2005-12-04
Zweiter Advent
Eine Woche Selbsterfahrung und seit nunmehr sieben Wo¬chen Abstinenz. Meine Selbsterfahrung besteht darin, dass ich zu knabenhafter Autoerotik zurückgefunden habe, in Leonhards winddurchheultem Badezimmer, das mit einem großen Bottich und dem Plumpsklo ausgestattet, aber immerhin verriegelbar ist. Unkeuschheit über der Senkgrube. So weit bin ich gesunken, beziehungsweise gesenkt worden. Sabaoth zerschnarcht Nacht für Nacht die ärgerliche Stille, in die ich mich hülle, wenn ich nicht gerade Wutentbranntes in Miriams Ohr zische, worauf sie mir lebenslängliche Verweigerung androht. Ich solle mir an Sabaoth ein Beispiel nehmen, der ganz einsam auf dem Drittbett vor sich hin¬schnauft. Ob er in der paradoxen Phase seiner Eso-Träume an Erektionen laboriert?
»Wann hast du mit ihm geschlafen? « zische ich, von Hitzeblitzen durchzuckt. »Noch nie«, zischt Miriam zurück, »aber das kannst du nicht begreifen. Er steht über solchen Dingen « Angeblich hat Sabaoth längerfristige Enthaltsamkeit gelobt, weil seine Sexualität in ihm Besitzertriebe weckte, die er bekämpfen will. Erst, wenn er alle Besitzertriebe überwunden habe, werde er den kleinen Teilaspekt der Penetration wieder ins Kalkül ziehen. Vielleicht ist er impotent oder geistesumnachtet, hoffe ich, und bezähme die eigene Geisteshelle und Potenz, im Dunkel leise mit den Zähnen knirschend. Ich habe einen kurzen Moment der Intimität - als gerade einmal keiner der Gruppensitzer im Wege stand - zu einem Wutanfall im Badezimmer genützt, dabei Leonhards Keramiknachttopf zertrümmert und Miriams Handgelenke grün- und blaugequetscht. Dann kam ein alternativer Kinderkrippler angestoppelt und fragte unschuldig, ob wir irgendwelche Positionskämpfe auszutragen im Begriffe wären.
Eine Dreiecksbeziehung sei nun einmal eine schwierige Sache, nicht wahr, er bewundere uns aufrichtig. Ich habe auch noch mein Zahnputzglas auf dem Bretterboden zerschlagen und bin in den verschneiten Wald hinaufgestoben, dort wie ein Verrückter umhergerannt, bis mir erstens zu kalt wurde und ich mir zweitens lächerlich vorkam. Nach dem Vorfall auf Leonhards Plumpsklo ist unsere Dreiecksbeziehung über Vermittlung des Kinderkripplers zum Gruppenproblem geadelt worden. Ich habe mir anhören müssen, wie ich erlebt werde: daß ich zuviel verdränge, ein Gruppenfremdkörper sei, mich den anderen verschlösse und Miriam durch meine Besitzeransprüche in die Enge triebe. Ich solle sie ein wenig gehen lassen, damit sie zu mir zurückkehren könne. Eine beziehungsgeschädigte Nicaraguabrigadistin hat mir ein Bett in ihrem Zimmer angeboten, aber Miriam hat sich - »wir müssen dieses Problem durchstehen und ausdiskutieren« - gegen eine Dislokation meiner Person ausgesprochen, wofür ich ihr auf eine kinderweihnachtliche Weise dankbar war. Sabaoth hat die Arme über seiner Vollkornwampe verschränkt und sich alles in abgeklärter Ruhe angehört.
»Jeder von uns muß sich seinen spezifischen Platz an Miriams Seite erkämpfen«, sagte er schließlich. Auch er halte eine Übersiedlung meinerseits für unklug, da sie der Konfliktbewältigung nicht dienlich sei. Außerdem schließe er den kleinen Teilaspekt der Penetration für sich derzeit aus, sodaß ein Konkurrenzverhältnis im klassischen Sinn nicht gegeben sei. Ich bin auch Sabaoth dankbar gewesen und habe in der Nacht friedlich und körperlos wie ein Schutzengelchen an Miriams Seite geruht. Sabaoth hatte noch etwas von der Metaphysik im Hinduismus und dem Hare Krishna-Kult erzählt, wozu ich eingeschlafen war. Wir betreiben Sensibilitätstraining im Schnee und diskutieren darüber, mit welchem Gruppengeschwister wir uns vorstellen könnten, eine Mondexpedition anzutreten. Ich nenne die Nicaraguabrigadistin, was mir einen giftigen Blick Miriams einträgt.
Beim katathymen Bilderleben saßen wir aneinandergepreßt auf dem Stubenboden, in Sechsergruppen, und sollten uns eine blühende Frühlingswiese vorstellen. Sabaoth saß mir im Nacken, seine fülligen Beine gegen Leonhards Küchenkommode gestemmt, und drängte mich immer weiter aus dem katathymen Bilderzirkel hinaus. Ich habe mir auf dem Holzboden einen Span in den Hintern eingezogen und meine blühende Frühlingswiese ist zu einem flammenden Armageddon geworden, in dessen Zentrum Sabaoth laut schreiend verbrannte. Ich habe alle asthenische Kraft zusammengenommen und meinen adipösen Gegenspieler mit solcher Wucht gegen die Kommode gedrückt, daß er sich ein Knie verstauchte, was mir den Vorwurf der brutalen Eifersuchtsaggression eintrug, die katathymen Bilder verdarb und damit endete, daß Miriam an Sabaoths Lager kauerte und sein fettgepolstertes Knie mit Arnikaumschlägen pflegte, beäugt von sechs oder sieben Adventisten, die ihren 'einfühlsamen Senf dazugaben.
Miriam droht nun offen damit, mich zu verlassen. Sie erlebe mich als Eigenbrötler, sexbesessen und gewalttätig, und im Falle meiner fortgesetzten Eifersucht wolle sie mir einen Grund nachreichen, indem sie mit dem armen, ausgehungerten Leonhard schlafen werde. Viele unserer Schreiduelle werden im Plenum ausgetragen, und die übrigen Gruppengeschwister packen dazu ihre eigenen Beziehungskisten aus. Mit Nostalgie gedenke ich besserer Zeiten: vor drei Jahren schliefen Miriam und ich im unbeheizbaren Nordzimmer des Erbhofs, und sie konnte es gar nicht erwarten, daß wir nach dem Schilaufen aneinander, übereinander und ineinander gerieten. Wie wird sie es in drei Jahren halten? Muß ich dann als Kuschelgroupie in einem Zwanzig-Mann-Schlafsaal gute Miene zum blöden Spiel machen? Sexbesessen: »wir haben seit zwei Monaten nicht mehr miteinander geschlafen«, schreie ich. »Ich bin aus dem Alter heraußen, in dem ich täglich meinen Körper ausprobieren wollte«, kontert Miriam, und Sabaoth nickt weise, seinen Prophetenbart kraulend: »Eure Liebe manifestiert sich jetzt auf einer höheren Ebene.«
»Meine Liebe penifestiert sich aber auf niedrigerer Ebene«, brülle ich. Jetzt haben Miriam und Sabaoth endgültig alle Sympathien auf ihrer Seite. Nur die Nicaraguabrigadistin wirft mir einen verschwörerischen Blick zu und steckt einen Zeigefinger zwischen die Lippen. Am Abend durchblättere ich meinen Kalender: Miriam wollte ein Kind von mir. Zwei weitere Fruchtbarkeitsphasen beim Teufel. Gegen Mitternacht schließe ich mich in Leonhards Badekammer ein und schmeiße meinen Samen in die Senkgrube. Aus der Stube höre ich die Gruppe afghanische Sonnwendgesänge jammern, während mir Tränen auf die Zehen tropfen.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Ludwig Roman Fleischer, Herbergsuche.
Andere Weihnachtsgeschichten.
108 Seiten, 3. Auflage 2004 (Erstauflage 1995).
ISBN 3-9500149-3-4.
Preis: € 14.- SFr 21.-