2007-03-27
Wegen einer halben Stunde
Am Anfang ist das kärntnerische Wort: So a Klähscha. Gemeinsam mit dem späten Sonnenlicht sickern Raum-, Zeit- und Ichgefühl in das sich zögernd öffnende Bewusstsein zurück.
Da Hubschrauba kummt glei.
Jemand tätschelt einen meinen Kopf.
So vühl Bluad.
Kein Zweifel: Ich liege rücklings im Schnee, Kunstschnee, mitten in der Kunstnatur, in einer unnatürlichen Lage. Meine jemandes meine Zähne klappern aufeinander. Ein Zusammenstoß auf der Piste. Eine heftige Begegnung. Ich schließe die Augen wieder. Mein linkes Auge wird betupft, wie auch mein linkes Ohr.
Abermaliges unendgültiges Erwachen durch Hubschrauberlärm: ein Sirren, Knattern und Wischen der Rotoren, die wie ein skurriles Scherenschnittbild über mir zur Ruhe kommen.
In der nächsten Bewusstseinssequenz sitzt eine weißbemäntelte Frau an meiner Tragbahre. Um uns Hubschrauberinterieur in Gelb. Wir müssen abgehoben haben: ein Gefühl von Bewegung ohne Reibungswiderstand.
Da Lärm is a bissale unongenehm,
sagt die weiße Frau.
Ach, hier ist es ganz angenehm,
sage ich, und:
Finden Sie, sie.
Ich hebe wieder ab, über Hubschrauberhöhen hinaus. Erst in einem dämmrig erleuchteten Raum voll medikamentöser Gerüche lande ich wieder im eigenen Selbst. Die Büste eines sympathischen Mannes in blau-weiß gestreiftem Hemd und mittleren Jahren schwebt über mir:
I sog eich, der hot a Thoraxtrauma.
Bei irgendjemandem Unwahrnehmbarem lege ich erfolgreich mein Identitätsexamen ab: Name, Geburtsdatum, Adresse, Beruf, Versicherungsnummer, verheiratet, ein Kind.
Oder war das vorher, früher, eher?
Ich geh noch ein bisserl Schi fahren.
Muss das sein?
In einer halben Stunde komm ich auf die Hütte.
Pass auf deine alten Knochen auf.
Meine alten Knochen, auf die jemand wie ich oder jemand wie ein anderer nicht aufgepasst haben, wird in eine rostrote Tunnelröhre geschoben.
Do sechz es,
höre ich die Stimme des Arztes wieder,
a Thoraxtrauma hot a. Und schreib dazua: Serienrippenfraktur links ventro lateral zwa bis siebene, Clavicularfraktur pars acromialis links, contorsio...
Jemand näht geschickt an meinem Auge, dann an meinem Ohr herum. Stich für Stich. Nicht unangenehm. Anheimelnd eher. Augen- und Ohrenausbesserung durch tüchtige Näherin. Und Knopf, zwack, Zwirn ab.
Ich scheine einfühlsam weggeschläfert worden zu sein, denn als nächstes liege ich in einem Spitalsbett, Hochziehtriangel, Schwesternrufgerät cum Radio über mir, und sehe einen unglücklich dreinschauenden David, sowie Eva und Emanuel, die in einer Reisetasche kramen. Sie fördern Wäsche, Bücher und andere Notwendigkeiten zuabend oder zunacht. Hinter dem blau gerahmten Thermofenster dunkler Himmelsplafond, auf dem zahllose Sternlämpchen angebracht sind. Evas Kopf liegt auf meiner gesunden Schulter.
Warum? Warum? Warum?,
sagt sie, und:
Wegen einer halben Stunde,
gibt sie sich selber die Antwort.
Mir fallen Diagnosevokabel ein: Schlüsselbeinbruch, fünf gebrochene Rippen, Gehirnerschütterung, Lungenquetschung. Das muss schon eine Übersetzung sein. Habe ich während meines Bewusstseinsinselspringens mein Gymnasiallatein und mein Enzyklopädiegriechisch zum Einsatz gebracht? Eva küsst mich in den Schlaf. Oder ich träume das auch nur.
Den grellsten Bewusstseinsstand erreiche ich spätabends, nachts oder auch frühmorgens. Jedenfalls sind die Sternlämpchen noch immer an den schwarzblauen Himmelsplafond genagelt. Nach der Zeit- die Raumerfassung, zur Anschauungsform des inneren Sinns jene des äußeren hinzu:
Die Patienten in meinem Zimmer. Einer schnarcht, einer lauscht dem aufdringlichen Ö3-Geschepper in seinem Schwesternfunkgerät, der dritte ist zu weit weg, um auffällig zu sein. Und dann wird noch einer geliefert. Er schreit au, au, au und etwas wie Neptun, Neptun, das auch „Nit wehtun“ heißen könnte. Eine unerbittliche Wachheit dröhnt in mir. Jeder Versuch, die Rückenlage zu relativieren, wird von einem gut eingespielten Schmerzensemble vereitelt. Ein wohlmeinendes Kollektiv: Mach doch keinen Unsinn, Alter, raunt der Schmerzbandleader im Schlüsselbein, das geht nicht, Boyo, der Mann im Rücken, bleib doch, wie du bist, der Bassist im Brustkorb, und der Schlagzeuger an den Rippenbögen klöppelt lässig vor sich hin und singt dazu: O no, no, no, no, no. Madame Amnesia hat mich nicht verlassen. Ich habe keine Ahnung, wie es zu dem Klähscha gekommen ist, erinnere mich nicht einmal daran, wie ich aus dem Sessellift ausgestiegen bin: mit einer rumänischen Kernfamilie (Vater, Mutter, Töchterlein) bin ich gemeinsam auf einem Vierersessel gesessen und habe ihrem Gespräch gelauscht, größtenteils verständnislos, jedoch beeindruckt von der romanisch-slawischen Melange: Cioccolata calda! Da! Da! Danach Vorhangfall, Zufall, Unfall.
Ich spiele mir das Haydn-Divertimento in der Fassung für Sopran- und Tenorflöte vor, das ich mit Emanuel so lange geübt und dann trotzdem verpatzt habe. Ich stelle Weltnachrichten für morgen zusammen, zitiere Hamlets Seinsmonolog. Dann bete ich einige Vaterunsergegrüßetseistduehresei. Nicht einmal das wirkt als zweckgeheiligtes Schlafmittel. Als ich aufgeweckt werde, weiß ich, dass ich doch wieder geschlafen habe. Eine rundliche Schwester wischt mir waschlappig die „Kriakalan“ aus den Augen, wäscht mir Brust, Beine und Füße. Den Schamanus-Bereich (den sie Intimtäule nennt) wasche ich mir selber. Die Schmerzcombo toleriert es mehr oder weniger, wahrscheinlich schmerzmittelbedingt.
Doktor Seiser heißt die sympathische Thoraxtraumabüste im gestreiften Hemd. Heute fehlt auch die weiße Arzthose samt Inhalt nicht: Ein nicht unbulliger, etwa fünfundvierzigjähriger Alphaarzt in spe (als Oberarzt ist er eher noch Beta, aber über die Alphacharismatik verfügt er schon). Blut und Wasser in der Lunge, so Seiser über mir über mich, aber erstaunlich gut beisammen. Harter Knochen. Falls Blut und Wasser nicht aus Lunge abgehen (wo sie garantiert nicht abgehen), müssen wir eine Drainage machen, zum Absaugen. Ein Routineeingriff. Wohlwollend blitzen mich Seisers graue Augen durch die Brille an und meine Seele flattert ihm vertrauensvoll in seine großen Pratzen.
Gedankliches Zimmeraufräumen: Gestern oder so war da noch ein zwölfjähriger Wildfang mit Kreuzbandriss, der Lukas Polodnig oder so ähnlich geheißen hat. Er scheint durch den Neptun! Neptun!-Rufer der Nacht ersetzt („erlegt“ böte sich an). Dieser hört kaum auf seinen Namen Otto Truntschnig. Er ist etwa fünfundzwanzig Jahre alt, hat große, melancholische Knopfaugen und lallt mehr als er spricht. Aber er lallt auch sehr wenig, reagiert auf die menschliche Umgebung spärlich und mit ziemlicher Verzögerung. Am ehesten sprechen seine Augen.
Isser besachwaltet?,
erkundigt sich Doktor Seiser bei der Visite.
Na, ich weiß nicht. Ein Idiot scheint mir Otto Truntschnig nicht zu sein. Wenn er nicht schläft oder isst, liest er die ganze Zeit. Harenberg – das Buch der tausend Bücher. Was in der 2000-Seiten-Schwarte wohl drinsteht? Abendländische Literaturversammlung von Arnim bis Zola? Ich bin nicht weitsichtig genug, vor allem im Liegen nicht, trotz hochgeklapptem Bettoberteil, und so bleibe ich bei meinem Roddy Doyle. Zwei Schwestern gelingt es, mir das Leintuch unter dem Hintern und den Schultern wegzuziehen und mir gleich wieder ein frisches unterzuziehen. Ein beachtliches Kunststück. Das alte Leintuch ist fleckig: blasse und rötliche Tupfen. Floss Blut und Wasser aus meiner Lunge? Nein. Wir werden routiniert eingreifen und eine Drainage machen müssen.
Kollege Oliver schräg gegenüber ist nach einem Schiunfall an einer Lendenwirbelverschiebung operiert worden, folglich rücklings ans Bett geschmiedet wie der beinverletzte Truntschnig und ich. Nein, wie ich nicht. Gegen Mittag darf , ja muss ich mich im Röntgenraum gegen mein Schicksal und folglich aus dem Bett erheben, in welchem man mich per Lift und Schub hierher transportiert hat. Ich stehe vor dem Röntgenschirm und umarme ihn. Einatmen, ausatmen, nicht mehr atmen. Sirrr! Weiteratmen. Zur Belohnung erstmals seit dreißig Stunden etwas zu essen. Das „Nüchtern“-Schild wird von meinem Hochziehtriangel entfernt. Womöglich winkt eine undrainagierte Weiterbehandlung. Sofort mache ich mich im Liegen daran, französische Grammatikübungen für Emanuel zusammenzukritzeln. Auch Abendessen und Frühstück werden mir nicht vorenthalten. Bei cappuccinoartig überschäumtem Malzkaffee sitze ich Zeitung lesend am Fenster, eine Ansichtskartenansicht Villachs und der umliegenden Berge neben mir: jederzeit abrufbare Heimatschönheit. Wie Stationsschwester Alexandra. Sie könnte jederzeit als mediterrane Filmdiva posieren. Das Kärntner Klima fördert Frauenschönheit; auch eine die Infusion anschläuchelnde Frau Doktor Birgit und die blonde Röntgenschwester Andrea sind geradezu verschwenderisch hübsch.
Silvester. Das Häuschen ist so leer ohne dich. Feiern macht keinen Spaß. Ich darf nicht weinen, damit Eva nicht weint oder Emanuel verwirrt oder sein Freund David mit der Situation überfordert ist. Als Kranker muss man mehr Contenance aufbringen, denn als Gesunder. Im Radio die Fledermaus mit Robert Meyer als Witze aufdrängender Frosch. Gegen Mitternacht ruft Eva dann noch an: Vom Käsefondue für vier haben die drei nur eine Portion für zwei hinuntergebracht. Das Bleigießen hat ihnen keine rechte Freude gemacht. Jetzt schauen die beiden Buben fern. Um Mitternacht werden sie halt ihre Raketen und Knallfrösche abfeuern. Alles nicht lustig ohne dich.
Alles auch mit mir nicht lustig ohne euch. Die Villacher Neujahrsknallerei bekomme ich im Halbschlaf mit. Mein Nachbar, ein bezopfter Graukopf, der zum zweiten Mal spontan aufs Gesicht gefallen ist und sich das Jochbein gebrochen haben dürfte, schlurft an meinem Bett vorbei zum Fenster, um Feuerblumen binnen Sekunden er- und verblühen zu sehen.
Ich überschlafe den Jahreswechsel gar nicht so übel. Trauerarbeit erst als Eva von den weiteren Silvesterfeierlichkeiten in Feld am See berichtet: Feuer ausgegangen, Häuschen trotz frenetischer Elektrobeheizung kalt, David und Emanuel viel früher als üblich eingeschlafen: vor dem Fernsehapparat. Eva allein im kalten Bett, kaum geschlafen. Beinah bleibt mir das Dunstrindsschnitzel im Hals stecken. Appetit habe ich ohnedies keinen. Von der kleinsten Diätportion bringe ich kaum die Hälfte hinunter: Folge der ungewohnten Bewegungsarmut. Als würde man einen Sperling zwingen, Modell zu sitzen.
Nächsten Abend ein Neuer zur Linken: Das Jochbein des bezopften Graukopfs dürfte doch ungebrochen gewesen sein. Ein junger Diplomingenieur wird geliefert, der auf dem Fußgängerstreifen in Lendorf von einem Auto niedergestoßen worden ist: Verletzungen an Kopf und Hüfte. Ich erhalte das „Nüchtern“-Schild zurück. Infolge des Mittagröntgens wird abends routinemäßig eingegriffen werden. Fort mit dem Lungenblut: einen Lungenblutsauger montieren.
Olivers Eltern kommen jeden Tag: Eine freundlich-rundliche Idealmama und ein O-beiniges, sensibel und liebenswert wirkendes Männchen mit Halbglatze. Oliver schläft fast die ganze Zeit. Die Eltern sitzen an seinem Bett, streicheln seine Stirn, halten seine Hände. Die Schiwirbelverschiebung hat ihn aus seinen Zukunftsvorstellungen geworfen: ein Semester Studium in Pavìa dahin, die Ferien dahin, der Winter dahin. Aber der ist ohnedies keiner. Sonnenschein, plus acht Grad und dünne Kunstschneepisten Anfang Jänner. Kein Naturschneefall in Sicht. Kein Frost in Sicht. Die Fernsehmoderatoren von „Kärnten Heute“ präsentieren den Wetterbericht dennoch mit bestgeöltem Charme, stets lächelnd, wie im Sommer (der verregnet und kalt war) die Vorzüge des Kärntner Sonnenscheins betonend: Morrgen wieder ein herrrlich sonniger Tag. Vergessen ist die Nachmittagssendung über tourismusbetriebliche Bankrottbefürchtungen infolge Schneemangels.
Abends der Routineeingriff. Man rollt mich bettlings zum Lift und vom Lift zum Operationsraum, trotz meiner Beteuerung, durchaus gehfähig und –willig zu sein. Rücklings ausgestreckt atme ich aus einem Gummitrichter schlechte Luft ein, Luft ein, Luft... Ich sitze an einer improvisierten Theke im Operationsraum; ein Römerglas voll Rotwein in der Linken, proste ich meinen Ärzten zu und erwache auf meinem Transportbett, noch im Operationstheater (wie der Engländer sagt). Meine Ärzte oder Pfleger oder Operationsbrüder blicken wohlwollend-wissend auf mich herab. Ich plappere begeistert drauflos, als stünde ich noch unter der Wirkung meines Traumrotweins: Was, ihr seid schon fertig? Also wirklich großartig! Das gibt´s ja nicht! Wenn ich mich wieder lädiere, dann nur im Landkreis Villach. Man nickt und lächelt verständnisinnig. In mir waltet noch das präoperative Beruhigungsmittel. Auf mich wirkt es eher als euphorisierendes Beunruhigungsmittel.
Zurück in Krankenzimmer 513 terrorisiere ich alle außer dem melancholisch in seine Schwarte äugenden Truntschnig mit meinem Optimismus: Oliver, seine Eltern, das Autoopfer vom Lendorfer Zebrastreifen und dann auch noch Eva und Emanuel. Fühle mich bestens, kein Problem, so ein Drainascherl, in drei Tagen bin ich draußen und dann machen wir uns noch zwei schöne Abende im Häuschen. Et cetera. Eva schließt das kategorisch aus. Meine Knochen würden das noch nicht aushalten. Erst müsse man sehen, wie das mit dem Lungenblut weitergehe. Der Transport von Villach nach Wien sei mühsam genug, auch ohne einen Umweg über Feld am See. Wahrscheinlich werde man ohnedies ein Rettungsfahrzeug brauchen. Für sie sei das alles auch nicht leicht. Mein Optimismus knickt in sich zusammen, richtet sich aber noch einmal auf, als Doktor Seiser mich visitiert:
Wie geht´s Ihnen?
Tadellos, Herr Doktor.
Und die Schmerzen?
Nicht der Rede wert, Herr Doktor.
Zur Belohnung nennt der Thoraxtraumadiagnostiker seinen Patienten einen harten Hund. Man werde einige Tage lang immer wieder im Röntgen schauen müssen, ob das Blut aus dem linken Lungenflügel verschwunden sei, damit es zu keinen Verschwartungen komme.
Die verhinderten Verschwartungen regen wenig später die Phantasie meiner aus Klagenfurt angereisten, pensionierten Krankenschwester-Mutter an. Ich würde mich noch wundern, wie leicht es zu Verschwartungen komme, orrjai, orrjai, und was Verschwartungen bedeuteten, das wisse sie ganz genau, da habe sie die Erfahrungen (ganz üble natürlich), das gebe Probleme, na gute Nacht und sie werde gleich den Seiser fragen, ob ich einen Pneumothorax habe und welches Blutverdünnungsmittel ich bekäme wegen der Thrombosegefahr, na, da stehe mir noch was bevor, orrjai, ja, sie sage eben immer Sport sei Mord, ja, Mord sei Sport.
Willkommen in der Kindheit! Willkommen im Paranoiabunker, den man nicht verlassen darf, denn draußen lauert eine feindliche Welt. Lieber ein auf wenigen Quadratmetern tollpatschig herumstolperndes Bübchen bleiben, das bunkerbedingt nie richtig laufen gelernt hat, als draußen seine eigenen Schritte zu machen, seine eigenen Sprünge und Salti, die naturgemäß die eine oder andere Bauch- oder Nasenlandung nach sich ziehen.
Die Bülaudrainage: Wenn ich umherspaziere – ins Bad, aufs Klosett oder über die Korridore zum „Patientenaufenthaltsbereich für Nichtraucher“, dann trage ich jetzt ein etwa vierzig Zentimeter hohes, fünfundzwanzig Zentimeter breites und fünf Zentimeter tiefes Plastikkästchen mit mir, von dem ein langer Schlauch zu meinem Beuschel führt, durch eine entsprechende Öffnung an meiner linken Flanke hindurch. In dem Schlauch sammelt sich das Blut: nach vierundzwanzig Stunden ein Dreiviertelliter, der Gegenwert zweier Blutspenden. „Die Bülau“ heißt das Kastl im klinischen Jargon. Bülau da, Bülau dort, Bülau überall hin mit. Liege ich im Bett, wird die Bülau mit zwei Spangen an dessen Rahmen geklemmt, damit sie nicht – zum Beispiel im Albtraumfall – umfällt. Albträume leiste ich mir aber ohnedies keine. Eher bürgerliche Beschaulichkeitsträume, ein Traumbiedermeier: Abendgesellschaft in einem italienischen Adrialokal, Fahrt ins Frühlingsgrüne, ein Orchesterkonzert, bei dem ich gleichzeitig die Flöte blase und Zuschauer bin, allerdings wegen meines gebrochenen Schlüsselbeins nicht applaudieren kann.
Als nach zwei Tagen genug Blut abgeflossen scheint, bekommt die Bülau eine Klemme verpasst, die sie wirkungslos macht, aber im Zustand der Einsatzbereitschaft belässt. Am Morgen schauen wir, ob sich in der Pleura neuerdings Blut gesammelt hat. Hat sich nicht. Die Bülau darf entfernt werden. Man prophezeit mir Übelkeit, „Zusammenfallen“ und ähnliches für die Bülau-Abnabelung, ich verhalte mich aber disform: statt Übelkeit und Ohnmacht Frohsinn und Unternehmungslust. Ab sofort Treppensteigtraining, Übungen mit meinem kleinen mexikanischen TRIFLO II RESPIRATORY EXERCISER (den ich Speedy Gonzales nenne) und bei dem man durch einen blauen Schlauch drei Kügelchen einen durchsichtigen Plastikschacht hinaufatmen und möglichst lange – den Atem anhaltend - oben halten soll. Wieder Atmen lernen: mein Beuschel erweist sich als durchaus gelehrig. Heißa! Was können hundert Schritte treppauf für ein Abenteuer sein! Sich selbständig waschen, umziehen, rasieren! Französischübungen für Emanuel zusammenstellen macht jetzt auch mehr Spaß als zuerst im Liegen und dann mit der kippgefährdeten Bülau an meiner Seite. Die Furcht, dieser Nassfelder Pistentrottel könnte mir das letzte Bisschen Jugendlichkeit und Unternehmungsfreude aus dem Leib gefahren haben, dürfte unbegründet sein.
Villach hat sich im Sonnenschein herausgeputzt: die barockrosa Leonhardikirche, die sachlichere gotische Nikolaikirche, der gedrungene Dom, der immerhin schneebestäubte Dobratsch, die Julischen Steinzacken: Alles wirkt einladend, fordert mich auf, es demnächst zu begehen, alles Mögliche zu begehen.
Ich werde diesen Aufforderungen Folge leisten. Und wenn Eva wieder einmal eine Hüttenrast vorschlägt statt „noch ein bisserl Schi fahren“ zu wollen, werde ich ebenso gehorchen. Sage ich mir jetzt. Wozu auch unfolgsam sein, wegen so einer halben Stunde?
Villach, 6.-7. Jänner 2007
Mit freundlicher Genehmigung des Autors