2006-05-16
zweimal täglich
plötzlich wird mir klar, daß ich schon einige zeit wach bin, wielange weiß ich nicht, der übergang vom schlafen zum wachen ist fließend, es gehört viel übung dazu, im zug überhaupt schlafen zu können und auch noch im richtigen bahnhof zu erwachen.
ich schneide meinem mantelfutter ein paar grimassen, reibe mir die augen, fahre durchs haar, jetzt erst blinzle ich in die helle leere, keine taschen, keine mäntel sind zu sehen, klopfen und knacken des alten waggons sind die einzigen geräusche, die stille noch unterstreichend, der zug steht, ich kann nicht erkennen, wo. mein handrücken wischt über die unangenehm kalte scheibe. mein gesicht spiegelt sich in nassen streifen, mit beiden händen decke ich es ab gegen das dürftige licht, im stehenden zug ist das licht immer ziemlich schwach, mein gesicht berührt nicht das kaltfeuchte glas, unter dem fensterrahmen bläst der winterwind herein, der matte lichtschein zeichnet die fenster der waggons auf den bahndamm. nur meinen schatten sehe ich. die anderen lichtflecken sind viereckig, meine verschlafenen äugen brennen vor anstrengung. doch weit können sie nicht schauen, nur bis zu den steinen und den winterlich dürren pflanzen des bahndammes. und der sieht außerhalb der bahnhöfe überall gleich aus.
wo steht der zug? wielange schon? was ist passiert? wohin fahre ich überhaupt? die letzte frage ist die wichtigste, erschreckt mich, ich weiß nicht, wohin ich fahre, weiß nicht, ob der tag erst beginnt oder schon endet, der verflucht lange arbeitstag. ich weiß nur, daß ich müde bin, todmüde, hundemüde, zum sterben müde, müdemüdemüde. fast betend wünsche ich, es möge abend sein, wenn ich nur eine uhr hätte ... täglich zweimal muß ich mich nach fahrplänen richten, mich unterordnen, ihnen mein leben opfern, und habe doch keine uhr, brauche sie nicht, will sie nicht, noch zehn minuten, noch neun, die ampel ist immer noch rot, ich will, ich muß zum zug, will nicht eineinhalb stunden auf den nächsten warten, endlich grün, so fahr' doch schon, schnell, schneller, mein fensterplatz ... ohne uhr halte ich das besser aus. viele alte pendler kennen die stationen, ohne aus dem fenster zu schauen, um die und die zeit sind wir da und da. gern wüßte ich jetzt, wohin wir fahren, mir graut vor dem gedanken, in einer oder eineinhalb stunden mit der arbeit beginnen zu müssen, rechnen, tippen, einkaufen gehen, bier und wurstsemmeln schleppen, zwischendurch zum rauchen aufs klo verschwinden, den lehrlingen wurde das rauchen vom personalchef verboten.
blaumachen? doch das ersetzt den schlaf nicht, den wichtigen, immer zu knappen guten schlaf im bett, nur notdürftig ergänzt durch den schlummer im rumpelnden zug. wenn nur jemand da wäre ... ich bin allein im waggon, wie schon so oft. manchmal, spät abends, bin ich der einzige fahrgast im ganzen zug, eine unheimliche viertelstunde lang, fahrgast, ein komisches wort, reisender paßt auch nicht, berufsfahrer, hinundherfahrer, nomade, industrienomade. ja, industrienomade, dieses wort ist schrecklich genug, wäre jemand da, könnte ich doch nicht nach der fahrtrichtung fragen, weder fahrgast noch schaffner, verrückt oder besoffen, vielleicht beides, zu diesem urteil käme der befragte, davon bin ich überzeugt, jeder kennt hier jeden, wenigstens jedes pendlergesicht.
gern sitze ich nicht allein im waggon. vor kurzem erst wurde regina von einem exhibitionisten belästigt, das sei nicht gefährlich, so sagen die, die solches nicht erlebt haben, vielleicht stimmt es auch, regina hat seither angst im dunklen, auf dem langen weg zum bahnhof, auf dem heimweg. im zug sucht sie die nähe anderer frauen, ängstigt sich trotzdem, frauen fahren wenige auf dieser strecke.
abends, im letzten zug, fährt oft ein älterer, ziemlich fetter schaffner, nervös kramen meine finger nach zigaretten hand in der manteltasche, die andere in der abgeschabten unförmigen ledertasche, von mir liebevoll handtasche genannt, das dicke buch muß heraus.
darunter die zigaretten, zerdrückt, verbogen, zwischen kaugummipapier und gebrauchten taschentüchern. am samstag muß die tasche in ordnung gebracht werden, ich rauche mit zittrigen fingern, muß an den fetten denken, alles an ihm ist fett, seine stimme, sein grinsen, seine finger, die mir zigaretten in die bluse stecken wollen, immer mehr drücke ich mich in die ecke und kann mich nicht wehren.
der rauch kräuselt sich unter dem fenster. noch immer steht der verdammte zug. nichts ist zu hören oder zu sehen, künftiges rheuma lahmt meinen arm; noch ist es nur in meiner vorstellung angesiedelt, ist rheuma eine berufskrankheit der pendler? aber pendler ist ja kein beruf, ständig bin ich müde, nervös, gereizt, ich spüre, wie ich immer gleichgültiger werde, stumpf durch jahrzehntelanges hinundherfahren, abgestumpft durch eintönige arbeit, trinken viele, im sommer bier, im winter rumtee, schnapstee, glühwein. rumexpreß, rauschtransport heißt die strecke bei denen, die nur selten fahren, oft trinke ich um fünf uhr früh mein erstes bier, kaffee vertrage ich erst um acht, ich fahre erst ein paar jahre zweimal täglich siebzig kilometer. zweimal täglich bittere medizin, genau 28 monate und wieviele tage? brav geschluckt, wie oft noch? wie oft umrunde ich die erde bis zur pensionierung? diese gedanken verscheuche ich schnell, vieles flattert durch meinen köpf, ich kann nichts zu ende denken
aus dem dreck auf dem boden will ich die fahrtrichtung lesen, es gelingt mir nicht, die waggons werden nur am südbahnhof geputzt, morgens fährt der abendliche dreck wieder mit. ich finde eine zeitung. ist sie von gestern, heute, morgen, ich weiß es nicht, weiß nicht das darum, weiß nicht, ob dienstag, mittwoch oder donnerstag ist. nur montag und freitag zählen, sind die einzigen tage mit eigenem gesicht. noch zehre ich vom vergangenen wochenende, schon freue ich mich auf ein neues ausschlafen, nicht vor dem mittagessen will ich geweckt werden, dienstagvormittag und mittwochnachmittag kämpfe ich in der berufsschule mit dem schlaf, von vielen beneidet wegen meiner sondererlaubnis, zu spät kommen zu dürfen; nach einblick in den fahrplan von der direktion großzügig gestattet.
ich könnte jetzt unmöglich arbeiten, kann nichteinmal denken, die uralte rechenmaschine rattert wie der zug auf der brücke, um halb acht gähnt mein chef mir seinen zahnpastamundgeruch entgegen, wenn er so unfreundlich, mein „gudn-moagn" überhörend, durch die tür schlurft, bin ich schon dreieinhalb stunden auf den beinen, bin schon drei kilometer zum bahnhof gelaufen, siebzig kilometer, für die der zug eineinhalb stunden braucht, weit gefahren, einige minuten lang im autobus durchgeschüttelt worden, die halbe stunde, die ich mit cola und einigen zigaretten in der kantine, wartend auf den arbeitsbeginn, zubringe, zähle ich fast schon zur freizeit. gähne ich einmal, höre ich sofort seine blöden eindeutig-zweideutigen redensarten über die heutige jugend, weiß nicht, wie sie es treiben soll, diese jugend, zu seiner zeit, das waren noch zeiten damals, und eine jugend war das damals, aber heute, heute hat die jugend keinen anstand mehr, und überhaupt, zu seiner art von anstand gehört es, den lehrmädchen aufs klo nachzuschleichen.
ich schaue in meine tasche, nehme das buch heraus, schiebe es wieder zurück, weiß nichteinmal den titel. jetzt kann ich nicht lesen, unmöglich, anfangs konnte ich jede woche ein buch lesen, nur noch selten kann ich mich konzentrieren, buchstabenreihen ohne sinn zerfließen zwischen seiten, verschwimmen vor meinen augen, immer öfter schlafe ich ein, bei agatha christie genauso wie bei marx. fast niemand liest auf diesen fahrten, sport und fernsehprogramm sind die einzige lektüre, das einzige gesprächsthema. manche männer spielen karten, ganz selten wird sogar schach gespielt, frauen stricken oft. die meisten leute rauchen mit leerem blick, ellbogen auf die knie gestützt, viele, besonders die, die wie ich sehr lange fahren, schlafen, ihre gesichter unter mänteln und jacken versteckt.
ich sehne mich nach abendessen und fernsehen, essen und fernsehprogramm stellen für mich eine fast untrennbare einheit dar, einen brei, den ich dösend löffle, ich muß mir eine wohnung suchen, nur mehr am montag und am freitag fahren, wie papa. aber in so einem kleinen, traurigen firmenquartier möchte ich nicht wohnen müssen, nichteinmal das radio darf aufgedreht werden, die gnädige am anderen ende des hauses fühlt sich gestört. wohnungen kosten geld, ablöse, ich habe kein geld. maria wohnt bei ihrer tante, herta in untermiete, die tante spart den babysitter, die zimmerfrau spart ström und gas. wir träumen von einer gemeinsamen wohnung und leben bis dahin nur fürs wochen-ende. ihre berichte von kino, chinesischem essen, theater und schon wieder kino, lassen mich vor neid zittern, erzählt mir nichts mehr, ich kann es nicht hören! verschweigt mir nichts mehr, ich muß alles wissen!
am dienstag beginnt unser planen für freitagabend, samstag-abend, sonntagnachmittag, fünf tage arbeiten, zwei tage leben, an jedem der fünf tage fünf stunden unterwegs sein, um acht stunden arbeiten zu können, vielleicht fände ich sogar gefallen an meiner arbeit, wäre nicht das anstrengende drumherum, wieviele stunden muß ich absitzen, um die tägliche fahrt zu bezahlen? einige pendler sind den firmen die fahrkarte wert; meine lehrlingskarte bezahle ich selber, ich bin ja auch selber schuld, so weit zu fahren, hätte woanders arbeiten können, als hilfsarbeiterin, heutzutage „angelernte kraft" genannt, lehrlinge sind genug zu finden, dankbare, die nicht wegen jeder kleinigkeit aufmucken.
ich spüre meine fauste gegeneinanderklopfen. die zahne habe ich zusammengebissen wie die bösewichte im fernsehen, langsam öffne ich eine faust, strecke meine finger, schließe die fauste wieder, ich bin stark, ich drohe dem erfinder des pendelns, wenn ich den einmal erwisch', den werd' ich ... das ist eine beliebte redensart, ein fluch meiner gefährten. doch der erfinder fährt nie mit uns, ist keine person. die wirtschaft braucht uns, uns, die wir aus unzureichend erschlossenen gebieten kommen, schlechte infrastruktur, diesen begriff kennt jeder, immer wieder hören wir solches und ähnliches, argument heißt das.
wenn immer mehr leute nach wien pendeln müssen, immer mehr dort seßhaft werden, wird die läge immer schlimmer, ich möchte nicht in wien leben, wo ich die depperte burgen-länderin mit dem lächerlichen dialekt bin, den ich kaum mehr richtig beherrsche, nicht in wien leben wollen, nicht ständig fahren wollen, dazwischen hinundhergerissen, ringe ich um einen entschluß, der nur ein kompromiß sein kann.
am sonntagabend fällt das dorf in seinen dornröschenschlaf. noch kommt pünktlich jeden freitag der prinz, um es zu wecken. vielleicht bleibt er eines tages aus, wenn ihn die wirtschaft mit ihrem fetten hintern erdrückt hat. ist die wirtschaft für die menschen da oder umgekehrt? herta stellt diese frage oft. maria meint, viele leute müßten für die wirtschaft da sein, diese sei aber nur für wenige da. sie wird wohl recht haben, ich weiß es nicht besser.
schon wieder rauche ich, gehe hinundher. das fenster klemmt, das nächste läßt sich öffnen, licht kommt von fern, verschwin¬det, kommt näher, die drei scheinwerfer einer lokomotive rasen auf mich zu. das fenster läßt sich nicht schließen, ich reiße und rüttle an den rostigen schnappverschlüssen, der verspätete schnellzug drückt kalte luft herein, das geräusch seiner räder ist noch lange nach seinem verschwinden in meinen ohren. keinen der reisenden beneide ich. irgendwo knackt und tickt es, vorzeichen der fahrt, ein leiser ruck, ein zittern, der zug rollt langsam, wird schneller, gleichzeitig wird das licht besser, die fahrt läßt alle flattergedanken verblassen neben der frage: wohin?
der kalte fahrtwind kühlt mein heißes gesicht schnell, zerstört den letzten rest meiner frisur. endlich sehe ich licht, straßenbeleuchtung, gebäude. die fahrtrichtung stimmt, glücklich lehne ich mich zurück, in einer stunde werde ich daheim sein.
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Aus El Awadalla: „Der Riesenbovist“ und andere Geschichten
Sisyphus , 2003
ISBN: 3-901960-21-x