2007-03-13
K 2
Kapitel 1
Fünf Personen sind unterwegs zu Alexandra Frazzis Wohnung. Es ist früher Abend an einem Freitag im Mai. Die Luft ist noch warm, doch von Westen, über den neuerdings so hohen Wienerwald, hinter dem die Sonne längst verschwunden ist, weht kräftiger Wind.
In der N***gasse im siebten Bezirk macht Alexandra Frazzi vor dem Schaufenster einer Esoterikbuchhandlung halt. Der Wind fährt in ihr halblanges rotblondes Haar, und in Alexandras Gesicht erscheint das offene, wonnige Lächeln, von dem sie ihren Spitznamen hat, Smiley. Sie ist mit vollem Recht sehr zufrieden mit dem Spiegelbild, das die Scheibe auf sie zurückwirft. Am nächsten Löwetag, denkt sie, sollte sie wohl zum Friseur gehen, denn die Haare sind schon etwas ausgewachsen und gehören wieder einmal nachgerötet. Das ist aber nicht so dringend, denn Smiley ist eine echte Rotblonde, Smiley ist, wie sie bei manchen Gelegenheiten selbst einfließen läßt, ganzkörperrotblond. Also sieht sie auch nicht in ihrem Mondkalender, der irgendwo in ihrer schwarzen Ledertasche vergraben ist, nach, wann der nächste Löwetag ist. Heute ist außerdem Vollmond, vor ein paar Minuten hat Smiley die große orange Kugel ganz tief am Horizont gesehen, und wahrscheinlich sollte sie mit dem Haareschneiden ohnehin bis zum nächsten Neumond warten.
Smiley hat es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Von der vierstündigen Vorlesung, in der sie den Nachmittag verbracht hat, ist ihr ein angenehmes Surren im Kopf geblieben, durch das sie sich in Einklang mit den arbeitenden Massen fühlt, die gerade die Last der Woche losgeworden sind und durch die Straßen eilen. Das Kunstgeschichtestudium, das weiß Smiley, ist keine Dauerlösung. Zu viel aufgeblasenes Blabla, zu viel stupides Auswendiglernen, keine Möglichkeit, sich als Person einzubringen, und keine brauchbaren Männer. Vor dem Studium hat Smiley zwei Jahre lang als Stewardess gearbeitet, das hat ihrem Rhythmus und ihrer Energie besser entsprochen, doch „Kellnerin in der Luft", wie sie selbst oft sagt, wollte sie auf die Dauer auch nicht bleiben. Die Vorlesung, der erste Teil eines Blocks, der morgen fortgesetzt wird und am Sonntag endet, ist langweilig genug gewesen, ein Informationsbombardement über „Giotto und seine Zeit". Doch vor dem Abend hat Smiley richtiggehend Angst. Es besteht, meint sie, die Gefahr eines Pärchenabends. Nicht daß Smiley je einen Pärchenabend verbracht hätte, nicht jedenfalls daß sie sich an einen Pärchenabend erinnern könnte, und das mit gutem Grund, denn ein Pärchenabend, denkt Smiley und das Surren in ihrem Kopf wird unangenehm stark, muß das Übelste sein, das es gibt. Also biegt Smiley etwas besorgt in die B***gasse ein, als ihr Handy läutet. Sie kramt ihrer Tasche und zieht ein Modell hervor, das größer und altertümlicher ist, als man bei Smileys sonstiger Erscheinung erwarten würde. „Bodo" steht auf der Anzeige. Nicht heute, denk Smiley, sicher nicht heute. Sie drückt aber nicht „Abweisen das erschiene ihr zu harsch, sie läßt das Telephon lieber läuten.
Währenddessen biegt im vierten Bezirk, etwa drei Kilometer entfernt, Eva Zug auf ihrem Fahrrad in die M***gasse ein. Aus ihren Augen treten Tränen, die der Fahrt- und Gegenwind Wangen hinunter an ihren Hals jagt, wo Eva aufhört, sie zu spüren. Sie hebt den Kopf, um zu schauen, wo sie ist, und die Tränen fliegen zu beiden Seiten an ihren Ohren vorbei. Eva versucht zu überlegen, auf welchem Weg sie am besten zu Smiley fährt, um auf andere Gedanken zu kommen. Sie ist schon vom Freitagstreffen der Veganen Plattform, in der sie seit fünf Jahren mitarbeitet, zu Smiley gefahren und kennt den Weg eigentlich ganz genau. Sie bleibt stehen, spürt, wie der D-Cup ihres BHs einige noch warme Tränen an ihrem Busen zerdrückt und schneuzt sich. Eva kann sich nicht erinnern, wann sie zuletzt geweint hat. Es muß im Februar gewesen sein, als sie und Martin sich trennten. Die Trennung von Martin währte nur zwei, drei Tage. Mit der Veganen Plattform ist die Trennung nach dem was gerade vorgefallen ist, sicherlich endgültig. Und Eva muß, das ist ihr klar, jetzt sehr stark sein, denn die Veganerlnnen sind fest entschlossen, ihr das Leben sehr schwer zu machen. Die VeganerInnen haben es in der Hand, Eva zu ruinieren.
Martin Bierbaum und Marlon Gärtner sind rein physisch r nicht zu Smileys Wohnung unterwegs. Sie sitzen im Cafe J*** im sechsten Bezirk, keine zehn Gehminuten von Smileys Wohnung entfernt. Jeder Schluck, den sie von ihren Bieren nehmen bringt sie dem Aufbruch näher. Allerdings hat Marlon schon fast ausgetrunken und überlegt jetzt, ob er auf Martin warten oder ein zweites Bier bestellen soll. Fast unmerklich schwappt das Bier in den Gläsern auf, zwei Sekunden später ist die Oberfäche schon wieder glatt. Wahrscheinlich nur ein kleiner Begradigungsruck irgendwo in der Nähe. Hinter Martin, in Marlons Blickfeld, sitzen drei Frauen, und während Martin ihm auseinandersetzt, wie man sich bei einem Banktermin verhält, wechselt Marlons Blick ständig zwischen den Frauen und Martins Gesicht hin und her. Martin ist davon aber kaum irritiert, denn er schielt selbst mit ruhigem Interesse nach einer für ihn schon jungen Studentin, die in einiger Entfernung an der Bar sitzt. Martin weiß, daß er Marlon mit seinen Tipps wirklich hilft. Marlon hat, bevor er als Stadtführer zu jobben begann und im Fahrwasser der Wienerwaldanhebung und Stadtbegradigung vor einem knappen Jahr seine eigene, seiner Überzeugung nach boomende Stadtführerfirma eröffnete, Philosophie studiert und ist von geschäftlichen Dingen weitgehend unbeleckt. Martin ist seit gut zehn Jahren selbständiger Computergraphiker. Ihre Charaktere sind grundverschieden, und wären ihre Freundinnen nicht beste Freundinnen, hätten Martin und Marlon einander wahrscheinlich nie kennengelernt.
Smiley braucht keine Angst vor einem Pärchenabend zu haben. Fünf Personen sind zu ihrer Wohnung unterwegs, und zu fünft gibt es keinen Pärchenabend. Doktor Bodo Bittner lenkt seinen einst teuren deutschen Wagen durch den zweiten Bezirk. Er weiß, wo Smiley wohnt, vor knapp zwei Monaten hat er mehrere Stunden bei ihr verbracht. Doktor Bittner weiß nicht mehr genau, wie lange er dort war, doch an das Haus und an das namenlose Schild an der Gegensprechanlage kann er sich noch genau erinnern. Er erinnert sich, wie er, während Smiley nach dem Schlüssel kramte, zu erraten versuchte, welcher der Familiennamen an der Gegensprechanlage der ihre sei, und wie sie ihm sagte, ihre Wohnung sei die, wo kein Name steht. An viele Details kann Doktor Bittner sich noch erinnern, doch jemand hupt ihn an, er fährt nur zwanzig, und Doktor Bittner hebt entschuldigend die Hand und steigt aufs Gaspedal.
Vor ein paar Minuten, als Doktor Bittner noch in seiner Woh¬nung in der L***gasse war, hat er Smiley angerufen, doch sie hat nicht geantwortet. Er fährt den Donaukanal entlang und wählt .“Alex". In der B***gasse im siebten Bezirk spielt Smileys Handy ihre dezent-fröhliche Melodie, und obwohl das Telephon ganz oben in der Tasche liegen muß, sieht Smilev nach, wer es ist. Der Wind weht ein Plastiksackerl vor Bittners geräumigen Wagen, und Doktor Bittner fragt wie er in seiner Kindheit in Berlin zu den Plastik sagt hat, während Smileys Tonbanddienst ihn bittet, eine Nachricht zu hinterlassen. Das Plastiksackerl verfängt sich für ein zwei Umdrehungen am rechten Vorderrad und fliegt dann an der Beifahrertür vorbei.
„Ja, hallo Alex, hier Bodo", spricht er, die Hände in Zehn-nach-zwei-Stellung am Lenkrad, in seine Freisprechanlage, „wie geht's? Ahm, ich bin jetzt gerade im Auto unteerwegs und würde gern vorbeikommen. Wenn du nicht dabist, habe ich Pech gehabt. Ich hoffe, das ist kein Problem, aber es geht irgendwie doch immerhin um ein Menschenleben, also sollten wir das schon einmal besprechen. Montag bis Freitag bin ich ja voll im Stress für die weibliche Schönheit, aber jetzt hätte ich gerade Zeit. Ja, wenn du mich hörst, ruf mich bitte gleich an und hoffentlich bis gleich. Ciao."
Mit freundlicher Genehmigung des Autors:
Kurt Leutgeb: „K 2“, SISYPHUS und Kurt Leutgeb, 2004,
ISBN: 3-901960-27-9
Das Buch:
Parkbänke, Statuen, Menschen, Tiere, ganze Häuser und öffentliche Plätze werden vom Erdboden verschluckt. Am Rand von Wien wächst aus diesem Material ein Berg. K2 erzählt schichte einer Nacht, in der die Konflikte innerhalb einer Gruppe von Stadtbewohnern eskalieren und sie schließlich auf den Berg führen.
Der Autor:
wurde am 15. Dezember 1970 in Oberösterreich geboren. Er lebt in Wien. Nach Mensch (2001) ist K2 sein zweite bei Sisyphus.