2006-12-22
.MAZONA. - Teil XV
Sgt. kärnöl´s LONELY HEARTS CLUB BAND Vorderseite des ersten Fortsetzungsromans ".MAZONA." von Ingo Timmerer , Teil XV, auf Pizzakarton
Mein Schicksal hat sich heute besiegelt! Ich bin gerade unterwegs, mich mit ein bißchen Nahrung zu versorgen, als ich plötzlich von einem schrillen Geräusch aufgeschreckt werde. Es ist mir vorerst nicht möglich es genau zu identifizieren. Es klingt wie eine riesige Bohrmaschine, die sich durch Metall fräst. Wird vielleicht das Lüftungssystem repariert? Ich krieche weiter zum Dunstabzug der Küche und muß feststellen, dass der Lärm unerträglich wird. Ich habe noch drei rechte Winkel zu krabbeln, um an die Futterstelle zu gelangen, doch schon nach dem zweiten knallt mir erbarmungslos Tageslicht in meine an wochenlange Dunkelheit gewöhnten Augen. Es ist wie ein Blitz! Der Schmerz sticht mir wie eine Lanze in meine Nervenzentrale. Ein Spiel von Funken durchdringt mein Hirn, obwohl ich die Augen reflexartig schließe, und flimmert wild und ungeordnet wie auf einer schwarzen Leinwand über meine Netzhaut, die zu verglühen scheint. Ich kehre um und versuche, so schnell ich kann, mich zurückzuziehen. Ich höre ein Stück der Zinkbleche nach dem anderen abbrechen und in die Tiefe stürzen. Was ist los? Schlagen Bomben ein? An der ersten Kreuzung scheint rechts von mir schon der Tag in meine Welt, sodaß mir nur die Flucht nach links bleibt.
Wenn ich so aufs Geradewohl weiterkrieche, weiß ich, sitze ich bald in der Falle und stürze mit einem Zinkblechelement in mein Verderben. Ich überlege, wie ich auf kürzestem Weg die größtmögliche Distanz zurücklegen kann. Es dauert vielleicht drei Minuten, bis ich mir den Plan, den ich in meiner Erinnerung gespeichet habe auf meinen derzeitigen Standort umrechne. Ich krieche weiter, hinter mir kracht es, rechts und links kracht es, stückchenweise stirbt meine Erinnerung, stirbt meine Welt, sterbe ich. Ich nehme an, daß das gesamte Haus abgerissen werden muß, bis auf den Teil, von dem ich eben weiß, daß er vor kurzer Zeit generalsaniert wurde. Das verschafft mir zwar die Chance mich zu verstecken, nimmt mir aber jede Möglichlkeit einer Nahrungsaufnahme, es sei denn ich suche einen Ausgang in die Welt draußen, wo ich mir mit meinem Geld, das ich bei mir führe, jede Menge Wurstsemmeln kaufen könnte. Aber was sollte ich jetzt draußen, wo meine Vergangenheit sukzessive zerstört wird? Ich habe mich ein letztes Mal darauf konzentriert, sie sozusagen aufge-braucht, indem ich sie schriftlich dokumentiert habe. Wozu brauche ich eine Zukunft? Zukunft wünsche ich mir nur so lang, bis ich fertig bin mit all dem, was ich mir vorgestellt habe noch zu erledigen. Ich erreiche den Trakt des Gebäudes, von dem ich weiß, daß er verschont bleibt, und bin am Ende meiner Kräfte. Ich schmiege mich an das kalte Metall, das meine Heimat ist. Und wie ich so daliege in einem leichten Bogen derZinkblechröhre, erinnere ich mich an Johann Biedermann, der in der selben Haltung in einer Hängematte döst. Seltsam denke ich, wir, meine Romanfigur und ich stecken im selben Dilemma! Ich ziehe mein Schweizermesser aus der Hosentasche, weil ich auf einmal das tiefste Bedürfnis habe, Biedermann gleichzeitig mit mir zu einem Ende bringen zu müssen! Ich öffne meinen Lederbeutel, laß mir den Inhalt in die linke Hand rieseln und beginne zu kratzen:
Biedermann erwachte. Ein Schwarm von Moskitos umschwirrte seine Stirn. Er stieg erschöpft aus der Hängematte, und weil ihn der Hunger quälte, machte er sich auf die Suche nach etwas Eßbarem. Die getrockneten Fische lagen ihm im Magen, er gab ihnen auch die Schuld für die depressiven Träume, die noch nachhallten. So verließ er die Hütte und begab sich in den Regenwald, von dem er annahm, daß er ihn mit seinen Früchten verköstigen würde. Die feigentragenden Bäume erreichten eine Höhe, die er nie und nimmer erklimmen konnte, deshalb bediente er sich an einer Kletterpflanze, die sich vom Erdreich aufwärts rankte, wunderschöne purpurrote Blüten, die keinen unangenehmen Geruch verströmten, und kirschgroße Früchte trug. Biedermann pflückte eine Handvoll davon und setzte sich an den Stamm eines Palisanderbaumes. Er zerdrückte die weiche Fruchthülse und sammelte die einzelnen Samen in seiner Hand. Die Menge würde ihn nicht sättigen, dachte er, zerkaute sie aber bedächtig, sich bewußt, daß sie ein Geschenk des Urwaldes waren.
Ich nehme ebenfalls sämtliche Samen ein, etwa fünfzig Stück, die sich in meinem Leberbeutel befanden, und zerkaue sie. Ich warte eine Weile mit dem Weiterkratzen, vielleicht fünf oder sind es zehn Minuten. Das eintönige Schwarz lichtet sich, erhellt sich zu Grau, das gesamte Spektrum der Farben erscheint, pendelt sich ein in tropisches Grün.
Biedermann hatte keinerlei Ahnung, ob diese Samen genießbar wären oder nicht, aber es war ihm auch einerlei in diesem Augenblick. Er richtete seinen Blick nach oben in das geschlossene Blätterdach des Waldes, das ein Grün herabschickte, das mit Worten nicht beschreibbar war. Erst irritierten ihn noch die riesigen Blätter der relativ kleinwüchsigen Kakaopflanzen, die er dann aber überging, um in höhere Sphären zu gelangen. Nach kurzer Zeit präsentierte sich das Gemisch aus abermillionen Blättern wie ein Teppich, er hatte diese Vision schon einmal von oben, nun jedoch wie ein Teil von sich selbst, der sich integrierte in die Farbe, die alles und jeden beherrscht, der sich wagt in diesen Kosmos einzudringen. Sogar die Geräusche nahmen Farbe an und schließlich und endlich die Farbe Töne, wie sie ein Pfeilgiftfrosch mit einem Saxophon widergeben würde. Biedermann erlebte den Höhepunkt seines Lebens.
Ich lege meine Hand auf die Stelle, an die ich den letzten Satz geritzt habe, und spüre den Händedruck Biedermanns, der mir deutet mitzukommen in diese unerhört faszinierende Welt der Töne.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors:
Ingo Timmerer: „.MAZONA.“, Roman, Edition kärnöl, 2005