2006-03-11
Am Abstellgleis
PRÄDIKAT: ÄUSSERST SEHENSWERT!!!
Die aktuelle Theaterproduktion von Andrea Latritsch-Karlbauer mit KlientInnen der Villacher ARGE SOZIAL ist ein Highlight im emanzipatorischen, soziokulturellen Raum. Die Performance am Villacher Hauptbahnhof gerät für Zuseher und Akteure zu einem beeindruckenden Dialog fernab der Hauptverkehrslinien.
Für 80 Minuten wird der sogenannte "Rand der Gesellschaft" zu ihrem Mittelpunkt. Und das verändert alles. Hier zeigt das warenproduzierende System, in dem wir leben, seine molochartige Fratze. Einen Theaterabend lang wird die kapitale Wertapotheose beschämt von Menschen, die sich ihr nicht unterworfen haben. Von Menschen, die sich nicht haben zurichten lassen, die die Anmaßungen und Zumutungen unseres Systems zurückgewiesen haben und die für diese Häresie bezahlt haben, mit allem, was der Kapitalismus zu nehmen imstande ist.
Am Beginn rückt ein souverän gestalteter Filmbeitrag von Reinhard Latritsch die Lebensgeschichten und die Gedankenwelt der Akteure und Akteurinnen ins Blickfeld der Zuseher. In scheinbar kaltem Schwarz-Weiß gehaltene Interviews geben tiefe Einblicke in Erfahrungen und Biografien von Menschen, deren Weg ein anderer war als jener, den die meisten gehen. Eine filmische Ouvertüre gewissermaßen für eine Villacher Dreigroschenoper. Und der Haifisch, der hat Zähne.
Szenenwechsel in die Küche des Weichenstellers, der aktuellen Gastronomie-Ruine des Villacher Hauptbahnhofes. Das Publikum geht mit. Unter der Leitung vom Ewald, der die europäischen Bahnhöfe kennt wie seine Westentasche, der rostige Zäune gestrichen hat und Mesner war in einer römischen Kirche. Von Lissabon bis Helsinki, ein einziges Abstellgleis. Man fabuliert über Obst und Gemüse. Zieht Vergleiche bevor man es zerschneidet. "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!" Von Luther bis Lenin, von Maria Theresia bis zum Hitler. Essen gibt's nicht ohne Bedingung.
Weiter geht's in einen Frachtwaggon der ÖBB. Im eleganten Abendkleid mit roter Federboa singt die Waltraud ihr Lied. Melancholisch begleitet von einem Akkordeon. Und sie singt es so schön, wie man ein Lied nur singen kann. Sie singt vom Aufstehen und vom Weitergehen. Von Würde singt sie und von Mut. Dieser Auftritt ist atemberaubend und ein einziges Plädoyer dafür, dass alle Verhältnisse umzuwerfen sind, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, wie Karl Marx das formuliert hat. Und dann kommt Jacques Tati und spielt Golf. Das ist umwerfend komisch zwischen den eng aufgereihten Zusehern. Aber die Unschuld der Bürger, der Konsumentinnen und Konsumenten, der Autofahrer und der Golfspieler wird immer unerträglicher, wenn dieser sinngemäße Querverweis zum großen Heiner Müller gestattet ist. Und er ist gestattet. Weil dieses Theater sozial interveniert und sich damit in eine der vornehmsten deutschen Theatertraditionen stellt.
Im letzten Teil kann man der Irida in ihrem Zimmer zusehen, wie sie schreibt und wie sie malt. Dazu läuft ein Tonband, auf das sie ihre Sicht der Welt gesprochen hat, dem sie anvertraut hat, das sie gerne die Sonne betrachtet hat, immer wenn sie unterging zwischen dem Dobratsch und dem Erzberg. Und das Wasser der Drau hat ihre letzten Strahlen gespiegelt. Dann ist aus und alle versammeln sich ums kalte Buffet und reden und reden und reden miteinander.
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Am Abstellgleis
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