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2006-03-25 P. A. Sampaio: Agrarreformen in Lateinamerika Warum sich - außer in Kuba - die Hoffnungen nicht erfüllt haben Vorbemerkung der Redaktion: Im Laufe der letzten Monate haben wir uns intensiv mit der Eigentumsfrage bschäftigt - siehe Texte zur Reihe Eigentum. Ein konkretes Beispiel, wo versucht wird, damit etwas anders umzugehen, ist Kuba, Hans Kandler hat dazu den Beitrag Kuba ist eine Reise Wert verfasst, worüber wir letzten Freitag intensiv diskutiert haben! Der folgende Artikel wurde aus dem französischen von Heike Schiebeck übersetzt und zeigt, dass die vielen Landreformen in Lateinamerika während des 20. Jahrhunderts meist nicht die in sie gesteckten Erwartungen erfüllt haben. Warum das so ist, dazu mehr weiter unten, hier nur so viel: Kuba ist etwas anders! Die Analyse bezieht sich jedoch nur auf die Agrarreformen des 20sten Jahrhunderts: D.h. jene Politiken, die das Land verteilen wollten, welches extrem in den Händen von einigen wenigen Großgrundbesitzern konzentriert ist. Außer diesen staatlichen Eingriffen der Landverteilung gab es in Lateinamerika noch zwei Agrarrevolutionen: Die Revolutionen in Mexiko 1910 und in Bolivien 1952 bildeten die Grundlage für die Agrarreformen dieser Länder.1) So können wir die Agrarreformen des letzten Jahrhunderts sehr schematisch in drei Kategorien einteilen:
Sowohl die Revolutionen in Mexiko und Bolivien, als auch die Agrarreformen in Guatemala, Chile, Peru, Nicaragua und El Salvador haben den Index der Landbesitzkonzentration stark verändert. Ein wesentlicher Teil des Großgrundbesitzes wurde an Bauernfamilien verteilt. In den letztgenannten Fällen ist eine reformierte Landwirtschaft entstanden, die heute ihren Platz einnimmt zwischen dem modernen, kommerziellen Agrobusiness und der traditionellen Subsistenz-Landwirtschaft, die für den Eigenbedarf produziert und Überschüsse auf lokalen Märkten vertreibt. Einen weiteren Block bilden jene Länder, in denen eine oberflächliche Agrarreform durchgeführt wurde. Dazu zählen Brasilien, Venezuela, Ecuador, Kolumbien, Honduras, die Dominikanische Republik und Paraguay. Hier haben die staatlichen Eingriffe den Index der Landbesitzkonzentration kaum verändert. Die meisten Programme standen unter der Schirmherrschaft der USA in der sogenannten "Allianz für den Fortschritt ", mit dem Ziel, eine soziale Schicht mittlerer Bauern zwischen der Masse der traditionellen Bauern und den modernen, kommerziellen Großgrundbesitzern zu schaffen. Die USA und die lateinamerikanischen Regierungen waren offensichtlich besorgt, die Ausbreitung des Virus der kubanischen Revolution auf dem Kontinent zu verhindern. Die Ergebnisse dieser Pseudo-Reformen sind sehr schwach, was sie nicht davon abgehalten hat, aufgeblähte und ineffiziente Bürokratien aufzubauen. Sie gewähren den aus Agrarreformen hervorgegangenen Einrichtungen weder die notwendige technische noch finanzielle Unterstützung, damit sie sich in adäquater Form entwickeln können. Armut und GewaltTrotz der offensichtlichen Unterschiede zwischen den Agrarreformen, die in der Vergangenheit in den lateinamerikanischen Ländern durchgeführt wurden, ähnelt sich die derzeitige Lage der Bauern in wirtschaftlicher, sozialer und politischer Hinsicht. Ähnlichkeiten, die eigentlichen aufgrund der großen Unterschiede bei der Restrukturierung des Landbesitzes nicht existieren dürften. Diese Tatsache macht stutzig und bedarf einer Erklärung. Was auch immer der Entwicklungsgrad und das Pro-Kopf-Einkommen seien, in allen untersuchten Ländern bilden die Bauern den ärmsten Teil der Bevölkerung mit den niedrigsten Indikatoren was Gesundheit und Lebenserwartung betrifft. Sie sind am häufigsten vom Bildungssystem und von der Teilnahme an der nationalen Politik ausgeschlossen. Genauso verhält es sich mit dem Anteil der Familien, die unter dem absoluten Existenzminimum leben. Dieser Anteil ist am Land höher als in den Städten. Ein weiteres gemeinsames Kennzeichen der Länder des Kontinents ist die Häufigkeit der gewalttätigen Landkonflikte. In Kolumbien geht der Konflikt über die Landfrage hinaus und hat eine Guerilla hervorgebracht, die sich zum Ziel setzt, das politische und soziale Regime zu stürzen. In Mexiko leisten die Ureinwohner des Chiapas bewaffneten Widerstand gegen die Regierung. In Brasilien hat es in den vergangenen 10 Jahren 8.082 gewalttätige Landkonflikte mit 379 Ermordeten (Bauernführer, Priester, Nonnen und Rechtsanwälte) gegeben, wie die Pastorale Land-Kommission der katholischen Kirche berichtet. Großgrundbesitzer bezahlen Killer, die diese Verbrechen begehen, wie vor kurzem die Ermordung der nordamerikanischen Nonne Dorothy Stang im Amazonasgebiet. In Peru rühmt sich die Regierung zwar, sie habe Schluss gemacht mit der Guerilla, in den Zeitungen findet man aber immer wieder Meldungen über die Aktionen des "Leuchtenden Pfades" in manchen Gebieten des Landes. In geringerem Ausmaß gibt es diese Gewalt am Land auch in Guatemala, Ecuador, Bolivien und Paraguay. Auch wenn hier die Konflikte nicht so schwerwiegend sind, bleiben diese Länder von solchen Konfrontationen nicht verschont. Diese gemeinsamen Merkmale beobachten wir in Mexiko, wo eine Agrarrevolution das Machtgefüge grundlegend transformiert hat, sowie in Peru, wo von 1969 bis 1973 eine ziemlich radikale Landreform umgesetzt wurde, als auch in Ländern, in denen die Agrarreformen die Agrarstruktur nicht maßgeblich verändert haben. Eine zweigeteilte LandwirtschaftDes Weiteren ist die lateinamerikanische Landwirtschaft, unabhängig vom Typ der realisierten Agrarreform, durch eine Zweiteilung gekennzeichnet: Auf der einen Seite die moderne, kommerzielle Landwirtschaft, auf der anderen Seite die bäuerliche Landwirtschaft. Der erstgenannte Typ beruht auf Besitzkonzentration, Monokultur, kapitalintensive Produktionseinheiten, intensive Nutzung von Chemikalien und Mechanisierung. Diese Form der Landwirtschaft, die täglich von der konservativen Presse gelobt wird, beschäftigt nur wenige Leute, weil sie sich auf kapitalintensive Technologie stützt und Arbeitskräfte einspart. Wegen des Überangebots an Arbeitskräften zahlt sie ihre Angestellten außerdem schlecht: Die verarmte Landbevölkerung hat keine Mittel, um ein Landstück zu erwerben und darauf zu arbeiten, weil das Land den Großgrundbesitzern gehört. Auf der anderen Seite die traditionelle bäuerliche Landwirtschaft, bestehend aus kleinen Familienbetrieben, die einen Teil ihrer Erzeugnisse auf lokalen Märkten verkaufen. Oft haben sie von einer Agrarreform profitiert und Land von geringer Qualität erhalten. In einem äußerst feindlichen Kontext kämpfen diese Kleinbauern ums Überleben. Sie können von ihrem eigenen Land meist nicht leben und müssen sich zeitweise als Saisonarbeiter verdingen. Die Regierungen gehen davon aus, dass die Kleinbauern in einigen Jahren im Zuge der Landflucht verschwinden werden. Sie werden als Überbleibsel eines anachronistischen Agrarsystems gesehen, das schwere Erbe einer vergangenen Epoche, Ballast, der als soziales Problem auf die Wirtschaft drückt. Für die Regierenden und die Intellektuellen liegt die Zukunft des lateinamerikanischen ländlichen Raumes in der großen Exportlandwirtschaft, die heute vollständig von transnationalen Konzernen des Agrobusiness beherrscht wird. Das vierte gemeinsame Merkmal der Bauernschaft auf unserem Kontinent ist das Erwachen eines politischen Bewusstseins. Die Bauern, insbesondere die Nachkommen jener Völker, die vom spanischen Amerika unterworfen wurden, sind sich bewusst geworden, dass sie Opfer brutaler Ausbeutung waren und heute noch sind. Anscheinend haben sie beschlossen mit dieser Situation Schluss zu machen. Die Zapatistische Bewegung in Mexiko, die CONAIE (Konfederation der indigenen Völker Ecuadors) und die Cocaleros, die Kokabauern in Bolivien, sind sehr gut organisierte Bewegungen, deren Forderungen über die typischen Bauernanliegen hinausgehen. Sie verlangen nicht nur Kredite, technischer Unterstützung, Hilfe bei der Vermarktung und der Verbesserung der Infrastruktur, sondern fordern auch Demokratie und gleiche Rechte für alle Staatsbürger. Das Erwachen des indigenen Bewusstseins in den Anden zeigt seine Stärke darin, dass in den vergangenen fünf Jahren in Bolivien und Ecuador nicht weniger als fünf Präsidenten vertrieben wurden; in Kolumbien hält die Guerilla die verschiedenen Regierungen unter permanentem Druck; in Mexiko kann niemand den gewichtigen Beitrag der Zapatisten für das Scheitern der PRI (Partei der institutionellen Revolution) nach 70 Jahren Vorherrschaft leugnen. Land, um davon zu lebenSchlussendlich ist ein weiterer gemeinsamer Zug Lateinamerikas das in mehreren Ländern sich gleichzeitige bildende Bewusstsein: der Kampf um Land muss auf andere Bereiche ausgedehnt werden, nicht nur die Transformation des vorherrschenden Agrarmodells, sondern auch des eigentlichen Wirtschaftssystems auf dem Kontinents ist notwendig. Die Landlosenbewegung MST in Brasilien schreibt die bäuerliche Landwirtschaft auf ihre Fahnen und will damit das Modell des Agrobusiness ablösen. In den Asentamientos, (Land, das dem MST nach Besetzungen im Zuge der Agrarreform zugesprochen wurde, um darauf Siedlungen zu gründen,) experimentiert die Bewegung wirtschaftliche und agronomische Strategien, um dieses alternative Modell umzusetzen. Dasselbe gilt für die Bewegung der Kleinlandwirte (MPA) und die Bewegung der Kleinbauern, die wegen des Baus von Wasserkraftwerken von ihrem Land vertrieben wurden (MAB, Movimento dos Atingidos por Barragem, Bewegung der von Staudämmen Betroffenen). Beide stehen dem MST nahe. Das Modell der bäuerlichen Landwirtschaft will die landwirtschaftliche Produktion nach anderen Zielen organisieren als das Agrobusiness. Es will nicht Kapital akkumulieren, sondern in erster Linie die Bauernfamilie ausreichend mit Lebensmitteln versorgen und die Qualität ihrer Landparzelle schützen. Deshalb wird auf Landtechniken, die die Umwelt, den Boden und das Wasser schonen, besonderer Wert gelegt. Unter dem Motto "Land, um davon zu Leben" möchte dieses Modell zwei Zielen gerecht werden: Erstens die Bedürfnisse an Lebensmitteln für die Bauernfamilie decken und ihr ein ausreichendes Geldeinkommen sichern, um in Würde zu leben; zweitens preisgünstige und qualitativ hochwertige Lebensmittel für den brasilianischen Binnenmarkt produzieren. So gesehen leisten die Exporte landwirtschaftlicher Güter, auch wenn sie wichtig sind, keinen Beitrag in der Entwicklung des Agrarsektors. Das bäuerliche Modell setzt eine nicht-kapitalistische Integration der Wirtschaft voraus, strebt ein würdiges Konsumniveau für die gesamte Bevölkerung an, will die Armut besiegen und die drückenden sozialen Disparitäten, ein Charakteristikum des Kontinents, beseitigen. Die Lage der Bauern in KubaEins wird in dieser zusammenfassenden Beschreibung der Landreformen in Lateinamerika offensichtlich: So unterschiedliche Prozesse wie Agrarrevolutionen, Programme wirklicher Agrarreformen und solche, die unter dem Motto "Allianz für den Fortschritt" nur an der Oberfläche kratzten und die Agrarstruktur nicht verändern, haben dazu geführt, dass nach fast einem Jahrhundert Landkampf und Aktionen der Regierungen die Lage der Bauern in den einzelnen Nationen sehr ähnlich ist. Es muss also einen gemeinsamen Faktor in all diesen nationalen Geschehnissen geben, der diese Widersprüche erklären kann. Wir können von der Hypothese ausgehen, dass dieser gemeinsame Faktor die kapitalistische Wirtschaftsform der betrachteten Länder ist. Auch revolutionäre Prozesse haben es nicht geschafft, mit der kapitalistischen Ordnung zu brechen. Diese Bemerkung führt uns zu einer anderen Überlegung: Der Unterschied zwischen der Homogenität in der lateinamerikanischen Bauernschaft und der Lage der Bauern in Kuba, einem sozialistischen Land, dessen revolutionäre Regierung gleich zu Beginn eine radikale Landreform umgesetzt hat. Daraus ist eine Agrarstruktur hervorgegangen, eine Kombination von staatlichen Produktionseinheiten und einem soliden Sektor kleiner, privater Familienbetriebe. Sie werden durch öffentliche Planungsdienste, technische Hilfe, Finanzierung und Vermarktung unterstützt. Das CEPAL (Wirtschaftliche Kommission für Lateinamerika und die Karibik) gibt mit seinen Studien eine Antwort auf die gestellte Frage. Die UNO-Organisation erstellt punktuelle Studien zur sozialen Lage der Bevölkerung in den verschiedenen Ländern des Kontinents. Alle haben ergeben, dass die Lebensbedingungen der kubanischen Bauern die besten in ganz Lateinamerika sind. Diese Feststellung ist umso bezeichnender, wenn man die extremen Schwierigkeiten der kubanischen Wirtschaft in Betracht zieht, die seit 46 Jahren einem Handelsembargo ausgesetzt ist. Nach diesen kurzen Überlegungen können wir also die Hypothese wagen, dass auch bei radikalen Agrarreformen die Mechanismen des Kapitalismus die Verbesserungen im Lebensstandard der Bauern immer wieder zunichte machen. Wäre das ein Zeichen für das Totengeläut reformistischer Politik? Quelle: Revue de l'Observatoire Social de Ameria Latina , Nr. 16, Januar – April 2005. Anmerkungen Anmerkung 1: Die Analyse möchte den Zusammenhang zwischen den Agrarpolitiken und dem in lateinamerika dominierenden Kapitalismus herstellen. Deshalb kommt Kuba in der Analyse zunächst NICHT vor. Kuba hat mit seiner sozialistischen Revolution eine völlig andere soziale und politische Dynamik und Logik in der Beziehung zwischen den Bauern und den anderen Sektoren der Gesellschaft hergestellt. Nur in den Schlussfolgerungen wird ein Vergleich zwischen den Ergebnissen der kubanischen Agrarreform und den kapitalisitschen Agrarreformen hergestellt. Zurück Anmerkung 2: Unter dem Einfluss der Administration des Präsidenten John F. Kennedy (1961 - 1963) und um die Ausbreitung der revolutionären Bewegungen, die durch das kubanische Beispiel angeregt wurden, zu kontern, wurde eine Politik sozialer Reformen und wirtschaftlicher Entwicklung eingeleitet, die in der Geschichte unter dem Namen "Allianz für den Fortschritt" eingegangen ist. Faire Entwicklung und soziale Gerechtigkeit blieben jedoch hinter der Rhetorik zurück. Zurück
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