2005-12-16
MUTTERSPRACHE LESBISCH
Liebe Freundinnen und Freunde von kärnöl!
Herzlich Willkommen zu der zweisprachigen Lesung von Helga Pankratz und Suzanna Tratnik aus deren Buchneuerscheinungen aus dem jeweils anderen Land.
Die beiden international bekannten AutorInnen haben sich für den heutigen Abend einen "scheinbar" provokanten Titel einfallen lassen. Zu provokant für ein "kleines Format", sodass dieses in der Vorankündigung der heutigen Veranstaltung auf den Titel der Lesung, der auch sehr eindeutig auf die zu erwartenden Inhalte hinweist, bewusst oder unbewusst verzichtete. Ich als Psychologe und Kunsttherapeut neige natürlich zur letzteren Annahme.
"Muttersprache lesbisch" provoziert und animiert geradezu weiteren Assoziationen.
"Muttersprache lesbisch" - "Vatersprache schwul", und das im identitätslabilen Kärnten, das schürt verdrängte Ängste, rüttelt an der mittels Benthamscher Manipulationpädagogik eingebläuten sprachlich neoliberalistisch Definition der Geschlechterrollen. Die meistens pejorativ (abwertend) verwendeten Adjektive "lesbisch" und "schwul" mit dem "heiligen" Wort "Muttersprache" zu verbinden verunsichert. Die damit implizierte Assoziation - Maria, Urmutter der katholischen Kapitalgesellschaft, eine "Lesbe", Josef, der Nährvater, gar ein "Schwuler", das grenzt an Blasphemie. Wie soll, das der Leser, der kleinen Formate verstehen?
Die heute vorherrschende Definition der Geschlechterrollen und der damit verbundenen geschlechtlichen und sexuellen Identität sind in erster Linie eine Erscheinung und Produkt des kapitalistischen Konstruktionsprozesses. Wer sonst noch hätte Interesse an der heterosexuellen bedingten Erhaltung und Reproduktion der menschlichen Arbeitskraft?
In ihren literarischen Werken beleuchten die Autorinnen diesen Konstruktionsprozess, lenken unsere Wahrnehmung von der Ausbeutung der menschlichen Beziehungsfähigkeit, hin zum verdrängten, wenn nicht verbotenen Effekt des "Genusses" von Beziehung.
Unsere "Muttersprache" als kulturhistorischer und gesellschaftspolitischer Prozess beeinflusst im großen Maße die Wahrnehmung und damit die Interpretation der Realität. Wechseln wir die Sprache, so wechseln wir auch die Perspektive der Wahrnehmung unserer Realität. Vieles, das uns in unserer Muttersprache, in unserer Geschlechterrolle vertraut erscheint, klingt in der Fremdsprache, in der Rolle des anderen Geschlechtes "fremd", verunsichert und irritiert. Letztlich erweitert aber der Perspektivenwechsel unseren Wahrnehmungshorizont und fördert somit unsere sozialemanzipatorische Kompetenz.
Bevor ich mich noch weiter in meiner Assoziationskette verstricke, darf ich Helga Pankratz und Suzanna Tratink nochmals im Namen von kärnöl recht herzlich im Cafe Platzl willkommen heißen und sie bitten, uns mit ihrer jeweiligen Muttersprache in eine andere Wahrnehmungsperspektive zu entführen.