreibstoffe genannt werden) und besuchte traditionelle und neue Zuckerrohranbaugebiete. Dabei habe ich viele „Experten“ getroffen, von denen nie zu hören ist, weil sie zur stummen Masse der Armen gehören, die aber stark von den Auswirkungen der Agrotreibstoffproduktion betroffen sind. Der Bericht ist ein Versuch, die Sichtweise der Armen zu vermitteln. „Bringt die Produktion von Agrotreibstoffen wirklich eine Lösung für die Klimakrise und eine Verbesserung für uns Arme, wie die Politiker und die Agrokonzerne behaupten?“ Der brasilianische Bauer José Antonio Rosa (60) erwartet keine Antwort von mir, er glaubt solchen Versprechen schon lange nicht mehr. „Das ist Geschwätz, damit die Ochsen weiterschlafen“, erinnert er an ein brasilianisches Sprichwort. Mit seiner Frau Eni hat er etwa 20 ha Land urbar gemacht, sie halten Rinder, Schweine und Hühner und produzieren Reis, Bohnen, Mais und andere Nahrungsmittel, die sie in der Stadt verkaufen. Gemeinsam mit 25 anderen Familien bilden sie die Ortschaft Barreirinho im Munizip Ipiranga, etwa 300 km nordwestlich von Brasilia. Seit 2 Jahren beobachten sie besorgt, wie die Zuckerrohrplantagen rundherum wachsen und die Bauernhöfe einkreisen. „In Brasilien kann kein Armer in Frieden leben, wenn die Reichen große Gewinne wittern“, fasst er die bittere Erfahrung vieler zusammen. In den Radionachrichten dieses 18. Juni 2007 wurden Delegationen aus den USA und Verhandlungen mit der EU angekündigt, die das Produktionsprogramm für Agrotreibstoffe beschleunigen sollen. Investitionen in Milliardenhöhe werden Tausende von Arbeitsplätzen schaffen und die Exporterlöse ganz Brasilien von der Armut befreien, erklären Spezialisten. „Diese technoburrocratas wissen sehr viel und verstehen so wenig“, kommentiert Dona Eni, während sie Reis und Bohnen auf den Tisch stellt, und betont den Wortteil „burro“ (Maulesel) besonders. „In unserer Nachbarschaft haben bereits 6 Familien ihr Land an die usina (großes Unternehmen, das Zuckerrohrplantagen anlegt, um Ethanol und Zucker zu erzeugen) verkauft oder verpachtet und sind in die Stadt gezogen. Sie haben es schon bereut, denn der Mann verdient in der usina nicht genug, um die Familie zu erhalten, aber sie können nicht mehr zurück.“ Für die verbliebenen Bauernfamilien wird das Leben schwieriger: „Die usina bringt mit Flugzeugen Pflanzen- und Insektengifte aus, das der Wind bis in unsere Gärten treibt, wo es unser Essen, unsere Tiere und uns selbst vergiftet. Mit Planierraupen schütten sie Quellen und Bächlein zu, die für Wild und Haustiere als Tränke dienten. Fast täglich zünden sie während der mehrmonatigen Erntezeit Flächen von dutzenden Hektar an, um die trockenen scharfkantigen Blätter wegzubringen. Dann regnet es Asche und die Wäsche, die wir mühselig mit der Hand waschen, wird noch vor dem Trocknen wieder schmutzig. Das Feuer erfasst auch geschützte Waldstücke und vernichtet die wilden Tiere, die für uns eine wichtige Fleischquelle sind. Dazu kommt noch der Staub von den Erdstrassen und Feldern, der durch die LKW´s und Traktoren aufgewirbelt wird. Allergien und Atemwegserkrankungen nehmen während der Zuckerrohrernte stark zu, besonders bei den Kindern.“ Ihren Mut und Kampfgeist haben sie auch im Alter beibehalten. „Wir haben uns der MPA (Bewegung der Kleinbauern) angeschlossen, die sich bereits in vielen Teilen Brasiliens für eine familiäre und biologische Landwirtschaft einsetzt. Nur wenn wir Bauern zusammenhalten und uns gegenseitig unterstützen haben wir eine Chance, uns gegen die usina zu wehren.“ Beim Abschied zeigen sie mir einen Berg Maiskolben hinter dem Haus: „Von Monsanto und anderen Gentechnikkonzernen haben wir uns schon unabhängig gemacht und produzieren wieder unseren eigenen uralten Maissamen.“ „Komm“, sagt meine Begleiterin Sandra, eine junge engagierte Frau vom MPA, und schwingt sich hinter das Lenkrad ihres alten VW-Golf, „wir fahren durch die Zuckerrohrplantagen bis zur usina.“ „Werden wir da keine Probleme bekommen?“, frage ich und zeige auf die etwa 10 Meter hohen Wachttürme auf den Hügelkuppen. „Die achten mehr darauf, dass keine unkontrollierten Brände entstehen. Nur wenn jemand mit den Arbeitern spricht oder fotografiert, verständigen sie den Wachdienst.“ Über 20 km fahren wir wie in einer grünen Schlucht dahin, ab und zu kommen wir an einem geernteten Stück vorbei, wo die jungen Triebe wieder ausschlagen. Plötzlich spüre ich einen ekelig penetranten Gestank in der Luft. „Das ist vinhoto, der bleibt nach der Destillation zurück und wird verdünnt auf die Felder ausgebracht. Die Techniker behaupten, das sei kein Problem, aber die langfristigen Folgen auf die Böden und das Grundwasser sind nicht abschätzbar.“ In einer Senke sehen wir einige Dutzend schwarz vermummte Gestalten, die mit flinken Hieben eines etwa halben Meter langen Erntemessers die drei bis vier Meter langen Zuckerrohrstängel kurz über dem Boden abhacken und in Reihen ablegen. Nachdem wir keine Aufseher erkennen können (wahrscheinlich haben sie sich vor der Hitze in irgendeinen Schatten geflüchtet) bleibt Sandra stehen und fragt einen jungen Burschen, wie es mit der Arbeit gehe. „Verdammt harter Job“, meint der wortkarg. Und die Bezahlung? Schlecht, gerade mal 20,00 Reais pro Tag (€ 8,00), aber sie hätten zumindest einen Arbeitsvertrag. Wie viel für Unterkunft, Verpflegung, Transport, Arbeitskleidung und Werkzeuge abgerechnet wird, weiß er nicht. Er wäre erst vor einer Woche als Wanderarbeiter aus dem weit entfernten Nordosten gekommen und hofft, dass am Ende noch was übrig bleibt. Während des Gesprächs habe ich meine kleine Kamera unauffällig eingeschaltet und mache Fotos aus der Hüfte, um kein Misstrauen zu erregen. Auf der Weiterfahrt berichtet Sandra, dass das Arbeitsinspektorat erst vor einigen Monaten Sklavenarbeit in dem Betrieb angezeigt hat. Nach Schätzungen arbeiten einige zigtausend Menschen unter sklavenähnlichen Bedingungen, was unglaublich erscheint, denn schon die „normalen“ Arbeitsumstände sind hart – bis zu 14 Arbeitsstunden in sengender Hitze sind oft notwendig, um die vorgeschriebene Mindestmenge von 12 t Zuckerrohr/Tag zu ernten. Zum Schutz vor den scharfen Blatträndern muss der ganze Körper bedeckt und in Gummistiefeln gearbeitet werden, in denen sich der Schweiß sammelt. Während der letzten Erntezeit gab es über 500 tödliche Arbeitsunfälle in den usinas, etliche davon aufgrund von Erschöpfung. Es ist absurd, aber die Lebenserwartung eines Plantagenarbeiters ist heute geringer als die der Sklaven, die durchschnittlich 20 Jahre arbeiteten. Etwa eine Million Arbeitsplätze gibt es in dem Sektor, 511 Tausend davon in den Plantagen. 80 % des Zuckerrohrs werden händisch geerntet. Warum die Leute solche Jobs nehmen? Die armen Familien verschulden sich rasch bei Krankheiten oder auch nur um Essen zu kaufen, dann müssen sie jede Art von Arbeit annehmen und das nützen die Unternehmer aus. Von weitem sehen wir die usina, aus deren Schloten Rauch quillt. Bei der Einfahrt stehen schwer beladene LKW´s mit jeweils 2 großen Anhängern. Riesige Kräne hieven das Zuckerrohr dann in die Pressen. Neben der Destillerie befindet sich ein großes Tanklager, wo die Tankzüge befüllt werden, die im Viertelstundenrhythmus durch die Ausfahrt rollen. Zukünftig sollen sie nicht nur den Energiehunger der Autofahrer Brasiliens, sondern auch weiter Teile der Welt stillen. Sklavenarbeit ist auch ein Thema beim freundschaftlichen Wiedersehen mit Marina da Silva, der angesehenen Umweltministerin aus Acre, (wo wir bis 1988 gemeinsam gearbeitet haben), sonntagabends in ihrer verhältnismäßig bescheidenen Dienstwohnung. Vor fast 30 Jahren wurden wir zu Freunden – sie kam damals aus dem Regenwald, wo sie ihr Leben als Kautschukzapferin aufgeben musste, und arbeitete als Hausmädchen, studierte am Abend und wollte Ordensschwester werden. „Chriselda und du seid mitschuldig daran, dass ich heute Politikerin und nicht Nonne bin. Euer CPT-Treffen über die Waldzerstörung und die Rechte der Kautschukzapfer, zu dem ihr mich eingeladen habt und wo ich den Chico Mendes kennen gelernt habe, war die Wende meines Lebens. Das werde ich nie vergessen!“ (Zur Erklärung: CPT – Comissão Pastoral da Terra (Kommission der Landpastoral) ist eine ökumenische Organisation zum Schutz der Menschenrechte und der Umwelt, die 1991 den Alternativen Nobelpreis für ihren Einsatz erhielt.) Die Sklavenarbeit ist ein Erbe der kolonialen Vergangenheit und besteht weiter durch die aktuelle Form der Globalisierung, deren Kernelement die Ausbeutung der Menschen und der Natur zur Gewinnmaximierung ist. Nur wenn sich das ändert, können ausbeuterische Beziehungen jeglicher Art reduziert werden, sind wir uns einig. Aus den Äußerungen Marinas entnehme ich, dass ihr manche europäische Verhandlungspartner den Eindruck vermitteln, dass sie die Existenz von Sklavenarbeit in Brasilien nur als Vorwand für die Beibehaltung protektionistischer Maßnahmen anführen und kein reales Interesse haben, zu ihrer Beendigung beizutragen. Am Vorabend ist sie von einem Ministertreffen in Schweden zur Vorbereitung der nächsten Klimakonferenz zurückgekommen und erzählt von den schwierigen Verhandlungen. Dass sie noch im Amt ist, hat sie ihrem Engagement und ihrer Glaubwürdigkeit zu verdanken, denn den mächtigen Interessen beispielsweise der Energiewirtschaft und der Gentechnik ist sie schon lange ein Dorn im Auge. Derzeit sind drei große Staudämme in Amazonien geplant und die Konzerne machen Druck, mit dem Bau zu beginnen. Straßenbauten sollen den Export von Soja und Agrotreibstoffen über den Amazonas ermöglichen, weil der Transportweg auf den meist schlechten Strassen bis zu den Häfen an der Ostküste bis 2000 km beträgt und damit kostspielig und klimaschädlich ist. Intern kämpft sie mit einem Korruptionsskandal in der Waldschutzbehörde, bei dem für illegal geschlägertes Tropenholz gefälschte Lizenzen ausgestellt wurden. Dass die zierliche Frau bisher standgehalten hat, ist zu bewundern, ohne sie wäre Umwelt- und Klimaschutz in dem aufstrebenden Land vermutlich noch schwieriger umzusetzen. Agrarreform für soziale Gerechtigkeit Brasilia erlebte vom 11. – 15. Juni den 5. Kongress des MST – Movimento dos Sem Terra (Landlosenbewegung), an dem fast 18.000 Delegierte aus allen Teilen Brasiliens teilnahmen, darunter auch einige Hundert Kinder. Die Leute kamen in Bussen und brachten Matratzen, Kochtöpfe und Lebensmittel mit. Neben einem Handballstadion, das als Versammlungsort diente, errichteten sie innerhalb weniger Stunden eine gut organisierte Zeltstadt mit Küchen, sanitären Anlagen, Ambulanz, Sicherheitsdienst, Verkaufsstellen regionaler Produkte usw., selbst ein Kindergarten und eine Schule wurden eingerichtet. Die MST wurde 1984 gegründet, umfasst weit über eine Million Mitglieder und ist damit eine der wichtigsten sozialen Bewegungen Brasiliens. Sie fordert vor allem eine tief greifende Agrarreform, die einerseits die extrem ungerechte Landverteilung (weniger als 1% der Eigentümer besitzen über 43% des Bodens, während 4,8 Mio. LandarbeiterInnen kein eigenes Land besitzen) beendet und andererseits eine neue Agrarpolitik, die die Ernährung der Bevölkerung sicherstellt, eine biologische und bäuerliche Landwirtschaft fördert und den Erhalt der Ökosysteme garantiert, und nicht vorrangig eine exportorientierte Agrarproduktion auf der Basis von umweltzerstörerischen Monokulturen und Technologien zum Ziel hat. Unter dem Titel „Agrarreform für soziale Gerechtigkeit und die Souveränität des Volkes“ wurden die Agrarpolitik der Regierung und weltweite Entwicklungen, vor allem im Bereich der Agrotreibstoffe, diskutiert und die eigenen Ziele und Vorschläge vorgestellt. Der Kongress war der Schlusspunkt eines mehrmonatigen Diskussionsprozesses in tausenden von Basisgruppen. Die Stimmung war recht feierlich, denn obwohl in den vergangenen Jahren Hunderte von Frauen und Männern durch die Gewalt der Großgrundbesitzer ihr Leben verloren haben und Tausende von ihnen verwundet und eingesperrt wurden, ist es ihnen gelungen, Land zu erobern, auf dem sie gemeinschaftlich leben und arbeiten können. „Diese assentamentos (Siedlungen) sind Orte der Hoffnung für die Millionen Armen und Ausgeschlossenen von der kapitalistischen Welt“, betonte der Bischof Tomas Balduino, „Hier erhalten sie ihre Würde als Menschen und Kinder Gottes zurück! Auch das Land wird befreit, denn es dient nicht mehr der Geschäftemacherei sondern dem Erhalt des Lebens – und das ist auch der Wille Gottes!“ Tief bewegt lauschten wir der 82-jährigen Bäuerin Elisabeth Teixeira: „Nie habe ich ein eigenes Stück Land besessen, immer nur für die Reichen geschuftet. Seit meiner Jugend habe ich für eine Agrarreform gekämpft, wurde eingesperrt und gefoltert, während der Militärdiktatur musste ich im Untergrund leben – aber ich habe nie aufgegeben!“ Mit beeindruckender Kraft und Lebensenergie spornt sie alle an: „Ich möchte noch die Agrarreform erleben, damit diese himmelschreiende Ungerechtigkeit ein Ende hat und unsere Kinder ein Leben führen können, das diesen Namen auch verdient!“ Joao Pedro Stedile, einer der Sprecher der MST, dessen Vorfahren aus Sterzing nach Brasilien ausgewandert sind, fasst mich an der Schulter: „João, als du uns 1983 bei dem 1. Landlosentreffen in Südbrasilien über die schwierige Situation in Amazonien erzählt hast, da haben viele begriffen, das wir uns dort keine bessere Zukunft erwarten können und daher an unserem Ort um die Verteilung brachliegender Ländereien kämpfen müssen!“ Ein Jahr später haben sie die MST gegründet: Eine Handvoll armer Bäuerinnen und Bauern, die niemand ernst genommen hat, weil sie weder Mittel noch Macht hatten, nur den Entschluss, für die eigenen Rechte zu kämpfen und nicht mehr auf die Hilfe anderer zu warten. Inzwischen werden sie respektiert, aber auch von den „Agrounternehmern“ bekämpft und verleumdet, unter anderem mit Hilfe der großen Medien, die von dem Kongress kaum berichtet haben. Es gibt aber auch viel Unterstützung – 300 internationale Delegierte aus allen Kontinenten nahmen teil und etwa 30 Politiker, darunter Gouverneure, Senatoren und Nationalratsabgeordnete, folgten der Einladung zur Diskussion. „Ändern wird sich erst wirklich etwas, wenn wir nicht mehr zulassen, dass sich eine Minderheit auf Kosten der Mehrheit und der Natur schamlos bereichert. Wir wollen eine demokratische Globalisierung, die die Rechte der Armen respektiert!“, fasst mein Sitznachbar die Debatten zusammen. Ribeirão Preto – Hauptstadt des Agrobusiness Mit dieser Aufschrift auf den Plakatwänden neben den Hauptstraßen empfängt die Metropole des Zuckerrohranbaus, 300 km nördlich von São Paulo gelegen, ihre Besucher. Auf den 700 km Busfahrt von Brasilia hierher durchquerten wir fast nur mehr Zuckerrohr- und Sojaplantagen, gelegentlich unterbrochen von Eukalyptuswäldern und Rinderweiden. Wöchentlich kommen hier ausländische Delegationen an – Regierungsleute, Techniker und Investoren aus aller Welt, um von der 30-jährigen Erfahrung in der Ethanolproduktion zu profitieren. Besucher und Besuchte schwelgen in der Begeisterung über die zukünftigen Geschäfte, Umwelt und Klimaschutz sind kaum mehr als rhetorisches Beiwerk. Früher lebten fast nur Kleinbauern in der Region, heute gehört das Land hauptsächlich 6 Familien, die 20 usinas betreiben. Die Monotonie der Plantagen wird nur durch einige Waldreste auf Hügelkuppen und nicht mechanisierbaren Lagen unterbrochen. Und auch noch von drei „Assentamentos“ des MST, dem es gelungen ist, dem Großgrundbesitz etwas Land abzuringen. Im Assentamento „Sepé Tiarajú“ leben seit 5 Jahren 80 Familien, das Land gehört allen gemeinsam, aber jede Familie bewirtschaftet ihren Teil für sich. Wöchentlich liefern sie bis zu 17 t Bio-Lebensmittel in die Stadt. Im Assentamento „Mario Lago“ leben 325 Familien auf 1780 ha. Jede Familie bearbeitet 2,5 ha für sich, der Rest sind Gemeinschaftsflächen. 2003 besetzten sie das Land, das einer Bank als ungenütztes Spekulationsobjekt diente, zum ersten Mal, wurden vertrieben und kamen wieder. Erst Anfang dieses Jahres übergab ihnen die Regierung den Besitz. Mit großen Anstrengungen bestellen sie die Felder und verbessern langsam ihre provisorischen Hütten, keiner klagt über die prekären Bedingungen. „Hier geht es uns gut, wir haben genug zu essen und unsere Kinder werden eine bessere Zukunft haben“, erklärt mir eine sichtlich zufriedene Bäuerin. Unter anderem produzieren sie auch Zuckerrohr auf kleinen Feldern. „Vielleicht werden wir zukünftig auch eine kleine Ethanolanlage installieren“, erklärt mir der Produktionskoordinator Edi, der seinen früheren Job durch die Eisenbahnprivatisierung verloren hat. „Dann können wir zumindest einen Teil unseres Treibstoffs selbst produzieren.“ Biotreibstoffe, die ihrem Namen auch gerecht werden Positive Erfahrungen mit kleinen Destillieranlagen gibt es bereits. In Ponte Nove und Guaraciaba (Bundesstaat Minas Gerais) produzieren kleine und mittlere Betriebe neben Lebensmitteln auch Zuckerrohr, das in einer Anlage mit 300 Liter Tagesleistung zu Ethanol verarbeitet wird. Die Produktivität ist mit 70 t/ha, das ergibt 4.200 l Ethanol/ha, überdurchschnittlich gut. Andere Vorteile neben der Vermeidung der Monokultur sind kurze Transportwege, die Verwertung aller Nebenprodukte als Futtermittel, Dünger und Brennstoff, Schaffung von Arbeitsplätzen, Einkommenssteigerung für die bäuerlichen Familien u.a.m. Ein weiteres Beispiel ist die COOPERBIO – ein Genossenschaft von kleinen und mittleren Bauernhöfen in Palmeira das Missões (Bundesstaat Rio Grande do Sul), die im September 2005 gegründet wurde, um Ethanol und Biodiesel zu produzieren. In diesem Fall ist das „Bio“ gerechtfertigt, denn die rund 30.000 Mitglieder arbeiten nach sozialen und ökologischen Kriterien. Ohne die Produktion von Nahrungsmitteln zu vernachlässigen, werden Zuckerrohr in Mischkultur mit Bohnen sowie Ölpflanzen angebaut. Die Bauern kontrollieren den gesamten Prozess (hervorgehoben durch die Redaktion!) und bleiben unabhängig von den Agrokonzernen. Alle Nebenprodukte werden in die Produktionsketten eingegliedert, wie z.B. der Ölpresskuchen als Futtermittel. Bodenqualität und Wasserhaushalt bleiben erhalten. Im Rahmen eines Abkommens mit dem brasilianischen Erdölunternehmen PETROBRAS wurden 9 kleine Destillieranlagen (500 l/Tag) dezentral installiert, weiters ist die Errichtung einer Biodieselproduktionsanlage mit einer Kapazität von 400.000 l/Tag geplant. Ähnliche Genossenschaften wurden inzwischen auch in anderen Teilen Brasiliens gegründet. Die Förderungen dieser Initiativen durch brasilianische Regierungsstellen sind bisher aber nur Brösel von dem Kuchen, den die agroindustrielle Großproduktion erhält. Die Anbaufläche für Zuckerrohr soll von dzt. etwa 6,2 Mio. ha bis 2012 auf über 9 Mio. ha gesteigert werden. 2005 wurden 14,5 Mrd. l Ethanol produziert, 2 Mrd. l gingen davon in den Export, der aber zukünftig kräftig wachsen wird. Bis 2012 sollte Brasilien laut Prognosen daher doppelt soviel Alkohol produzieren und zusätzlich noch 44% mehr Zucker. Die bestehenden 334 usinas werden weiter ausgebaut, 58 neue installiert und weitere sind in Planung. Diese wenigen Zahlen lassen schon erahnen, dass es um Geschäfte in Milliardenhöhe geht und dementsprechend agieren Konzerne, Banken und Investmentfonds, um sich einen möglichst großen Anteil zu sichern. Einen interessanten Vorschlag gibt es seitens der Regierung Lula – das Programm zur Biodieselproduktion von 2005 führte zur Förderung der familiären Landwirtschaft den „Combustível Social“ (Sozialtreibstoff) ein. Pflanzenöl aus familiärer Produktion sollte mit diesem Zertifikat versehen werden und ganz oder teilweise von Steuern befreit sein. Den Bauern werden Mindestpreise und technische Beratung garantiert und alle Unternehmen, die Biodiesel vermarkten, müssten einen gewissen Prozentsatz an „combustível social“ kaufen. Dieser Teil des Programms wird aber bisher sehr schleppend bis gar nicht umgesetzt. Aber es gibt auch andere Probleme – um die nationale und internationale Biodieselnachfrage zu stillen sollten laut Agrarministerium (2005) bis 2035 insgesamt 900 Anlagen mit einer Jahresproduktion von je 100 Mio. Litern Pflanzenöl in Betrieb gehen. Der Ölertrag sollte von derzeit 500 kg/ha auf 5 t/ha gesteigert werden und in diesem Fall wäre eine Ausdehnung der Anbauflächen für Ölpflanzen um 20 Mio. ha notwendig. Dafür müssten aber statt Soja andere Pflanzen mit weitaus höheren Ölgehalt zum Einsatz kommen, wie z.B. Erdnüsse, Rizinus, Ölpalmen, Sonnenblumen u.a.m.. Doch die Agrounternehmen und auch die Regierung bevorzugen aus verschiedenen Gründen Soja. Das bedeutet, dass diese Monokultur eine weitaus größere Fläche besetzen wird und dafür ist vor allem der Cerrado geeignet, aber auch Teile Amazoniens. In manchen Regionen sind die Bodenpreise schon um bis zu 100% gestiegen, auch wegen der steigenden Nachfrage aus dem Ausland, und das übt gemeinsam mit anderen Faktoren Druck auf die Kleinbauern aus, die früher oder später verdrängt werden. Dann ist zu erwarten, dass viele von ihnen versuchen werden, sich in Amazonien ein neues Stück Land anzueignen, um zu überleben. Die Agrotreibstoffproduktion wird damit direkt und indirekt zum Auslöser für die Zerstörung weiterer Savannen und Regenwaldgebiete. Unsicherheit besteht auch hinsichtlich der Auswirkungen auf die Produktion von Nahrungsmitteln, die zum überwiegenden Teil aus Klein- und Mittelbetrieben kommen. Während die Regierung kein Problem sieht, erwarten die sozialen Bewegungen, Kirchen, NGO´s u.a. eine Verknappung und Verteuerung der Lebensmittel. Alles andere wäre in der 500-jährigen Kolonialgeschichte eine Neuheit. Folgerungen Es ist daher dringend notwendig, die aktuellen Entwicklungen in Richtung Bioenergie nach sozialen und ökologischen Kriterien zu gestalten, um ein Desaster zu vermeiden. Das Forum Brasileiro de ONG´s e Movimentos Sociais – FBOMS hat dazu einen Katalog von Kriterien erarbeitet, den alle Programme und Projekte zur Agrotreibstoffproduktion erfüllen sollten, um eine soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu gewährleisten. (www.fboms.org.br) Die Priorität der biologischen Nahrungsmittelversorgung, der Erhalt der Biodiversität und die Respektierung der Arbeitsgesetzgebung stehen an vorderster Stelle. Genau genommen sollte das alles bereits eine internationale Selbstverständlichkeit sein und keiner Diskussion mehr bedürfen. Zumindest sollten ab sofort dieselben Mittel, die aufgebracht werden, um die Autotanks zu füllen, zur Lösung des Hungerproblems und zur Erreichung der anderen Milleniumsziele bereitgestellt werden! Möglich ist es, zur Durchsetzung braucht es nur etwas von der Hartnäckigkeit, der Ausdauer und der menschlichen Größe der brasilianischen Landlosen! Fragen an die Freunde in Brasilien So aufrüttelnd der Beitrag ist, so beunruhigt hat mich doch der letzte Teil, in denen eine positive Bewertung eines sozial und ökologischen verträglicheren Agrotreibstoffes durchklingt:
Mit solidarischen Grüßen, euer Walther Schütz (ÖIE-Kärnten / Bündnis für Eine Welt) Auf diese Fragen geht Hans Kandler im Beitrag Die Illusionen sind verflogen ... ein.
M.K., 2007-08-17, Nr. 3838 ...alles ein wahnsinn.
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