2007-06-13
Die Enterbung
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Dass Tante Rosa Jungfer blieb, verdankt sie freilich auch noch einem anderen Ereignis als dem Stecken unter der Decke des Pfarrers. Es steht dies im Zusammenhang mit dem unveredelten Wein, der zuweilen im Seewinkel gekeltert wird. Auf Veranden, über Einfahrten, in Laubengängen und an Zäunen des Seewinkels wuchert er, dieser wilde Wein. Auf der Veranda der beiden Tanten ranken sich die dunkelroten Reben mit hellgrünen Blättern an den Holzstäben empor, Wendeln sich bis zum Dach hinauf, überringeln und überbüscheln es mit kräftigem Gelaub, aus dem im Herbst ledrige Trauben herablugen. Wein aus solchen Trauben durfte seinerzeit nicht verkauft und an niemanden ausgeschenkt werden, der nicht dem Haus angehörte, denn der Wein aus solchen Trauben machte, wie es hieß, die Männer rabiat und die Frauen zuchtlos. Tante Martha behauptet, wenn einer davon trinke, bedürfe es zweier, um ihn festzuhalten, damit er nicht alles kurz und kleinschlage. Deshalb heiße jener Wein „Dreimännerwein", oder auch „Selbst- oder Direktträger", „Noah" und „Uhudler". Er habe viele Namen und Farben: hellrot, blaurot, violett und rosa, grünlich, gelblich, wasserklar und honigfarben, immer aber den Effekt, dass er die Leute zu dem mache, was sie wirklich seien. Ein Wein mit vielen Gesichtern also, der den Trinkern ein einziges, das echte und wahre eigene nämlich, verleihe. Natürlich sei der Selbstträger im Krieg emsig gefechst worden, weil die Winzerei im Argen gelegen sei und man halt oft nichts anderes gehabt habe. Selbst damals aber sei man mit dem Selbstträger höchst vorsichtig umgegangen, da man um seine fatale Wirkung gewusst habe.
Tante Rosa erzählte, sie habe sich in jener Zeit verlobt eigentlich um vor den Nachstellungen marodierender Soldaten und Besatzungsrussen geschützt zu sein und nicht nochmals zum Herrn Pfarrer unter die Decke kriechen zu müssen. Ihr Auserwählter war der Lehrersohn, ein Bursche, der zwanzig Dioptrien kurzsichtig gewesen sei, Senkfüße gehabt habe und daher dem Wehrmachtsdienst auf diesen Senkfüßen entgangen war. Ansonsten aber wäre er eine gute Partie gewesen, da könne man nichts dagegen sagen.
Das Sesseldorf war gerade befreit worden: dies bedeutete, dass der selbsternannte Bürgermeister anstelle einer schwarzen Fahne zuerst eine weiße und später eine rote von seinem Dachbodenfenster wehen ließ, dass man die eigenen Schweine nun auf russischen statt auf deutschen Befehl nicht abstechen durfte, dass solche, die immer für alles nun immer gegen alles gewesen waren, und jene, die tatsächlich dagegen gewesen waren, nun nicht wussten, wofür sie sein sollten. Die Befreiung bedeutete weiters, dass der Jungfernschaft der beiden Tanten Gefahr drohte. Da die Tante Rosa nicht für immer als Geliebte des Herrn Pfarrers gelten und mit ihm unter einer Decke stecken wollte, verlobte sie sich also mit dem Sohn des Lehrers. Um das Winzerhandwerk stand es in jener Zeit so schlecht, dass der Vater des Bräutigams bei der Verlobungsfeier goldgelben Selbstträger aus dem eigenen Garten ausschenken musste. Dazu gab es Einbrennsuppe, Brot, und mit Vorsicht und Bedacht verzehrtes Schweinefleisch aus verbotener Schlachtung, welches jeder Gast sofort unter dem Tisch oder in der Joppentasche verschwinden lassen würde, sollte sich ein Befreiungssoldat zeigen. (Bei einer anderen Gelegenheit ist der Tante Martha angeblich ein schlecht geschlachtetes Schwein ausgekommen, blutend, grunzend und torkelnd über die Dorfstraße gerannt, und einem russischen Korporal gewissermaßen in die Arme gelaufen. Nur; weil sich niemand im Dorf als Herr der Sau zu erkennen gab, entging man der Strafe, und bei der sowjetischen Befreiereinheit stand am Abend jenes Tages Schweinsbraten auf dem Speisezettel).
Das illegale Schweinemahl anlässlich der Verlobung Tante Rosas war für einige wenige männliche Glückspilze und für all die vielen Frauen das erste Fest seit Dollfuß, wie die Tanten erzählten, (während Du - ein an der Verwandtschaftsgeschichte desinteressierter Großneffe - im Garten auf Deinem Skateboard umherwedeltest, solcherart das Gras, die Salat- und die Blumenbeete malträtierend). Ja, es sei die erste Gelegenheit seit langem gewesen, wieder einmal unbeschwert zu trinken und - wenn auch scheu, hastig und mit gehetzter Miene - tüchtig zu essen. Vor dem ersten Gang - einer simplen Einbrennsuppe - spielte der Mesner die Zither und der Pfarrer das Akkordeon. „Oh, du mein Österreich", „Großer Gott, wir loben dich" und ein flottes Pusztatänzchen wurden geboten und mit großem Beifall bedacht. Dann sprach der Herr Pfarrer von der Güte und Weisheit des Herrgotts, der unser Land aus Feindesfessel befreit und das Reich Christi wiedererrichtet habe. Darauf wurde mit dem ersten Glas Selbstträger angestoßen. Der einzige, der den Wein verschmähte, war laut Tante Martha der Großvater Erwin. Er hatte geschworen, keinen Tropfen Alkohol anzurühren, ehe sein tüchtiger Bruder aus dem Krieg zurückgekehrt sei. Weil er mit dem tüchtigen Bruder wegen der Politik übers Kreuz war, hatte Großvater Erwin ein schlechtes Gewissen, fürchtete, sich versündigt zu haben, und wollte jedenfalls - wenn nötig bis zum Jüngsten Tag - in nüchternem Zustand ausharren, um sich dann mit dem Bruder versöhnen zu können.
Nach der Suppe sprach der Bürgermeister, der seiner Gemeinde den hurtigen Wechsel vom Dafür- zum Dagegensein vorgelebt hatte. Dass unser Land in schnöder Knechtschaft unterdrückt, von einem blutrünstigen Feind unterjocht und nun von tapferen Truppen befreit worden sei. Man ließ den Bürgermeister hochleben, froh, dass er - wie immer - die richtigen Worte wusste. Auch der Vater des Bräutigams meldete sich vor dem Schweinernen zu Wort. Er habe schon vor sieben Jahren prophezeit, welches Ende die tausend Jahre nehmen würden. Niemand konnte sich an jene Prophezeiung erinnern, aber jedem war sie recht. Der Prophet, sagt Tante Rosa, ist einer, der im Nachhinein schon alles von vornherein gewusst hat. Jenes prophezeite Ende, so sprach der Lehrer und Bräutigamsvater, stehe nun am Beginn eines neuen Anfangs, in einem neuen Vaterland, für das so viele unschuldig geblutet hätten. Beifall belohnte auch diesen Redner. Manch ein Zuhörer wusste eigentlich erst jetzt, was er erlebt hatte und wofür es geschehen war. Keiner dachte mehr an jene Rassereinheits-, Judenächtungs-, Blut- und Bodenverbundenheits- und Totalen Kriegslektionen, die seine Kinder beim Herrn Lehrer erhalten hatten. Man machte sich über den Schweinsbraten her, und auch dem Selbstträger wurde eifrig zugesprochen.
Nach dem Schweinernen, berichtete Tante Rosa, sei tüchtig vom Selbstträger weitergesoffen worden und das habe einen ziemlich starken Einfluss auf das Verhalten der Zecher gehabt. Zunächst sei die Dorfhebamme plötzlich auf dem Schoß des Pfarrers gesessen und habe heiße Tränen um „unseren verlorenen Sohn" vergossen. Bei dem verlorenen Sohn habe es sich durchaus um kein Kriegsopfer gehandelt, sondern um einen Engel, den die Kräutlerin gemacht habe, wie ihr vom Mesner sogleich vorgeworfen wurde. Daraufhin habe sich die Pfarrersköchin auf den Pfarrer stürzen und ihm die Augen auskratzen wollen, der Mann der Hebamme habe den Seelenhirten einen Saubartl geschimpft und seine Frau verdroschen. Der Mesner habe den Lehrer beschuldigt, „unseren Führer" schon im Februar achtunddreißig verraten zu haben, indem er den Braunen eine Liste mit den Namen der Aktivisten der Vaterländischen Front übergab. Zwei verheiratete Bauern hätten den unverheirateten Fleischergesellen abgewatscht, der seinerseits die Ehefrauen der beiden Widersacher als Flietschen bezeichnet und die Kräutlerin weiterer Engelmachereien geziehen hatte. Während ein Teil der Gäste gewalttätig geworden sei - voll bis zum Hals mit Selbstträger - habe sich der andere allerlei Zärtlichkeiten hingegeben. Es sei hier gestreichelt und geschmust, dort geprügelt und gefotzt worden. Mit einem Wort: jeder im Dorf habe sich so aufgeführt, wie er wirklich gewesen sei. Man habe sein wahres Gesicht gezeigt, ganz echt und ohne Maskerade. Irgendwann habe der watschenbedrohte Pfarrer das Podium erklommen und auf dem Akkordeon den Badenweilermarsch intoniert, und da seien einige strammgestanden, einige hätten Gläser nach dem Musikanten geworfen, und einige hätten weiter geschmust und gestreichelt. Darunter auch der Bräutigam, aber die Schmuserei und Streichele sei keineswegs mit Tante Rosa, der Braut, erfolgt. Daraufhin habe sie, die Tante Rosa, dem Bräutigam einen Topf kalter Einbrennsuppe über den Schädel gegossen und die Verlobung gleich wieder gelöst.
Ein einziger sei inmitten all der Sauferei, Keilerei und Schmuserei ganz gesittet und verlegen dagesessen und habe bloß Wasser getrunken: der Großvater Erwin Piplits, (der Jahre später - während Du auf deinem Skateboard seinen Vatergarten zuschandenackertest - ebenfalls verlegen und gesittet dasaß, wobei er allerdings Sesseldorfer Welschriesling trank, und keineswegs Wasser oder Selbstträger).
Mit freundlicher Genehmigung des Autors:
Ludwig Roman Fleischer "Die Enterbung", Roman
kitab -Verlag
ISBN 978-3-902005-83-0